Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Siebentes Buch.

Erstes Kapitel.

Die gewaltigen Erschütterungen, welche sich in einem so kurzen Zeitraume zusammengedrängt und Feodorownas Herz bestürmt hatten, müßten sie endlich, trotz der frommen Ergebung und sittlichen Fassung, womit sie ihrem Schicksale entgegentrat, überwältigen. Sie war aufs Krankenlager gesunken, ein heftiges Fieber glühte in den aufs äußerste gereizten Nerven; der Arzt hielt ihre Lage für gefährlich. Axinia wollte daher jetzt durchaus nicht von der Seite der teuern Gebieterin weichen, so bange Befürchtungen auch Paul und sie selbst über ihr eigenes Geschick hegten, wenn Feodorowna sterben sollte, ehe sie das Land verlassen hätten. Und um so weniger konnte Axinia sich von dieser Pflicht entbinden, da die Kranke sichtlich nur ihre Nähe und Wartung ertrug und sogleich in einen gereiztern und somit gefährlichern Zustand geriet, wenn eine andere Hilfe sich ihr zu nahen suchte. Am meisten war dies mit ihrer Mutter der Fall, da ihre Gegenwart Feodorowna mit einer Art von Schauder berührte, so daß sie in die heftigste Angst verworrener Fieberträume geriet, sobald dieselbe ihrem Lager nahte. In ruhigern Zeiträumen durfte Jeannette die erschöpfte Axinia ablösen; sowie aber der fieberhafte Zustand sich verschlimmerte, verlangte Feodorowna mit krankhafter Sehnsucht wieder nach Axinias Pflege. Fast ein Monat verstrich in dieser traurigen Weise. Da fing Feodorowna an sich langsam zu erholen, doch war sie so erschöpft von der Krankheit, daß ihrem Leben noch immer Gefahr drohte. Denn waren gleich nicht stürmische Anfälle des Fiebers mehr zu fürchten, so schien es doch zweifelhaft, ob der Körper noch Macht genug habe, sich von der zehrenden Ermattung zu erholen. Die milde Jahreszeit aber wirkte segensreich ein; der Juli mit seiner warmen Sonne, die selbst der nördlichen Erde einen reich grünenden Teppich entlockt, pflegte die geknickten Keime des Lebens zu einer neuen Blüte heran. Feodorowna genas, fast wider ihren Willen; und hätte nicht der tiefe, verschlossene Schmerz, der an ihrem Herzen nagte, seine Spuren leise um Wange und Lippe gezogen und den reinen Schimmer ihres blauen Auges leicht verschleiert, so würde die holde Gestalt wieder so lieblich aufgeblüht sein wie eine Rose, in der noch die Tropfen des vorübergezogenen Gewitters glänzen. Aber sie war nicht erfrischt durch die Ströme des Himmels, sie war nur geknickt durch seine Stürme.

Wer selbst duldet, hat ein zartfühlendes Herz für Wünsche und Leiden anderer. So erkannte Feodorowna, daß es jetzt ihre erste Pflicht sei, das letzte drohende Gewölk von dem Himmel Axinias zu verscheuchen und ihre Verbindung und Abreise zu beschleunigen. Gregor gab dem jungen Paare die kirchliche Weihe; an demselben Tage noch verließ es, reichlich beschenkt, das Schloß, um sich mitten durch das Getümmel des Kriegs hindurch eine Bahn zu friedlichem Glücke auf andern Fluren zu suchen.

