Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Siebentes Kapitel.

Bernhards Erzählung hatte die Aufmerksamkeit aller so gefesselt, daß man nicht bemerkte, wie inzwischen der Regen wieder ungleich heftiger geworden war und die Dunkelheit nach und nach hereinzubrechen begann. Erst jetzt wurde Marie darauf aufmerksam und nicht wenig mit Sorgen deshalb erfüllt; denn in der Tat war die Lage für die jungen Mädchen bedenklich zu nennen. Sie versuchte, ob sie zu gehen imstande sein würde, und wollte dann entschlossen dem Wetter trotzen; allein es war ihr nicht möglich; der Fuß war stark angeschwollen; sie litt empfindliche Schmerzen. Ludwig hatte bei der heftigen Aufregung seines Innern die nächsten Verhältnisse ganz vergessen und war in tiefe Gedanken versunken. Marie faßte seine Hand und fragte ihn leise: »Was sollen wir jetzt anfangen, Bruder? Wir sind wirklich recht übel daran; ich fühle, daß ich nicht hinunter kann, wenn ich auch das Wetter nicht scheuen wollte.«

Ludwig sann einen Augenblick nach, dann erwiderte er: »Jetzt, da das üble Wetter anhält, ist die Sache ganz leicht entschieden. Ich gehe allein hinab und sende euch die Wagen herauf.« – »Du, Guter! wolltest dich dem heftigen Wetter aussetzen?« rief Marie. – »Es wird mir wohltun,« entgegnete Ludwig, »mir ist so schwül, daß ich mich nach der Abkühlung ordentlich sehne. Aber es ist die höchste Zeit, denn sonst bricht die Nacht an, ehe die Wagen heraufkommen.«

Es entstand jetzt ein Wetteifer unter den Männern, wer Ludwig begleiten sollte. Gern wäre er mit Bernhard gegangen, um von diesem noch womöglich etwas zu erforschen; aber es schien ihm schicklicher, daß derselbe als ein älterer Freund des Hauses oben verweile, damit die drei Mädchen nicht allein mit den drei Offizieren zurückbleiben möchten. Er lehnte daher die Begleitung ab, wiewohl auch Rasinski und die jüngern Offiziere darauf bestanden, die Unannehmlichkeit mit ihm zu teilen. »Es ist völlig unnötig«, erwiderte Ludwig, da sie freundschaftlichst in ihn drangen. »Einer reicht ja vollkommen zur Verrichtung des Auftrags hin; warum sollten also zwei damit beschwert werden?« Ohne sich daher weiter zu besinnen, trat er seinen Weg rasch an und versprach, längstens in einer guten Stunde sollten die Wagen zur Abholung dort sein.

Diese Zeit verfloß ein wenig ängstlich, da die Mädchen, nachdem ihr natürlicher Beschützer und Verwandter sich entfernt hatte, die Verlegenheit ihrer Lage erst recht deutlich empfanden. Der Regen rauschte schauerlich herab; grauer Nebel wälzte sich über den Berg hin; es wurde allgemach dunkel. Jetzt war eine Stunde verstrichen. Von Minute zu Minute hoffte Marie, daß die Wagen eintreffen würden. Gespannt lauschte sie auf jedes Geräusch, in der Hoffnung, endlich den Schall einer Peitsche zu vernehmen. Nachgerade fing sie an, sich zu beunruhigen, denn es verging eine halbe Stunde über die festgesetzte Zeit, ohne daß sich die sehnlich erwartete Hilfe blicken ließ.

Es war völlig Nacht geworden. Durfte man gleich etwas auf den Regen und den düster bewölkten Himmel rechnen, so mußte es dennoch schon sehr spät sein. Marie fragte Bernhard einigemal leise nach der Zeit; dieser gab ihr anfangs täuschende Antworten, dann erklärte er ihr, er könne es nicht mehr sehen. Es war nun nicht mehr die Seltsamkeit des Verhältnisses allein, was Marien quälte, sondern sie fing auch an, Besorgnisse anderer Art zu hegen. Sollte Ludwig verunglückt, sollte der Mutter etwas zugestoßen sein? Dazu gesellte sich der körperliche Schmerz, der nachgerade so heftig geworden war, daß sie sich in einem fast fieberhaften Zustande befand.

Weder Bernhard noch die übrigen Männer konnten sich's jetzt mehr verbergen, daß ein außerordentlicher Vorfall eingetreten sein müßte, denn es waren weit über zwei Stunden verflossen, seit Ludwig sie verlassen hatte. Sie fingen daher an zu beratschlagen, was man tun solle, ob es nicht die Pflicht gegen den Freund erfordere, mit Ernst nachzuforschen, was geschehen sei; denn es konnte ihm ja doch ein Unfall zugestoßen sein. Bernhard hielt es nunmehr für das beste, mit der Sprache herauszurücken, um die ängstlichen, eingeschüchterten Mädchen nicht noch mehr durch ein dunkles Verhüllen und Verbergen, das zuletzt doch nicht durchzuführen wäre, zu beunruhigen. Man stimmte ihm bei. Er erklärte daher Marien offen, daß er selbst anfange, besorgt zu sein und es daher für Pflicht halte, sich um Ludwig zu kümmern.

