Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Viertes Kapitel.

Gegen Morgen hatte die überwältigende Müdigkeit jedes Auge geschlossen, wie wach auch die Sorgen es lange erhalten haben mochten. Ein Schuß, dessen donnernder Hall die öde Stille unterbrach, erweckte die Reisenden plötzlich. »Das ist das Zeichen der Hilfe«, rief der Postillon, der seinen Platz neben Paul auf dem breiten Bock eingenommen hatte, und verwandelte durch dieses Wort Biankas Erschrecken in lebhafte Freude. »Wir müssen nun gleich Antwort geben«, setzte er hinzu und ergriff die Muskete, um sie zu laden, Er begab sich hierauf, von allen begleitet, an den nach Brieg zu gelegenen Ausgang der Galerie und schoß durch die Öffnung.

Gleich darauf ertönte ein lautes Geschrei vieler Männerstimmen ganz nahe an der Höhle. »Die Schneelage kann nicht breit sein«, rief der Postillon munter aus. »In kurzer Zeit sind wir vielleicht schon losgearbeitet.«

Es dauerte nicht zehn Minuten, so erschienen bereits einige Männer auf der Höhe des Schnees vor dem Ausgang der Galerie, so daß man mit ihnen sprechen konnte. Sie schaufelten bald eine Öffnung aus, durch die man zu Fuß auf die Straße gelangen konnte, wenngleich der Wagen noch nicht hätte hindurchkommen können. So war denn die Pforte des düstern Gefängnisses geöffnet.

Ludwig führte die Geliebte über den Schneehügel hinaus ins Freie. Mit stillem Entzücken begrüßten beide das holde Licht des Tages wieder. Aus der finstern Gruft traten sie in eine romantische Gegend, die man hätte reizend nennen können, wenn der Winter nicht noch hier oben Herr gewesen wäre. Vor ihnen öffnete sich zwar ein tiefes, stilles Tal; aber die Umgegend war mit schlanken Fichten grün bewachsen, und unten ganz in der Ferne und Tiefe sah man das freundliche Städtchen Brieg, von dem silbernen Bande der Rhone umschlungen, und dort grünte die Flur schon im reizenden Schmuck des Frühlings. Die Luft war nicht warm, aber doch milde, und die Sonne glänzte hell an einigen Schneegipfeln. Freilich das laue duftige Wehen der italienischen Frühlingslüfte, von denen man gestern geschieden war, traf man nicht mehr an, sondern nur ein tauender Februartag herrschte auf dieser Höhe. Daher sprach Bianka lächelnd: »Wir sind seit gestern um einige Monate jünger geworden; unten atmeten wir Mailuft, hier begrüßen uns höchstens die ersten Tage des März.«

»Sie waren mir von jeher die liebsten,« antwortete Ludwig lebhaft; »stets hat mich der Frühling am tiefsten bewegt, wenn sein Hauch nur eben die ersten Eisspitzen des Winters schmilzt, wenn wir ihn mehr ahnen als wirklich empfinden. Die Sonne, welche uns die ersten tropfenden Bäume im Garten bringt, die ersten Halme, die aus dem Schnee emporsprießen, galten mir als Knabe schon mehr als eine ganze Maienflur.«

Von Biankas Lippen ertönte, indem sie das schöne Haupt freundlich zuwinkend neigte, ein leiser Ton, wie das Summen der Bienen. »Es ist wahr,« sprach sie sinnend, »es sind die ersten Tage der Genesung nach langer düsterer Krankheit. Die Frische der Gesundheit ist noch nicht zurückgekehrt, aber man empfindet die Wohltat der geringen Gabe stärker!«

»Gewiß,« erwiderte Ludwig, »sie erfreuen uns, wie den Dürftigen das kleinste Geschenk, mehr, als in der Fülle des Glücks ein großer Gewinn.«

Paul unterbrach das Gespräch, indem er den Vorschlag machte, daß die Herrschaft zu Fuß voran bis zu dem nächsten, nur eine halbe Stunde entfernten Posthause gehen und dort warten möchte, bis der Wagen nachkomme. Ludwig fand dies sehr zweckmäßig, weil die Frauen der Erfrischung bedurften: er reichte Bianka den Arm und machte sich mit ihr und Margareten auf den Weg. Paul und der Postillon wollten, während die Landleute den Schnee vollends weggrüben, den Wagen, so gut als es einstweilen möglich war, herstellen.