Feodorowna stand nun ganz einsam; denn trotz ihres unermeßlichen Opfers, trotz der willigen Demut, mit der sie sich in das Gebot der Eltern gefügt hatte, blieb die Mutter doch völlig kalt gegen sie. Nicht einmal Mitleid schien sie für die Qual zu haben, welche Feodorowna um ihretwillen duldend trug. Es ist wahr, sie hatte sich niemals anders gezeigt und die innigste Liebe der Tochter auch in frühern Jahren höchstens mit einer vornehmen Freundlichkeit erwidert. Indessen war Feodorowna daran gewöhnt gewesen und hatte in diesen kalten Formen nur das Übergewicht des mütterlichen Ansehens erkannt und geehrt; jetzt aber fühlte sie, daß ein liebendes, aufopferndes Kind eines andern Mutterherzens bedürfe. So verwandelte sich auch ihre Liebe in eine bange Scheu der Ehrfurcht, und was in der Krankheit so stark hervorgetreten war, ließ jetzt wenigstens noch deutliche Spuren zurück; es ergriff sie fast ein unheimlicher Schauer, wenn sie sich in der Gegenwart derjenigen befand, bei der ihre wunde Brust Trost und Linderung hätte suchen sollen.

Ochalskoi und Dolgorow waren bei der Armee; doch in den ersten Tagen des August schrieb dieser, er werde binnen kurzem auf das Gut kommen, um die Vermählung Feodorownas mit dem Fürsten zu begehen, zu der nunmehr alles Notwendige vorbereitet war. Die Hindernisse, die bis dahin obwalteten, hatten besonders in den Familienverhältnissen Ochalskois gelegen, der einem alten Familienvertrage zufolge der Bewilligung einiger Verwandten bedurfte, bevor er sich verheiraten konnte. Da das Interesse derselben zum Teil im Spiele war, indem sie aus eigennützigen Absichten eine Verbindung des Fürsten mit einer nähern Verwandtin gewünscht hätten, so hatte es einige Mühe gekostet, ihre Einsprüche zu beseitigen, und war nicht ohne Aufopferungen von seiten Ochalskois möglich gewesen. Jetzt war ihm ein dreitägiger Urlaub bewilligt, um seine Verbindung zu schließen, worauf seine junge Gattin sogleich mit ihrer Mutter über Kaluga nach seinen Gütern in Asien abreisen sollte, damit sie ganz aus den unruhigen Gegenden des Kriegsschauplatzes entfernt würde. Es war dies gerade der Augenblick, in dem die große russische Armee sich aufs schleunigste nach Smolensk geworfen hatte, um nicht von dem französischen Kaiser umgangen zu werden. In der Nacht nach dem schon zum Teil angetretenen Rückzug derselben aus der Festung nach Moskau trafen Dolgorow und Ochalskoi auf dem Schlosse ein. Auf den folgenden Mittag war die Trauung durch Gregor angesetzt; die Feier der Brautnacht sollte nach Dolgorows Willen noch im Schlosse begangen werden. Am nächsten Morgen aber wollten alsdann die Männer wieder auf ihren Posten zum Heere abgehen, während die Frauen über Jelnia und Kaluga ihre Reise nach Ochalskois Gütern antreten sollten.