Marie erwiderte diese Eröffnung durch einen Händedruck, denn schon längst hatte es auf ihrem gepreßten Herzen gelegen, die Männer um das zu bitten, wozu sie sich jetzt erboten. Nur wagte sie es nicht, teils weil sie besorgte, daß man ihre Angst für unbegründet halten möchte, teils weil ihr das Ansinnen zuviel zu fordern schien.

Bernhard, als des Weges am kundigsten, und Jaromir übernahmen es, hinunterzugehen; Rasinski, als der Älteste, blieb zum Schutz der Frauen zurück, und behielt auch Boleslaw bei sich, weil man nicht wissen konnte, ob Mariens Zustand nicht vielleicht die Hilfe zweier Männer notwendig machte und weil es überhaupt gut schien, daß auf jeder Seite zwei blieben, um einander zu unterstützen.

Bernhard und Jaromir machten sich auf den Weg. Sie versprachen, es möge vorgefallen sein, was da wolle, wenigstens Botschaft zu bringen oder zu senden. Obgleich der Regen heftig herabströmte und man kaum die Hand vor den Augen zu sehen vermochte, ward es den beiden Wanderern doch anfangs nicht schwer, den richtigen Weg zu finden. Sie erreichten ohne Schwierigkeit die Ruine und glaubten schon ihrem Ziele ganz nahe zu sein, als sie, minder achtsam, plötzlich vom Wege abgewichen waren und sich in hohem Grase befanden. Sie versuchten, die Straße wiederzugewinnen, aber vergeblich. Um nicht wieder Zeit zu verlieren, beschlossen sie daher auf dem ungebahnten Wege fort durch Gesträuch und hohes Gras oder Getreide nur gerade abwärts zu gehen, da sie die Hauptrichtung nicht verfehlen konnten. Indessen war dies nicht so leicht; denn sie wurden anfangs durch einen ziemlich tiefen und breiten, mit Regenwasser angefüllten Graben aufgehalten, und als sie über diesen endlich einen Übergang gefunden hatten, gerieten sie an eine undurchdringliche dichte Hecke. Sie mußten an derselben hintappen, um ihr Ende oder eine Öffnung zu suchen; doch plötzlich hemmte sie eine Querverzäunung, die sie nötigte, wieder bergauf zu klimmen. Zum Glück entdeckte Bernhard eine Stelle, wo man leicht übersteigen konnte. Sie taten es und sahen nun in einiger Entfernung ein Licht schimmern, das in einem der Hofgebäude, die zu dem Schlosse gehören, zu brennen schien. Hatten sie dieses erst erreicht, so war es ein Leichtes, nach dem Wirtshause zu gelangen. Bald bemerkten sie jedoch, daß das Licht wandle und näher komme; es waren Leute mit zwei Laternen. Erfreut, auf Menschen zustoßen, die ihnen Auskunft geben konnten, gingen sie denselben entgegen und trafen auch bald den gebahnten Pfad, auf dem dieselben herankamen. Da Bernhard und Jaromir durch die völligste Dunkelheit verborgen, jene aber hell beleuchtet wurden, war es nicht schwer, schon in ziemlich bedeutender Entfernung zu erkennen, daß es zwei französische Gendarmen waren, die mutmaßlich einen Gefangenen transportierten. Bernhard war durch seine mannigfaltigen Reiseerfahrungen vorsichtig gemacht, und Jaromir war es als leichtem Kavallerieoffizier zur andern Natur geworden, im Dunkeln immer die Taktik der Schleichpatrouillen zu beobachten. Es bedurfte also für beide nur eines gegenseitigen Winks, um die Leute mit den Laternen erst näher herankommen zu lassen und sie vorläufig aus einer dunkeln Stelle am Wege zu beobachten. Mit Erstaunen sahen sie, als die Gendarmen sich näherten, daß Ludwig in ihrer Mitte ging, und mit noch größerm Erstaunen erkannte Bernhard in einem vierten zur Seite gehenden, tief in einen weiten Regenmantel eingehüllten Manne, der gleichfalls eine Laterne trug, jenen Menschen, der ihm den Nachmittag im Garten als so bekannt aufgefallen war. Ein Druck mit der Hand reichte als Zeichen hin, daß man sich vorläufig durchaus still und nur beobachtend zu verhalten habe. Hinter einen Baumstamm gedrückt, den Atem anhaltend, ließen sie daher den Zug vorbei, und als er etwa fünfzig Schritte vorüber war, folgten sie ihm mit möglichster Behutsamkeit, wobei ihnen der matte Lichtschein, den die Laternen zurückwarfen, ungemein zustatten kam. Bernhard hatte zuviel Vertrauen zu Ludwig, kannte ihn zu genau, um nicht zu ahnen, daß hier entweder ein arges Mißverständnis, oder, wie es in diesen Zeiten leider nur zu gewöhnlich war, ein patriotischer Anlaß, oder endlich, was ihm besonders durch die Mitwirkung des widerwärtigen Fremden wahrscheinlich wurde, ein Bubenstück zugrunde liegen mußte. Dieser Gedanke setzte sich so fest in ihm, daß er beschloß, Ludwig, es koste was es wolle, aus der augenblicklichen Gefangenschaft, in der er sich befand, zu befreien; denn oftmals kam es ja in jener Zeit nur darauf an, jemand seinen heimlichen Richtern oder Gewalthabern im ersten Augenblicke zu entreißen, um ihn nachher durchaus zu retten und zu sichern. Er sprach daher leise zu Jaromir: »Ich fürchte, hier ist ein Bubenstück im Spiele, und ich habe meine ganz besondern Ursachen zu diesem Argwohne. Gelänge es uns, unsern Freund nur aus der Gewalt dieser drei Leute zu befreien, ihm einen einzigen Wink zu geben, so wollen wir schon Mittel finden, ihn anderweit zu retten. Wollen Sie mir in meinem Wagestück beistehen?«