Das Posthaus war nach einer kleinen halben Stunde erreicht. Es lag schon soviel tiefer, daß man dort keinen Schnee mehr fand. Auch war der Waldwuchs schon hoch, wiewohl bis jetzt nichts daselbst grünte als Moos und Tannen. Das wohlgebaute, reinlich geordnete Haus, eben hinreichend, um die Wohnung einer Familie zu bilden und ein oder zwei Zimmer für Reisende zu enthalten, gewährte ein eigenes Bild der Befriedigung und Ruhe. Mitten in der Wildnis hingestellt, einsam, hoch über andere Menschenwohnungen erhaben, in der Nachbarschaft einer oft furchtbaren Natur, war es doch so sichtlich ein heimischer, trauter Zufluchtsort für das harmlose Glück geringer Bedürfnisse, daß man die Bewohner desselben beneiden konnte. Welche Sorgen sollten sie hier treffen? Welche quälende Begierde ihr Glück untergraben? Ein geordneter Hausstand, ein bestimmtes Geschäft, kein Nebenbuhler, kein Feind, kein friedestörender Nachbar, genug Verkehr mit Menschen, um nicht abzusterben, nicht so viel, um von dem Wechsel der Schicksale in der bewegten Welt mitgetroffen zu werden – gewiß, dies sind die natürlichen, gesunden Verhältnisse eines wahrhaften Glücks, und nur ein selbstfeindlicher Sinn vermag sie zu stören. Aber leider ist der Trieb, der sich blind und wahnsinnig gegen das eigene Wohl richtet, nur zu häufig und zu mächtig in der Brust des Menschen. Daher wird keiner seinem Unsterne entfliehen, der ihn auf diese Weise selbst mit sich trägt; aber auch keinen wird ein feindliches Geschick finden, der in ruhiger, zufriedener Brust sich selbst das Glück gründet.

»Mamma, Mamma«, rief, als Ludwig und Bianka sich näherten, ein kleines Mädchen, das vor der Tür des Hauses saß, und klatschte vergnügt in die Händchen. »Mamma mia! Un signore, una, signora!« Die Mutter, eine schwarzlockige Italienerin, eilte herbei, nahm das Kind auf den Arm und ging den Fremden entgegen. »Die Herrschaften haben ein Unglück gehabt?« fragte sie teilnehmend mit dem reizenden Wohllaut italienischer Sprache und Stimme. »Es ist doch niemand zu Schaden gekommen?«

»Zum Glück nein«, erwiderte Ludwig italienisch. »Können wir ein Frühstück haben?«

»Gewiß, Signore. Ist es gefällig einzutreten?« Dabei trat sie auf die Seite und wollte den Fremden den Vortritt lassen. Bianka neigte sich im Vorübergehen zu dem kleinen Mädchen, das sich anfangs ein wenig blöde zurückzog, als aber Bianka es liebkosend anredete, mit unschuldiger Freude zur Mutter sprach: »Una bellissima signora!« – »Jawohl, Giannettina,« erwiderte diese, »eine schöne, vornehme, liebe Dame! Gib ihr doch ein Händchen.« Die Kleine reichte die Hand dar; Bianka neigte sich dem holden, lächelnden Rosenmunde des Kindes entgegen, das schnell vertraut beide Ärmchen um ihren Hals schlang und sie von Herzen küßte. »Giannettina!« rief die Mutter. »Wer wird so unartig sein!«

»O laßt sie doch,« antwortete Bianka, indem sie das Kind zu sich nahm und es liebkosend hineintrug; »ich spiele so gern mit Kindern.«

Sie traten in das für die Fremden bestimmte Gemach, welches mit angenehmen Blumendüften erfüllt war, indem die schönsten Töpfe von Hyazinthen, Rosen, Reseda und andern duftenden Gewächsen auf den Fenstern und auf einer Blumenterrasse in der Ecke standen. »Ei, wie schöne Blumen gibt's hier oben«, sprach Bianka erfreut.

