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30.

»Wir müssen heute abend noch jemand vernehmen. Allmählich wird der Kreis enger«, wandte sich Crawford an Belling.

Er zog eine Schublade des Schreibtisches auf und steckte einige Gegenstände in die Tasche. Dann ging er zu dem Tisch, auf dem die einzelnen Fundstücke aus dem Laboratorium übersichtlich ausgelegt waren. Auch hier wählte er Verschiedenes aus und brachte es in mehreren kleinen Waschlederbeuteln unter.

»Sie begleiten mich natürlich. Wir werden heute abend wohl erst spät zum Essen kommen.«

Der Chauffeur wartete vor dem Portal.

»Nach Wembley! Fahren Sie die Straße nach Harrow entlang.«

»Wohin geht es denn?« fragte Belling neugierig, als der Wagen in schnellstem Tempo Richtung nach Westen nahm.

»Ich will Stetson noch einmal kurz sprechen. Er wohnt in einem Landhaus in Wembley an der Harrow Road. Hoffentlich treffen wir ihn zu Hause.«

In etwas über einer Viertelstunde hielt der Wagen vor einem schönen Gartentor. Der Inspektor und Belling gingen zu Fuß bis zur Haustür. Auf ihr Klingeln öffnete der Butler.

»Wen darf ich melden?« fragte er.

»Mr. Crawford und Mr. Belling.«

Sie folgten denn Mann durch die Halle, und als er die Tür zum Wohnzimmer öffnete, traten sie sofort ein, so daß er nicht dazu kam, ihre Namen zu nennen.

Stetson saß in einem bequemen Klubsessel vor dem hellbrennenden Kaminfeuer. Der Kronleuchter war ausgeschaltet, und nur eine große Stehlampe mit einem duftigen, altgoldenen Schirm verbreitete ein geheimnisvolles Licht im Raum. Die beiden konnten sein Gesicht nicht sehen, weil die Lampe hinter ihm stand.

Als er sie hörte, erhob er eich.

»Ah, guten Abend, Inspektor. Was führt Sie denn noch so spät zu mir?«

»Ich wollte gern noch einmal persönlich über den Fall Richmond sprechen.«

»Ich habe mir die Sache inzwischen auch überlegt, und ich glaube, ich habe eine Lösung gefunden«, sagte Stetson. »Bitte, nehmen Sie Platz. Bei dem kalten, nebligen Wetter trinken Sie sicher auch gern ein Glas Whisky-Soda?«

Er rief den Butler herein, der auf einem eleganten Servierwagen einige geschliffene Kristallflaschen mit Whisky, einen Siphon und Gläser hereinrollte und jedem ein Glas mischte.

»Wollen Sie nicht auch rauchen?«

Belling und Crawford steckten sich eine Zigarette an.

»Ja, der Fall lag sehr verwickelt«, sagte Crawford, »aber mit der Zeit scheint sich die Sache doch in gewisser Weise zu klären.«

Der Butler hatte inzwischen das Zimmer wieder verlassen.

»Haben Sie etwas Neues entdeckt?« fragte Stetson und sah den Inspektor aufmerksam an.

»Ja. Zunächst einmal hat die Bonati behauptet, daß der falsche Sir Richard auf eine Empfehlung von Ihnen hin sie in Paris aufgesucht hätte. Das kam mir sehr sonderbar vor. Wie steht es denn damit?«

»Das ist frei erfunden! Wie Sie ja wohl selbst schon gemerkt haben, ist die Bonati ganz unzuverlässig. Die lügt das Blaue vom Himmel herunter, wenn es ihr in den Kram paßt.«

»Ja, das mag wohl sein. Ich habe sie von jeher nicht ganz ernst genommen. Inzwischen habe ich auch noch einmal mit Professor Haviland gesprochen. Es erschien mir doch zu merkwürdig, daß er als Wissenschaftler und Arzt sich so in einer Person irren konnte. Er hat doch unter Eid ausgesagt, daß der Tote Sir Richard Richmond wäre.«

»Hat er irgendeine Erklärung geben können?« fragte Stetson und sah Crawford gespannt an.

»Er blieb bei seiner Aussage, daß der Tote dieselbe Person war, die er damals behandelte. Er sagte, er hätte den Mann an den Gesichtszügen wiedererkannt, auch die Narbe an der Stirn hätte er unter der Kopfhaut deutlich gefühlt. Er setzte mir eingehend auseinander, daß bei derartigen Verwundungen meistens die Knochenhaut verletzt wird und daß sich dann eine Erhöhung auf dem Knochen bildet.«

»Das scheinen mir aber doch unvereinbare Widersprüche zu sein – das verstehe ich nicht«, entgegnete Stetson.