Jaromir, welcher wußte, was er wage, wenn er als Soldat eine Wache, insbesondere aber die fast geheiligten Personen zweier französischen Gendarmen verletze, fand das Unternehmen sehr bedenklich; indes fühlte er auf der andern Seite so viel Freundschaft für Ludwig, daß er es nicht zurückweisen zu dürfen glaubte. Auch besaß er jenen Jünglingsleichtsinn, der die Folgen einer Tat nur obenhin bedenkt, oder vielleicht war es ein tieferer Zug des polnischen Nationalcharakters, der das Verwegene keck beginnt und den Ausgang nicht berechnen will noch kann. Kurz, er sagte zu.

»Gut denn,« sprach Bernhard; »und für uns soll gar keine Gefahr dabei sein, wenn wir geschickt verfahren. Der Weg, auf dem wir gehen, ist erhöht; hier rechter Hand an der Hügelwand läuft ein schmaler Graben zur Ableitung des Wassers hin, der aber tief genug ist, daß jemand, der hineinfällt, einige Minuten Zeit braucht, um wieder herauszukommen; links senkt sich der Weg nur drei bis vier Fuß steil ab. Wenn wir jetzt den Gendarmen leise nacheilen, uns dann plötzlich auf sie stürzen, den einen rechts in den Graben, den andern links die kleine Anhöhe hinunterstoßen und dann beide vereint den Mann im Regenmantel niederrennen, so haben wir Zeit genug, mit Ludwig zu fliehen.«

Es galt kein längeres Verabreden. Leise, auf den Zehen, aber doch mit größter Schnelligkeit folgten die gewandten Jünglinge dem Zuge, der den gefangenen Freund geleitete; unbemerkt waren sie bis auf zehn Schritte nahegekommen. Ludwig befand sich noch wie zuvor in der Mitte zwischen beiden Gendarmen, deren einer links nahe am Rande des Weges, der andere rechts neben dem Graben hinschritt. Einige Schritte voran ging der Fremde im Mantel mit der Laterne. »Ich nehme den rechts,« flüsterte Bernhard; »jetzt!«

Wie zwei ansprengende Wettrenner stürzten die beiden kecken Angreifer vorwärts, indem sie zugleich ein lautes Geschrei erhoben. Noch ehe sich die Gendarmen umwenden konnten, rannten beide Läufer schon so fest und gewaltsam gegen sie an, daß der eine links, der andere rechts hinuntergeschleudert wurde, ohne einmal recht zu wissen, was und wie ihnen geschah. Verabredetermaßen wollten beide jetzt auf den Fremden los; doch dieser ersparte ihnen die Mühe; denn sowie der erste Ruf der Angreifenden erschallte, hatte er schon, da er nicht das beste Gewissen haben mochte, seine Laterne weit von sich geschleudert, so daß sie verlöschte, und lief, was er vermochte, den Weg weiter hinunter. Bernhard fand nicht für gut, ihm nachzusetzen, sondern raunte nur dem höchst betroffenen, unbeweglich dastehenden Ludwig zu: »Wir sind gute Freunde; flüchte mit uns!« Zugleich ergriff er ihn beim Arme und rief: »Mir nach!« Ludwig erkannte ihn sofort und säumte nicht, ihm zu folgen; da dem Gendarmen im Fallen gleichfalls die Laterne verlöscht war, so begünstigte die tiefste Finsternis diese seltsame Flucht. Alle drei jungen Leute schossen in der Dunkelheit pfeilschnell dahin, des Weges, den sie gekommen waren, zurück. Bernhard rief im Laufen den andern leise zu: »Immer mir gefolgt! Wir müssen beieinander bleiben, so behalten wir im Notfalle noch die Übermacht.«

Schon ein gutes Stück mochten sie gelaufen sein, als sie hinter sich zwei Schüsse fallen hörten. Es waren die Gendarmen, die ihre Karabiner nach der Richtung abfeuerten, in der die Freunde entflohen. – »Schießt nur!« rief Bernhard. »Wir hören nicht einmal eure Kugeln pfeifen, geschweige daß sie uns träfen.«

An der Entfernung des Knalles sowie an dem Zeitraum, der verflossen war, bis die Schüsse fielen, konnten die Läufer hinlänglich abnehmen, daß sie sich in vollkommenster Sicherheit befanden. Doch setzten sie ihren Weg noch so eilig als möglich fort. Jetzt bog sich ein Seitenweg links den Berg hinauf. Bernhard schlug ihn ein; als man etwa hundert Schritte aufwärts gelangt war, sprach er: »Nun langsam, sonst verlieren wir Kraft und Atem! Vorläufig sind wir in Sicherheit; nur kein Wort gesprochen!«

Schweigend klimmten sie aufwärts. Von Zeit zu Zeit lauschte Bernhard, ob ihnen jemand folge. Es blieb alles still. Nach einer Viertelstunde, wo man eine dichte Stelle des Gebüsches erreicht hatte, konnte man endlich annehmen, daß man sich in völliger Sicherheit befand.