»Hier wächst so wenig,« antwortete die Wirtin, »daß man wohl etwas aus dem Tale heraufschaffen muß. Die Postillone und Fuhrleute bringen sie uns aus Duomo d'Ossola mit. – Ist's der Signora gefällig, sich niederzulassen, ich werde sogleich das Frühstück bringen.«

Sie ging. Bianka setzte sich auf das Sofa und behielt die kleine Giannettina auf dem Schoß. Margarete nahm einen Stuhl, Ludwig stellte sich in das Fenster und blickte in die romantische Landschaft hinaus. Er überdachte seine seltsamen Schicksale seit gestern abend. Sie erschienen ihm noch wie ein Traum, aus dem er zu erwachen fürchtete; er sah oft nach Bianka hinüber, um sich in dem Gefühl der Wirklichkeit zu stärken. Und diese Wirklichkeit, konnte sie selbst sich nicht in eine noch viel herbere Wahrheit auflösen, als wenn alles nur ein Scheinbild der Phantasie gewesen wäre? Nein! Nein! Und sollte er auch alles wieder verlieren, was er jetzt besaß, diese Augenblicke, wie flüchtig sie verschwinden mochten, waren doch ein Glück. Er hatte die Geliebte wirklich am Herzen gehalten, hatte seine Lippen auf ihre reine Stirn gedrückt. Sie wußte es und zürnte ihm nicht. Ihre Seele neigte sich in liebendem Dankgefühl ihm entgegen, und er empfand es in heiliger süßer Ahnung, daß eine Stimme in ihrer Brust der seinen antworte. Wie auch weibliche Scheu sie jetzt fern von ihm hielt, in einem selig überwältigenden Augenblick hatte sie ihm ihr Herz hingegeben, und furchtbarer war ihm nichts als der Gedanke, daß dies eine Täuschung gewesen sein könnte. Verlieren konnte er, darauf war er gefaßt; aber in das Gefühl, nie besessen zu haben, in diese öde Leere des Nichts zurückgeschleudert zu werden, das wäre ihm tausendfach schrecklicher gewesen. Mit gerührtem Dank der Seele betrachtete er daher die Wendung seines Geschicks. Er fühlte es tief, daß ein veredelnder Schmerz uns teuer werden kann, daß man den flüchtigsten, aber wahrhaften Besitz selbst durch den herbsten Verlust nicht zu hoch erkauft.

Die Wirtin erschien mit einem echt schweizerischen Frühstück. Auf dem Tassenbrett, welches sie trug, stand ein großes Gefäß mit Kaffee, ein anderes mit Schokolade; frische Butter, Honig, eingemachte Früchte und Gebäck trug eine Magd ihr nach.

Man setzte sich. Bianka nahm die kleine Giannettina auf den Schoß und lud sie ein, mit zu frühstücken; es schien, als sei ihr die tändelnde Unterhaltung mit dem Kinde lieb, um eine ängstlich gespannte, die sie unter den vertrautesten Formen mit Ludwig hätte führen müssen, abzuwenden.

Man hatte noch nicht lange verweilt, als schon der Wagen herankam, der mit Hilfe der Landleute, die den Weg geräumt hatten, leidlich genug hergestellt war. Bianka hielt dringende Eile noch immer für notwendig; sie nahm daher einen schnellen, freundlichen Abschied von der Kleinen, die zu weinen anfing, als die schöne Signora fortwollte. »Ich komme bald wieder, liebe Kleine«, sprach sie freudig kosend, doch das Kind weinte fort und war nicht zu beruhigen. Bianka küßte es, gab es der Mutter und eilte hinaus.