»Es sieht so aus, aber vielleicht kann man mit der Zeit doch Ordnung hineinbringen. Ich hatte heute auch eine lange Unterredung mit Miß Ferguson. Bei der Durchsuchung des Hauses fanden wir verschiedene große, gute Photographien von Sir Richard Richmond. Maxwell, der in dessen Maske auftrat, hat sich auch in Paris photographieren lassen, und die Bilder zeigen eine verblüffende Ähnlichkeit. Aber wie ich Ihnen schon sagte, hat unser Erkennungsdienst festgestellt, daß der falsche Sir Richard in Wirklichkeit Alec Maxwell hieß. Das haben wir einmal durch die Fingerabdrücke beweisen können, und in seinen Akten haben wir auch die Photographien aus Dartmoor gefunden, wo er zum letztenmal eine längere Strafe absaß. Und durch Vergleich aller dieser Photos hat Miß Ferguson in dem Verbrecher den früheren Butler Albert Tembroke erkannt.«

»Das ist ja eine fabelhafte Lösung! Es ist fast unglaublich! Sollte denn Tembroke Sir Richard – beiseitegeschafft haben?«

»Das wäre möglich. Aber ich habe noch mehr herausgefunden. Daraufhin haben wir in dem Keller des Hauses Bruton Street 34 nachgegraben und einen Toten gefunden, der zweifellos am siebzehnten Juni unter dem Zementboden des Laboratoriums verscharrt wurde. Durch weitere Fundstücke steht einwandfrei fest, daß der Tote niemand anders sein kann als Sir Richard Richmond.«

Stetson richtete sich in seinem Sessel auf und starrte den Inspektor an, sagte aber nichts.

»Inzwischen habe ich auch die Frau des Butlers gesprochen, die in Broxbourne wohnt. Zu meinem Erstaunen habe ich gehört, daß Albert Tembroke, ihr Mann, Sir Richard auf einer Reise um die Welt begleitet haben soll. Ja, er verdient soviel Geld, daß er ihr monatlich zehn Pfund schicken kann. Noch mehr war ich verwundert, daß Sie, Rechtsanwalt Stetson, diese Vereinbarung zwischen ihr und ihrem Mann vermittelten.«

Stetson holte tief Atem.

»Aber das letzte Glied der Kette ist ein Manschettenknopf, der bei der Exhumierung gefunden wurde.« Crawford nahm ihn aus der Tasche und hielt den geschnittenen Wappenstein mit einer schnellen Bewegung neben den Siegelring des Anwalts. Es war dieselbe Arbeit, dasselbe Wappen.

Plötzlich erhob sich Crawford.

»Ich verhafte Sie, George Stetson – wegen Ermordung von Sir Richard Richmond und Alec Maxwell.«

Dabei legte er ihm die Hand auf den Arm. Dann sagte er die Worte, die das englische Gesetz vorschreibt:

»Ich warne Sie, daß alles, was Sie von jetzt ab sagen, vor Gericht gegen Sie gebraucht wird.«

Stetson sank gebrochen in sich zusammen.

»Ich hoffe, daß Sie, ohne Widerstand zu leisten, uns folgen werden.«

Auf einen Wink des Inspektors trat Belling an die andere Seite des Sessels.

Ein langes Schweigen folgte.

»Ja – ich komme. Ich möchte nur noch einmal zu meinem Schreibtisch gehen.«

»In unserer Begleitung«, erwiderte Crawford.

Stetson erhob sich schwer und drehte sich um, dann machte er eine blitzschnelle Bewegung. Aber Belling und Crawford, die auf alles vorbereitet waren, griffen zu und nahmen ihm die Waffe ab, mit der er sich erschießen wollte.

Im nächsten Augenblick schnappten die Handschellen über seinen Gelenken zusammen.

Stetson sank in den Ledersessel.

»Folgen Sie uns zum Auto«, sagte der Inspektor, nachdem er Stetson einige Zeit gelassen hatte, sich zu fassen.

»Bitte – lassen Sie mich noch hier in meiner Wohnung – und bleiben Sie bei mir – ich will Ihnen alles sagen. Hier fällt es mir leichter als im Gefängnis.«


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