»Was nun beginnen?« fragte er, indem er stillstand. – »Vor allem,« sprach Ludwig und ergriff die Hände seiner Begleiter lebhaft, »vor allem euch, ihr treuen Freunde, meinen heißesten Dank. Aber erklärt mir nur, wie ihr meine Verhaftung erführet, und durch welch ein Wunder ihr meine Rettung bewirken konntet.«

Bernhard berichtete über die Zufälligkeit der Entdeckung und über die dunkle Triebfeder seines Entschlusses. »Dich hat eine Stimme Gottes geleitet,« entgegnete Ludwig bewegt; »denn ich glaube, ich war dem Verderben nahe. Was habt ihr aber gewagt!« rief er plötzlich tief gerührt und umarmte beide mit brüderlicher Wärme.

»Gewagt!« entgegnete Bernhard; »nichts das ich wüßte! Aufs höchste war das Ganze ein Studentenstreich, für den man uns nicht hängen könnte, wenn man uns auch erwischte. Aber wie soll das geschehen? Wer kennt, wer vermutet uns? Wir könnten jetzt dreist den beiden Gendarmen in die Arme rennen, es würde keiner von ihnen ahnen, daß er uns sein Schlammbad zu verdanken hat. Aber weshalb hatten sie dich denn eigentlich beim Schopf genommen? Doch bin ich vielleicht neugieriger als billig.«

»Die Geschichte ist wunderbar genug, und mir selbst noch ein tief verborgenes Rätsel«, begann Ludwig. »Doch ist sie so verwickelt, daß ich sie dir lieber ein andermal bei Muße erzählen möchte.«

»Schon recht,« antwortete Bernhard; »allein die Hauptsache müssen wir doch jetzt wissen, um danach handeln zu können, und namentlich zu bestimmen, wo die beste Sicherheit für dich ist. Könntest du z. B. nach Dresden zurückkehren?«

»Ich glaube nicht«, erwiderte Ludwig. »Doch ich will in der Kürze erzählen. Du entsinnst dich des Menschen, der uns zuvor im Garten als bekannt auffiel?«

»Freilich, nur weiter.«

»Als ich vom Berge herabkam und die Ruine erreicht hatte, fand ich dort noch sehr viele Menschen versammelt, die sich vor dem Regen geflüchtet hatten. Natürlich war es, daß ich mich umsah, ob vielleicht meine Mutter und Tante darunter seien. Ich fand sie nicht; es waren meistens Leute, die zur Dienerschaft des Hofes gehörten. Als ich darauf meinen Weg fortgesetzt hatte und kaum hundert Schritte von der Ruine entfernt war, kam mir ein französischer Gendarm nach, der mir ein ziemlich rauhes ›Bon soir, Monsieur‹ zurief. Ich grüßte wieder und wollte meinen Weg eilig fortsetzen, doch er erklärte mir, daß ich ihm folgen müsse. Ich fragte, weshalb und wohin? Dies zu beantworten sei nicht in seinem Auftrage, entgegnete er mir. Mir bewußt, nichts verschuldet zu haben, beschloß ich, wiewohl höchst ungern, zu gehorchen, denn ich hatte die Hoffnung, daß die ganze Sache sich als ein Mißverständnis im Augenblick lösen müsse. Indem ich mich jetzt jedoch umsah, bemerkte ich einen Mann im Regenmantel und einen zweiten Gendarmen, die uns beide eiligst nachfolgten. Als sie näher kamen, erkannte ich jenen Fremden. Er trat zu mir heran und sprach mit einem unangenehmen Lächeln: ›Sie werden uns zu einem kleinen Verhör folgen müssen, mein Herr!‹ – ›Das habe ich mit Erstaunen hören müssen,‹ antwortete ich, ›und es wäre mir sehr erwünscht, zu wissen weshalb.‹ Da er schwieg, fuhr ich fort: ›Ich kann nur ein Mißverständnis voraussetzen und hoffe daher auf Genugtuung wegen dieser kränkenden Verhaftung.‹«

»›Das wird sich finden‹, sprach er kalt, und wir gingen weiter abwärts nach dem Schlosse zu.«

»Es war mir sehr erwünscht, daß wir, da der Regen noch immer heftig strömte, niemand begegneten; denn ich fühlte mich in der Tat beschämt, so als Verbrecher zwischen zweien Schergen gehen zu müssen. Im Hoftore des Schlosses angelangt, wurde ich in das kleine Portierzimmer auf der Seite geführt, wo ich, von beiden Gendarmen bewacht, eine gute Stunde warten mußte, während der Fremde sich entfernte. Die Zeit benutzte ich, um einen Entschluß über mein Betragen zu fassen; ich beschloß bei mir selbst, mich auf nichts einzulassen, sondern gegen die Gewaltsamkeit meiner Verhaftung zu protestieren. Natürlich dachte ich besonders darauf, wie ich meiner Mutter den Schreck, der sie auf jede Weise treffen mußte, ersparen könnte; indessen wurde alles, was ich in dieser Hinsicht zu tun vermochte, wie du gleich hören wirst, vereitelt. Nach einer guten Stunde erschien der Fremde wieder; es war schon ganz finster, so daß ich nicht recht weiß, wohin ich geführt wurde. Ich glaube jedoch, es war eins der Nebengebäude des Schlosses. Nachdem ich eine schmale Treppe hinaufgestiegen, einen ziemlich langen Korridor heruntergegangen war, wurde ich in ein Zimmer geführt, wo ich denselben Mann mit dem Orden der Ehrenlegion antraf, der uns diesen Nachmittag im Garten begegnete. Er sprach nur französisch. Ich beschwerte mich über meine Verhaftung. Er lächelte, zuckte die Achseln und meinte, ich werde den Grund derselben wohl kennen. Hierauf schritt er zu einem förmlichen Verhör und verlangte zuvörderst meinen Namen zu wissen. Ich erklärte ihm, ich würde mich nicht eher nennen, bis ich den Grund meiner Verhaftung wüßte.«