»Wie alles sie liebt und lieben muß!« rief es in Ludwigs innerster Seele, als er sie jetzt an den Wagen begleitete und die sanfte Rührung ihres schönen Antlitzes wahrnahm.

In raschem Trabe rollte man die fast ebene Straße dahin, denn der neue Postillon, welcher Zeuge gewesen war, wie reichlich Paul den alten und die helfenden Landleute im Namen seiner Herrschaft beschenkt hatte, machte sich gleichfalls Hoffnung auf ein gutes Trinkgeld. So erreichte man denn Brieg, im Kanton Wallis, in wenigen Stunden, aber doch nur mit genauer Not, denn der Wagen wollte kaum bis dahin aushalten, so daß man zuletzt schon aus Furcht vor einem neuen Unglück langsam fahren mußte.

Im Wirtshause angelangt, war es Ludwigs erste Sorge, die Herstellung des Wagens zu betreiben. Ein Schmied und Rademacher wurden gerufen; sie erklärten, daß mindestens vier Stunden darüber vergehen müßten. Bianka hätte gern den Wagen mit einem andern vertauscht; allein in dem ganzen kleinen Städtchen war kein Reisewagen zu haben, und der Eintausch eines andern gegen den vortrefflich eingerichteten, dessen man sich bediente, würde Argwohn erregt haben, der gefährlicher werden konnte als selbst eine Verzögerung. Man mußte sich daher begnügen, durch Versprechung einer reichlichen Zahlung die Tätigkeit der Handwerker zu beleben.

Bianka bezog mit Margareten gemeinschaftlich ein Zimmer, Ludwig das daranstoßende. Paul blieb unten in der Gaststube, wo er sich müde auf einen Lehnsessel niederließ. Er hatte einen Arzt holen lassen, der ihm die blutende, schmerzende Stirn verband. Seine Kräfte schienen sehr erschöpft; in dieser Beziehung waren daher einige Stunden Ruhe vielleicht notwendig, wenn man das Leben des schon ziemlich bejahrten Dieners nicht gefährden wollte.

Ludwig, der, so sehr auch sein Hang ihn dazu trieb, es für unschicklich und zudringlich hielt, zu den Frauen hinüberzugehen, die gewiß der Ruhe bedurften, wollte die Stunde der Muße benutzen, um die Erlebnisse dieser letzten Stunden in sein Tagebuch einzutragen. Da bemerkte er mit Schrecken, daß er seine Brieftasche, deren Blätter er auf diese Weise zu füllen pflegte, verloren habe. Er entsann sich ganz deutlich, noch kurz vor Brieg im Besitz derselben gewesen zu sein, und konnte sie nur hier im Hause oder auf dem kurzen Weg bis dahin verloren haben. Da alles Nachsuchen in seinem Zimmer und Nachfragen bei dem Wirt vergeblich war, beschloß er, den freilich nicht sehr hoffnungsvollen Versuch zu machen, sie auf der Landstraße aufzusuchen, indem für ihn wichtige Papiere darin enthalten waren. Er erreichte den Ausgang des Städtchens, ohne sie zu finden, und ging nun auf der Chaussee fort. Jetzt bemerkte er erst, daß die Stelle, die ihm beim Hereinfahren so nahe an der Stadt zu liegen schien, doch eine ganze Strecke entfernt war. Er ging eine volle Stunde im raschesten Schritt vorwärts, ohne etwas zu finden. Schon gab er die Hoffnung auf, als ihm in der Ferne etwas Rotes auf dem Rasen entgegenglänzte; er eilte darauf zu und fand in der Tat das verlorene Gut wieder. Freudig eilte er nun nach der Stadt zurück. Etwa eine Viertelstunde mochte er noch von derselben entfernt sein, als er hinter sich den Hufschlag eines Pferdes hörte. Er wandte sich um und sah einen Reiter, welcher in vollem Galopp heransprengte. Kaum einige hundert Schritte dahinter erblickte er einen von einem andern Reiter begleiteten Wagen, der eben um die Ecke bog, welche durch die Windung der Chaussee entstand, und hierauf mit ungewöhnlicher Schnelligkeit die Straße herabkam. Dies fiel ihm auf. Er hatte aber noch nicht so viel Zeit gehabt, um seine Vermutungen sich selbst klar zu machen, als schon der erste Reiter dicht an ihm war und ihn französisch anrief: »Sind Sie aus Brieg, mein Herr?«