So war denn also der schreckensvolle Augenblick gekommen, wo Feodorowna den finstern Kerker sich öffnen sah, in dem sie ihr Leben verseufzen sollte. Selbst der schöne Trost, daß sie mit diesem Opfer ein fremdes Glück gegründet habe, wurde machtlos bei der nahenden Wirklichkeit. Tränen hatte die Arme nicht mehr zu vergießen; nur mit einem kalten Grauen blickte sie in die Zukunft. Alles vereinte sich, um den Tag zu einem fürchterlichen für sie zu machen. In der Ferne der dumpfe Donner des Geschützes aus der belagerten Festung; wenn sie in das Fenster ihres Gemaches trat, noch immer lange wilde Züge von Reiterscharen, welche als die letzten Teile der zurückziehenden großen Armee, über die Felder neben der eine halbe Stunde von dem Schlosse vorüberführenden breiten Landstraße nach Moskau verbreitet, dahinzogen. Der Anblick dieser Horden von Tataren, Baschkiren und Kosaken, die aus fern von der europäischen Kultur entlegenen Landschaften stammten; wo sie ihren künftigen Wohnsitz aufschlagen sollte, erfüllte sie mit einem düstern Grauen. »O warum habe ich schönere Länder, sanftere Sitten, edler gebildete Menschen kennen gelernt!« seufzte sie bang auf. »Glücklich war ich auch dort nicht; nur kurze schöne Träume webten sich gleich einem schnell verschwindenden Farbenbogen auf den dunkeln Hintergrund meines Lebens! Aber ich träumte einst holdselig! Und nun! Du sanft schimmernder Leitstern auf meinem dunkeln Pfade, der du so schnell wieder in der tiefen Finsternis verschwandest, du freundlich edle Gestalt, die mir einst eine so treue Hand gereicht, du Freund in bitterer Not, dem mein Herz ewig gehören wird – o zürne nicht über den Verrat, den ich jetzt an dir übe! Du bist der Lenker meines Lebens, sprach eine mächtige Ahnung, ein Gebot heiliger Dankbarkeit und Liebe in meinem Herzen; dir, rief ein hehres Wort göttlicher Bestimmung mir zu, dir ist mein Dasein geweiht! – Und doch war es eine Täuschung! Die Hand der Vorsehung, der ich vertraute, zerriß das Band; ein wilder Sturm verwehte die Bilder des schönen Traums, die Decke spurloser Nacht und Vergessenheit hüllt alles ein!« Jetzt flossen wieder sanfte Tränen aus Feodorownas Auge, weil sie der Tage gedachte, wo die holde Blume erster, einziger Liebe schüchtern die Knospe in ihrem jungfräulichen Herzen entfaltete. Ach, sie wurde grausam gebrochen, ehe sie erblühen konnte!

In gramvolles Sinnen verloren stand die unglückselige Braut am Fenster und blickte auf die öde Landschaft, welche von dem Getümmel des Kriegs durchs zogen wurde, in den blaßgrauen Himmel, durch den sich die dampfenden Wolken der Schlacht wälzten, hinaus. Plötzlich wurde sie leise von einer Hand berührt. Es war Jeannette mit dem Brautkleide über dem Arm; Feodorowna schauderte zusammen und seufzte aus erschöpfter Brust tief auf. Doch sprach sie keinen Laut der Klage aus; geduldig ließ sie sich schmücken wie ein Opfer, das zum Altar geführt wird.

Eben hatte Jeannette ihr den Kranz in die Locken gedrückt, als Ochalskoi eintrat, um sie zu begrüßen und hinüberzugeleiten in die Kirche, wo Gregor ihrer harrte. Wo die Notwendigkeit eintrat, fand Feodorowna Heldenstärke in ihrer großen Seele. Ernst, schweigend, doch ohne zu wanken, schritt sie an Ochalskois Arme die breiten Stufen hinab. Im Saale empfingen sie ihre Eltern und die versammelten Gäste. Es waren nur einige männliche Verwandten beider Familien, meist ältere Männer von höherm Range, und mehrere Generale, die als die Vorgesetzten Ochalskois geladen waren. Der Zug, das Brautpaar an der Spitze, bewegte sich nach der Kirche. Die Dorfbewohner waren zusammengeströmt und bildeten eine Gasse, durch die Feodorowna, mit wehmütiger Freundlichkeit ringshin grüßend, dahinschritt. Man hatte Blumen auf den Pfad gestreut; sie konnten den dunkeln Abgrund nicht verhüllen, den die Braut unter ihnen sich öffnen sah. Ernst waren selbst die Gäste und das Volk, denn ein Hochzeitsfest, wo sich in den frommen Klang der Kirchenglocken der nahe Donner der Schlacht mischt, wo tausend blutende Opfer im Hintergrunde fallen, während die Worte des Friedens und des Segens ertönen, ist kein freudiges zu nennen! Gregor sprach tief bewegt, ernst, tröstend; alles horchte in feierlicher Stille. In wenigen Minuten waren die kirchlichen Gebräuche vollendet, und der Zug nahm seinen Weg nach dem Schlosse zurück, wo ein Mittagsmahl die Gäste versammelte.