»›Sie sind des Hochverrats angeklagt‹, rief er heftig. – ›Und durch wen?‹ fragte ich kalt. – ›Durch diesen Herrn‹, erwiderte er und zeigte auf den Fremden. – ›Ich kenne diesen Herrn nicht‹, erwiderte ich unwillig. – ›Er aber Sie desto besser‹, antwortete mein Inquirent in heftigem Ton. – ›Nun denn,‹ sprach ich ebenfalls gereizt, ›wenn dieser Herr mich des Hochverrats anklagt, so wird er auch imstande sein, Ihnen meinen Namen zu sagen, den ich verweigere, weil ich das Gericht, vor dem ich stehe, nicht anerkenne.‹«

»Der Fremde wußte auf diese Worte nichts zu antworten, sondern stand mit tückischer und verlegener Miene da. Endlich flüsterte er dem, der sich zu meinem Richter aufgeworfen hatte, einige Worte ins Ohr. Hierauf sprach dieser: ›Es versteht sich ganz von selbst, daß wir Ihren Namen kennen, mein Herr, aber die Form des Verhörs verlangt, daß Sie selbst sich nennen.‹«

»›Ja, die Form des gesetzlichen Verhörs‹, erwiderte ich.«

»Mein Inquirent wurde rot vor Verdruß über diesen Einwurf. Er ging einigemal auf und ab, dann zog er sich mit meinem Ankläger in ein anstoßendes Gemach zurück. Nach einer guten Viertelstunde erschienen beide wieder. Der Inquirent ging stolz auf mich zu und sprach: ›Man wird Sie jetzt an einen Ort bringen, der vielleicht einigen Einfluß auf Ihre Hartnäckigkeit hat. Sie werden diesem Herrn folgen.‹ Jetzt fielen mir Mutter und Schwester, ihre Sorge, ihre Angst ein. – ›Sie werden mir doch erlauben, daß ich einige Freunde, mit denen ich hier im Orte bin, von meinem Schicksal benachrichtige‹, sprach ich heftig. – ›Ich kann Ihnen das nicht gestatten‹, entgegnete mein Inquirent. – ›Wie!‹ rief ich, ›scheut Ihre Gerechtigkeitspflege so das Tageslicht? Dies ist das Verfahren eines Inquisitionsgerichts!‹ – ›Ein Verhafteter, der sich nicht nennen will, kann unmöglich auf Vergünstigungen dieser Art Anspruch machen.‹«

»›Nun wohl denn,‹ rief ich, ›ich werde mich nennen, sobald ich die Meinigen benachrichtigt habe und somit jemand frei weiß, der gegen die willkürliche Gewaltsamkeit meiner Haft protestieren kann. Ich schreibe zwei Zeilen; in zehn Minuten kann ich sie unterschrieben zurückerhalten. Sowie dieser Beweis, daß die Meinigen unterrichtet sind, in meinen Händen ist, werde ich jede billige Frage Ihres Verhörs beantworten.‹«

»Mein Inquirent schien unschlüssig. Nach einer kleinen Pause erwiderte er jedoch: ›Ihr Verlangen ist durchaus unzulässig; ich kann Ihnen gar keine Kommunikation mit den Ihrigen gestatten. Übrigens werden wir wohl Mittel finden, dasjenige von Ihnen zu erfahren, was wir wissen müssen. Auf Wiedersehen.‹«

»Mit diesen Worten empfahl er sich. Ich war in heftiger Wallung. Die Vorstellung, die ich mir von der Angst meiner Mutter machte, wenn ich verschwunden sein würde, ohne daß sie auch nur die leiseste Spur von mir haben sollte, bewog mich, meinen Widerwillen gegen den Fremden so weit zu überwinden, daß ich den Trotz gegen ihn aufgab und mich ihm in mildern Formen näherte. ›Ich hoffe es von Ihrer Menschlichkeit, mein Herr,‹ sprach ich, ›daß Sie mir gestatten werden, meine Freunde wenigstens durch eine mündliche Botschaft zu benachrichtigen, damit sie nicht vergebliche Sorge um mich tragen.‹ – ›Ich kann nur meinen Auftrag vollziehen‹, antwortete er mit schneidender Kälte. – ›Und worin besteht derselbe? Hoffentlich werde ich doch erfahren dürfen, wohin man mich bringt.‹ – ›Der Augenschein wird es Sie zeitig genug lehren‹, lautete seine Antwort.«