»Das nicht,« erwiderte Ludwig; »ich bin ein Reisender und habe nur soeben einen Spaziergang vor die Stadt gemacht.«

»Können Sie uns nicht sagen, ob ein Wagen, mit vier Pferden bespannt, in welchem zwei Damen und ein Herr, auf dem Bock aber ein Bedienter saß, dort angelangt ist?«

Ludwig wollte eben nein! antworten, als der Reisewagen heranrollte und anhielt. Ein Mensch, der in Begleitung eines französischen Offiziers in demselben saß, beugte sich heraus und wiederholte dieselbe Frage. Dies verschaffte Ludwig, der sogleich den Zusammenhang dieser Nachforschungen mit dem Schicksal Biankas ahnte, Zeit, sich auf eine die Gefahr ableitende Antwort zu besinnen. Er erinnerte sich, daß das Posthaus ganz vorn im Orte lag, und man also die Pferde wechseln konnte, ohne bis an das Wirtshaus zu fahren. Rasch erwiderte er daher: »Allerdings ist ein solcher Reisewagen hier eingetroffen, aber schon vor mehreren Stunden. Es war, glaube ich, eine Achse gebrochen, die hier erst gemacht worden ist. Doch vor etwa einer guten Viertelstunde, gerade als ich die Stadt verließ, fuhren auch diese Fremden wieder ab!« – »Teufel!« rief der Mensch im Wagen; »welche Straße nahmen sie?«– »Die einzige, die sie nehmen konnten, über Sion nach Genf,« erwiderte Ludwig; »ihr seht sie dort unten an der Rhone hinlaufen.«

»Kann man nicht hier querüber fahren?« fragte der Reisende hastig. »O ja,« nahm der Postillon das Wort für Ludwig; »dort unten kann man gleich links abbiegen, und wenn Euer Gnaden sich nicht scheuen, durch eine Furt der Rhone zu fahren, wo Ihnen das Wasser jedoch etwas in den Wagen kommen könnte, so ersparen wir eine starke halbe Stunde Weges, ohne die Stadt zu berühren. Wenn Euer Gnaden mir diesen Weg erlauben wollen, so getraue ich mich die Reisenden noch einzuholen, denn sie müssen jetzt gerade in dem Gebüsch dort unten sein, weil man sonst von hier den Wagen auf der Landstraße sehen müßte.« – »Ist der Seitenweg gefährlich?« – »Ei behüte, nur ein wenig holperig; in einer Stunde spätestens haben wir die Reisenden eingeholt, wenn Euer Gnaden es nur verantworten wollen, daß ich die Station überfahre.«

»Ich stehe für alles,« rief der Offizier im Wagen, »und überdies bleiben die zwanzig Napoleondors, die ich dir versprach, wenn wir die Flüchtigen vor Brieg einholen würden, dein. Nur rasch vorwärts!« Der Wagen jagte davon, die Reiter sprengten nebenher.

Ludwig war fast erstarrt vor Schrecken; doch es blieb keine Wahl, was er zu tun hatte. Mit größter Hast eilte er zurück, um die Frauen zu benachrichtigen. Schnellern Laufs als selbst der Wagen erreichte er das Gasthaus wieder und stand, kaum seiner bewußt, in Biankas Zimmer. »Mein Himmel, was ist Ihnen?« fragte sie, als sie seine Bewegung und Erhitzung sah. Atemlos begann er zu erzählen, was ihm begegnet war.