»Ich will gestehen, ich hatte vor Zorn über diesen Elenden und aus Besorgnis um die Meinigen Tränen in den Augen. Mit Mühe bezwang ich meinen Unwillen so weit, daß ich mich nicht zu Dingen vergaß, die meine Lage nur verschlimmern konnten. In diesem Augenblicke trat einer der beiden Gendarmen ein und meldete halblaut, jedoch so, daß ich's hörte: ›Der Wagen ist schon auf der Fähre und wird jenseit der Elbe halten. Auch der Nachen ist bereit.‹«

»Auf diese Meldung gingen wir. Von jetzt an kennst du mein Schicksal; denn auf dem Wege, den wir einschlugen, wurdet ihr getreuen Freunde meine Retter.«

»Die wenigen Minuten, die wir auf deine Erzählung gewartet haben, sind nicht unnütz verflossen,« entgegnete Bernhard; »denn erst jetzt können wir einen Operationsplan entwerfen. Das größte Glück ist es, daß du dich nicht genannt hast; so soll ihnen das Nachforschen wohl vergehen, wiewohl es immer bedenklich bleiben wird, dich nach Dresden zu schaffen. Was in aller Welt aber können sie wollen?«

»Im ersten Augenblicke war ich durch die Verhaftung selbst zu aufgeregt, um ruhig nach den Gründen derselben zu forschen; jetzt aber hege ich allerdings eine Vermutung, doch kann ich dir darüber in diesem Augenblicke keine Auskunft geben. Vielleicht führt das Ganze aber nur zu meinem Glück, und auf die ungehoffteste Weise.«

»Nichts soll mir lieber sein als das,« entgegnete Bernhard; »einstweilen müssen wir aber auch anderer gedenken. Deine Schwester ist oben in einer sehr übeln Lage und deine Mutter drunten vielleicht in keiner bessern. Wir gingen hinab, um Nachricht zu bringen und die Wagen hinaufzusenden; dies müssen wir zuvörderst tun. Was dich selbst anlangt, so glaube ich, ist es am besten, du gehst von hier gerade hinauf und wartest ab, bis wir kommen. Droben magst du als Entschuldigung deines Ausbleibens angeben, es sei etwas an dem Wagen zerbrochen gewesen, dessen Ausbesserung sich von Minute zu Minute verzögert habe. Sprich auch, du seiest uns begegnet und wir hätten den Überrest der Besorgung übernommen, während du dich beeilt habest, die Nachricht davon heraufzubringen. Ich werde indessen unten alles einleiten und schlichten; auf keinen Fall aber erzähle ein Wort von deinem wirklichen Abenteuer. Und nun geleite dich Gott, denn wir haben keine Zeit zu verlieren.«

»O, meine Freunde!« rief Ludwig, »wie soll ich euch danken? Wer kann ermessen, welchem Unheil ihr mich entrissen habt.«

»Ei was,« rief Bernhard, »danke dem Zufall, aber nicht uns. Mir schießt bisweilen so ein Ding, was man im gemeinen Leben Ahnung nennt, durch die Seele, und das hat mich heute zu meinem eigentlich verrückten Handeln angetrieben. Schelten solltest du uns, wenn du nach der innersten Bedeutung der Handlung, nicht nach ihrem Erfolg richten wolltest. Denn falls man nicht wirklich so schurkenmäßig schlecht mit dir umging, falls deine Verhaftung nur, wie es uns doch am wahrscheinlichsten sein mußte, aus einem Mißverständnis oder doch aus einem ganz geringen Anlaß entstanden war, so konnte uns allen der unnötige Angriff auf die Gendarmen und die gewaltsame Rettung und Befreiung verteufelt schlecht bekommen und dich zehnmal tiefer in den Morast führen. Aber hinterdrein ist man klug. Indessen, eins muß ich sagen: eigentlich bleibt der Kunst die Ehre. Schwerlich hätte ich mein tolles Projekt ausgeführt, wenn ich nicht mit meinem Pinslerblick in deiner Physiognomie einige Linien erkannt hätte, die uns nicht von einer bloßen Verdrießlichkeit oder vom Unmut in die Stirn geschnitten werden. Trotz des unbestimmten Laternenschimmers aber hätte ich die Hostie darauf genommen, daß dir die Horizontal- und Vertikalstriche an dem Zentralpunkte der ganzen Physiognomie, nämlich an der Grenze zwischen Stirn und Nasenbein, von der Hand eines ernstlichen Unfalls eingezeichnet waren. Einen tüchtigen Meister kennt unsereiner sogleich an zwei, drei Schwungstrichen. Dem hast du's zu danken. Also: es lebe die Kunst! Und nun fliege frei wie ein Adler nach dem Gipfel dort oben hinauf, wo die Jungen ängstlich in dem Horst lauern. Glückliche Reise!«

Mit diesen Worten eilte er, Jaromir am Arm ergreifend, abwärts, ohne Ludwigs neu ausbrechenden Dank abzuwarten. »Meine beste Handzeichnung gäbe ich drum,« sprach er im Gehen zu Jaromir, »wenn uns die beiden Gendarmen begegneten und uns nach der Spur der zwei verteufelten Spitzbuben, von denen sie so völlig turnierwidrig aus dem Sattel gehoben worden sind, und nach ihrem entwischten Fang fragten. Ich wollte sie eher auf den Berg Sinai als auf den Gipfel des Porsbergs schaffen.«