»Barmherziger Himmel,« rief sie, ihn unterbrechend, »so sind wir verloren! Wie sah der Reisende aus? Hatte er nicht schwarzes Haar und Augen, ein bleiches Gesicht, sehr weiße Zähne?«

»Es schien mir so,« antwortete Ludwig, »doch war er so eingehüllt, daß ich sein Gesicht nicht deutlich erkennen konnte; auch gestehe ich, darauf nicht sonderlich gemerkt zu haben, da die Sache selbst mich so in Bewegung brachte; aber hören Sie weiter!« Er berichtete jetzt, durch welche seltsame Verkettung der Umstände die Verfolger von der Straße abgeleitet worden.

»Gott sei es gedankt!« rief Bianka aus und schloß ihre Begleiterin bewegt ans Herz. »O, Sie sind unser Schutzengel!« sprach sie mild, indem sie sich zu Ludwig wandte und ihm die Hand darreichte. »Doch wir haben keinen Augenblick zu verlieren!« Hiermit stand sie auf und schellte eilig nach Paul.

»Zwei Stunden bleiben uns wenigstens,« rief Ludwig, »bis sie ihren Irrtum bemerken, denn in einer Stunde gedachte der Postillon erst das Ziel seines Bestrebens zu erreichen. Er wird sich von einer Minute zur andern weiter locken und täuschen lassen und vielleicht gar auf die nächste Station fahren. Alsdann können sie vor der einbrechenden Nacht nicht zurück sein, und bis da- hin schaffe ich mit Gottes Hilfe Rat.«

Bianka zitterte heftig; sie wies Ludwigs unterstützenden Arm, der sie zu einem Sessel geleitete, nicht zurück. »Gott hat uns so wunderbar beschirmt,« sprach sie, als sie sich erholt hatte, beruhigter, »daß ich auch jetzt fest auf ihn vertraue. Sie wurden zum zweitenmal unser Retter. Ohne den Zufall, der Sie wieder auf die Landstraße führte – etwas, das sonst die größte Gefahr für uns haben konnte –, waren wir unwiederbringlich verloren. Aber der Allgütige ist sichtbar mit uns!« Dabei richtete sie einen unbeschreiblichen Blick, in dem die Träne des gerührten Dankes mit der Angst zusammenschmolz, gen Himmel.

Paul war heraufgekommen. Margarete zog ihn sogleich auf die Seite und sprach einige Worte leise mit ihm, worauf der alte Diener erschreckt und erblassend zurücktrat. »Wir müssen auf der Stelle fort,« rief er aus; »hier gibt es kein anderes Mittel. Die Herstellung des Wagens können wir nicht abwarten, auch würde sie uns nichts nützen, da wir keine andere Straße ein- schlagen könnten als die, auf der wir unserm Verfolger gerade entgegenfahren. Es bleibt uns nichts übrig, als unbemerkt, einzeln, zu Fuß die Stadt zu ver- lassen und unsern Weg gerade ins Gebirge zu richten. Nehmen Sie also das Unentbehrlichste zu sich, Frau Gräfin, und verlassen Sie sofort mit der Frau Margarete die Stadt. Sie nehmen ihren Weg dem Tal entlang, die Rhone aufwärts, am linken Ufer derselben. Im Hereinfahren habe ich gesehen, daß ein sehr betretener Pfad sich dem Fluß entlang zieht, der ihn ohne Zweifel das Tal hinaufbegleitet. Etwa eine halbe Stunde von hier erwarten Sie mich an irgendeiner buschigen, bedeckten Stelle des Ufers, von wo Sie jedoch den Weg nach der Stadt übersehen können, damit wir uns nicht verfehlen. Ich werde das Haus gerade nach einer entgegengesetzten Seite verlassen; der Herr Graf muß scheinbar einen dritten Weg einschlagen, damit es möglichst verborgen bleibt, wohin wir uns gewendet haben. Wenn wir erst wieder beisammen sind, werden wir wohl Führer finden, die uns über das Gebirge leiten, und vielleicht lassen sich zur Erleichterung der Reise auch Maultiere anschaffen.«