Ludwig ging indessen aufwärts. Als er in die Nähe des Turmes kam, tönte ihm plötzlich ein »Wer da?« entgegen. Doch er erkannte schnell Rasinskis Stimme, der, abwechselnd mit Boleslaw, einen förmlichen Patrouillendienst versah. »Gut Freund!« rief Ludwig froh. »Endlich!« schallte es ihm entgegen, und Rasinski reichte ihm froh die Hand. »Wie wird Ihre Schwester sich freuen, die sich schon so um Sie geängstigt hat!« Gewissermaßen triumphierend führte er den Wiedergekehrten nach dem Turme zu, wo die Mädchen in banger Schweigsamkeit saßen, Marie jedoch halb lag, da der schmerzende Fuß ihr diese Stellung gebot. »Ludwig, bist du's endlich,« rief sie ihm entgegen, als sie seine Stimme hörte, und streckte die Hand nach ihm aus; »wie konntest du uns nur so lange in der bangen Sorge lassen!«

Ludwig entschuldigte sein Ausbleiben, der Verabredung mit Bernhard gemäß, so gut er konnte und verhieß den Mädchen eine nahe Erlösung aus dem seltsamen Gefängnis. »O, nun du bei uns bist und die Mutter von uns weiß, nun wollen wir gern ausharren,« antwortete Marie. Sie wollte ihn bitten, sich zu ihr zu setzen, doch er schlug es aus unter dem Vorwande, daß er ganz durchnäßt sei und daher lieber in Bewegung bleiben als sich setzen wolle. Die Hauptursache war aber die innere Unruhe, ob Bernhard eintreffen werde oder nicht; diese hoffte er besser zu verbergen, indem er mit den Männern draußen umherwandelte, denn der Regen hatte längst aufgehört.

Endlich nach einer, bangen halben Stunde hörte man Peitschenknall aus dem Walde und bald unterschied man auch das Geräusch der langsam heraufkommenden Wagen. Jetzt blinkte Laternenschimmer durchs Gebüsch und nach wenigen Minuten konnte man sich durch das Auge überzeugen, daß man sich nicht täusche. Jaromir kam zu Fuß voran und brachte die Nachricht, daß beide Mütter mit heraufkämen, damit man nachher einen bedeutenden Umweg ersparen könne. Gleich darauf rollte einer der Wagen heran; der Kutscher sprang gewandt ab, es war Bernhard. »Da sind wir,« rief er, »und zwar ich aus guten Gründen als Kutscher. Denn der eine der beiden Automedons hat sich so betrunken, daß er zu nichts zu gebrauchen ist. Wir haben ihn daher auf der Streu liegen lassen und ich war so frei, mich für den Erben seines Mantels zu erklären, da mein Wams bis auf den letzten Faden so naß ist, als wäre ich mit Odysseus um die Wette nach der Phäakeninsel geschwommen. Jetzt bin ich fast wieder trocken und nun magst du auch trocknen, Ludwig.« Damit nahm er den Mantel ab und hing ihn dem Freunde um, indem er ihm zugleich ins Ohr raunte: »Das ist deine Verkappung, man kann nicht wissen, was vorfällt. Du mußt uns auf dem Rückwege fahren; die Kutscher sind schon bestochen und wissen, was sie zu tun haben.«

Ludwig dankte durch einen unbemerkten Händedruck für die gewandten vorsorglichen Bemühungen des Freundes. Dieser war jedoch nicht dabei stehengeblieben, sondern darauf bedacht gewesen, in seinem Wagen einige Flaschen guten Weins und einen gehörigen Vorrat kalter Küche zu verpacken und mit hinaufzunehmen, damit man sich droben vor der Abfahrt ein wenig stärken könne und nicht nötig habe, in später Nacht wieder nach dem Wirtshause zurückzukehren, was Ludwigs halber gefährlich war. Als nach allen diesen guten Nachrichten und Anstalten nun endlich noch beide Mütter auf dem Berge eintrafen, die Bernhard durch das eigentlich falsche Vorgeben, daß man dadurch einen sehr bedeutenden Umweg ersparen könne, zu der nächtlichen Fahrt, die ihnen freilich ein wenig ängstlich erschien, beredet hatte, da war die letzte Sorge aus dem Herzen der drei Mädchen verschwunden und sie überließen sich nunmehr der heitersten Freude. Ja sie wurden sogar ein wenig stolz auf die romantischen Abenteuer des Tages und waren auch nicht die letzten, sich an den von Bernhard mitgebrachten guten Gaben zu erquicken.

Endlich schickte man sich zur Rückfahrt an. Sowohl Mariens Zustand, welche ihren Fuß ausstrecken mußte, als auch die späte Stunde ließen es schicklich erscheinen, daß die Frauen und die Männer gesondert fuhren. Überdies hatte Bernhard sehr gute Gründe, dies zu wünschen, denn im äußersten Falle war es immer besser, wenn alle Männer in einem Wagen beisammensaßen, zumal da auf diese Weise der Wagen der Frauen schwerlich irgendeinen Aufenthalt erfuhr. Dieser war der erste bei der Abfahrt und wurde von dem wirklichen Kutscher geführt, weil er des Weges und des Fahrens am kundigsten war. Als nunmehr die Männer unter sich waren, berichtete Bernhard in möglichster Kürze das ganze Abenteuer, wenigstens insoweit, um die seltsame Verkleidung Ludwigs als Kutscher zu erklären. Man gab sich das Wort, in der vollsten Übereinstimmung zu handeln, und Rasinski versicherte überdies, seine Uniform werde hinreichen, um für den Augenblick jede Gefahr abzuwenden. Ludwig drückte sich eine von Bernhard mitgebrachte Kutschermütze tief in die Stirn, hüllte sich dicht in den Mantel und schwang sich hinauf auf den Bock. Während des Fahrens setzte Bernhard die Verhältnisse vollends auseinander, so daß durch Mißverständnisse oder Unkunde auch nicht das mindeste mehr verdorben werden konnte.