Paul sprach diese Worte so entscheidend, daß sie fast Befehlen gleichklangen; indessen war sein Rat so gut, daß man ihm schon um seiner Zweckmäßigkeit willen unbedingt hätte gehorchen müssen. Ludwig verwunderte sich über die kalte, gewandte Entschlossenheit des alten Mannes und seinen klaren, scharfen Ausdruck. Er schien diese Entschiedenheit des Geistes auch auf seine Umgebungen überzutragen; denn selbst Bianka zeigte bei aller ihrer Ängstlichkeit eine Entschlossenheit und Bestimmtheit, die in Erstaunen setzen mußte. Sie nahm ihre Papiere, ihre Brieftasche und einige andere Kleinigkeiten zusammen, während Margarete die unentbehrlichsten Kleidungsstücke hervorsuchte und einiges in einen leichten Arbeitsbeutel, anderes in ein Körbchen tat und endlich noch manches in ihrem und der Gräfin hohen Hut verbarg. In weniger als fünf Minuten verließen beide Frauen reisefertig das Zimmer. Das Stubenmädchen begegnete ihnen auf dem Gange. Bianka führte sie an ein Fenster, das nach der Gegend von Sion, gerade der entgegengesetzten Richtung, in der sie flüchten wollten, hinaussah, und fragte, indem sie auf einen nahen Hügel deutete: »Wie weit ist es bis auf die Spitze jenes Hügels? Können wir wohl vor Abend noch einen Spaziergang machen?« –»Wenn die gnädigen Damen gut zu Fuß sind, geht es noch an; aber es ist eine gute Stunde«, erwiderte das Mädchen. – »So werden wir erst mit der Dunkelheit, vielleicht auch wohl noch später zurückkehren,« antwortete Bianka; »sorge dann nur, daß unser Zimmer in Ordnung ist, mein Kind.«

»Werden Ihro Gnaden auf dem Zimmer speisen?« fragte das Mädchen. – »Jawohl; drei Kuverts; aber erst um neun Uhr«, lautete Biankas Antwort, und hierauf schwebte sie an der Seite der Begleiterin die Treppe hinab. Ludwig rief ihnen absichtlich laut nach: »Viel Vergnügen, liebe Schwester, aber ich teile deine Neigung nicht; wenn ich nicht lieber ganz zu Hause bleibe, werde ich mich doch wenigstens mit einem nähern Spaziergange begnügen.«

Hierauf lehnte er sich ins Fenster und sah, welche Richtung sie einschlugen. Noch fünf Minuten wartete er, dann nahm auch er zusammen, was er für das Unentbehrlichste hielt, und verließ nun, ein Liedchen pfeifend, das Haus nach der andern Seite, als wollte er nur eben müßig einen Weg durch die Gassen schlendern. Zwar sah er sich im Hinuntergehen nach Paul um, wurde desselben jedoch nicht gewahr. Wenige Schritte vom Hause begegnete ihm der Hausknecht. Diesem trug er auf, die Bestellung an Paul zu machen, daß er noch einmal zum Schmied und Rademacher gehen sollte, damit der Wagen noch vor Abend fertig werde, denn er wolle jedenfalls nach dem Nachtessen abreisen. Der Hausknecht antwortete: »Der Kammerdiener läßt nur hier unten in der Gasse das Uhrglas für den Herrn Grafen einsetzen; wenn er von dort zurückkommt, will ich's ihm sogleich bestellen.« Ludwig wußte nun wenigstens, daß Paul auch unter einem geschickten Vorwande bereits das Haus verlassen habe.


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