Die Fahrt ging glücklich vonstatten. Man kam an die Fähre und setzte über die Elbe ohne Hindernis. Etwa die Hälfte des Weges mochte man zurückgelegt haben, als Bernhard zum Wagen hinaus Ludwig anrief und ihn anzuhalten bat.

»Es ist zwar ziemlich wahrscheinlich,« sprach er, »daß man dich gar nicht kennt; allein es ist doch nicht so ganz gewiß. Wie, wenn man dich im Hause deiner Mutter aufsuchte? Vorsichtiger wenigstens ist es, wenn du diese Nacht nicht dort zubringst und dich morgen noch versteckt hältst, bis wir das Terrain sondiert haben. Einen Vorwand dazu will ich schon finden; für den Augenblick rufe nur deinem Kollegen, dem ersten Kutscher, zu, daß er anhalte, dann wird sich das übrige leicht machen lassen.«

Ludwig tat, was Bernhard wollte. Jetzt stieg dieser aus dem Wagen, ging zu den Frauen heran und bat sie, es nicht übel zu nehmen, wenn man sie allein fahren lasse. Aber die Pferde des zweiten Wagens seien so ermüdet, daß sie nicht mehr von der Stelle wollten, und man daher notwendig eine Stunde anhalten und füttern müsse. Den Kutscher zog er beiseite, gab ihm ein Trinkgeld und sprach: »Sei unbesorgt, wir fahren in kurzer Entfernung nach, aber wir haben unsere Gründe, weshalb wir nicht mit den Frauen zugleich eintreffen wollen.« Der Kutscher murmelte ein »Schon gut«, setzte sich wieder auf den Bock und fuhr weiter.

Gleichsam als falle es ihm jetzt erst ein, lief Bernhard dem Wagen nach und rief in den Schlag hinein: »Noch eins! Da wir mutmaßlich viel später kommen als Sie, so wird Ludwig Sie nicht erst stören, sondern den Überrest der Nacht bei mir zubringen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er zu den Freunden zurück. »Nun ist alles in Ordnung,« rief er fröhlich, »jetzt haben wir uns vermummt und verlarvt, geharnischt und verpalisadiert dazu. Nun soll einer die Festung stürmen, belagern oder aushungern, ich denke, er wird mit seinem Volk an unsern Mauern verderben.«

Fünf Minuten später als die Frauen setzten auch die Männer ihren Weg fort, so daß sie sich immer in einiger Entfernung von jenen hielten, die indessen doch nicht groß genug war, als daß sie nicht im Notfall zu einem schleunigen Beistande hätten hinzueilen können.

Auf dem ganzen Wege begegnete ihnen nichts Verdächtiges; ungehindert erreichten sie das Tor von Dresden. Als sie hier einfuhren (die Frauen waren schon einige Minuten früher passiert), wurden sie jedoch angehalten. Ein Polizeioffiziant und ein Gendarm traten an den Wagen und fragten, woher man komme, wer man sei. Verabredetermaßen übernahm es Rasinski, die Antwort auf diese von Bernhard schon gemutmaßten Fragen zu erteilen. Die Uniform, der Stand des Grafen schienen den Fragern zu imponieren; sie traten einige Schritte zurück und sprachen leise miteinander. Bernhard, der sie nicht aus der Acht ließ, sah, wie ein dritter, der tief in einen Mantel gehüllt war, zu ihnen trat. Sein malerisch geübtes Auge für Faltenwurf wie für Trachten überhaupt erkannte mit ziemlicher Gewißheit Ludwigs Hauptfeind in dem Vermummten; man befand sich also in der Tat in einer sehr gefährlichen Lage. Rasinski beugte sich endlich ungeduldig zum Wagen heraus und rief: »Worauf haben wir noch zu warten? Es ist spät, man fertige uns rasch ab.«

Man zögerte noch einige Augenblicke, dann trat der Gendarm mit einer Laterne näher, leuchtete in den Wagen und sprach höflich: »Verzeihen Sie, mein Herr Oberst, aber wir sind beauftragt, einer Person, die von Pillnitz kommen muß, wegen einer höchst wichtigen Angelegenheit gleich hier am Tore eine Nachricht zu geben; ich habe also nur den Auftrag, zu sehen, ob sie sich unter den Herren hier befindet.« – »Mag der Teufel!« rief der Oberst. »Diese Herren sind meine Regimentskameraden, und jener dort ist mein Freund, und keiner von uns hat spät in der Nacht hier am Tore Nachricht zu erwarten. Lassen Sie uns in Ruhe! Vorwärts, Kutscher!«

Ludwig fuhr rasch davon, und man gelangte nun ohne weitere Gefährde bis an das Hotel de Pologne, wo Rasinski mit seinen beiden Offizieren wohnte. Dort sollte Ludwig die Nacht bleiben, während Bernhard es übernahm, den Wagen an Ort und Stelle zurückzubringen. Mit dem Frühesten wollte man dann fernere Verabredungen treffen.


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