Während des Mahles dauerte der Kanonendonner fort, ja er wuchs noch. Die Gräfin Dolgorow wurde ängstlich und meinte, ob es nicht besser sei, bald aufzubrechen. »Wir sind hier in völliger Sicherheit,« begann einer der Generale, die sich bei der Tafel befanden; »Smolensk ist der Schlüssel dieser Straße. Solange dieses Tor nicht gesprengt ist, kann der Feind nicht weiter vordringen. Und überdies decken uns gegen kleine Neckereien noch immer starke Schwärme von Kosaken, die das Ufer des Flusses auf und ab schwärmend bewachen.«

»Ich wünschte doch,« sprach Dolgorow mit finsterm Blicke, »daß man ernstere Anstalten zum Widerstande hier getroffen hätte, wiewohl es mit meinen Familienplänen sehr übereinstimmt, daß es nicht geschehen ist. Denn ich hätte sonst schwerlich einen Tag gefunden, wo die Verheiratung meiner Tochter möglich gewesen wäre. Doch das Wohl des Vaterlandes steht mir höher, und diesem, glaube ich, wäre es angemessener gewesen, unter den vorteilhaften Umständen, die sich uns darboten, hier eine Schlacht anzunehmen. Ich kann mich, das gesteh' ich ganz offen, nicht mit den Ansichten des Feldmarschalls vereinigen, der immer nur im Rückzug sein Heil sucht.«

»Gewiß keiner von uns«, erwiderte, der General entschieden. »Wäre Graf Barclay de Tolly ein geborener Russe, so würde er die Schmach unsers Vaterlandes auch nicht so geduldig ertragen. Doch hier, wo ich nur echte Russen beisammen sehe, kann ich wohl im Vertrauen ein Wort sprechen. Ich glaube, es wird die längste Zeit so gewährt haben; man spricht davon, daß der Kaiser den dringenden Vorstellungen aller Stände und der höchsten Staatswürdenträger endlich nachgegeben und sich entschlossen habe, einem andern den Oberbefehl zu übergeben.« »Dem Fürsten Bagration?« fragte Dolgorow rasch. – »Ich sollte ihn noch nicht nennen,« entgegnete der General; »doch ist es ein edler, würdiger Russe. Man ist bereits in Unterhandlung mit ihm getreten. Einem Waffengefährten Suworows wird es aufbehalten sein, Rußlands alten Ruhm zu erneuern.« – »So ist es Fürst Kutusow und kein anderer«, sprach Ochalskoi feurig. »Dem würdigen Greise, er werde unser Feldherr oder nicht, sei dieses Glas dargebracht!« Zugleich stand er auf und erhob das vor ihm stehende angefüllte Kelchglas; alle Männer folgten seinem Beispiele und stießen an. »Möge unser Führer sein, wer er wolle,« sprach Dolgorow mit lauter Stimme, »wir wollen unsern Trinkspruch so fassen, daß er immer einem Würdigen gelte: Dem Sohne Rußlands, der die Schmach des Vaterlandes blutig rächt!« – »Er lebe!« riefen die Männer und klangen mit den Gläsern an.

Die Gräfin Dolgorow stand auf; in ihrem Auge glänzte ein ungewohntes Feuer, die sonst so kalten Züge belebten sich. »So will auch ich alter vaterländischer Sitte gedenken,« sprach sie, »und du, Feodorowna, folge meinem Beispiele.« Bei diesen Worten nahm sie den Schleier von ihrem Haupte, zerriß ihn und verteilte ihn an die ihr zunächstsitzenden Männer. Auch die Braut nahm den Schleier, unter dem sie bisher ihr duldendes Antlitz zu verhüllen gesucht hatte, vom Haupte. Ein jungfräuliches Erröten überflog ihre Wange, als sie ihn zerriß und verteilte. »Nehmen Sie, mein Gemahl,« sprach sie mit versagender Summe, »dies Andenken Ihrer zurückbleibenden Gattin mit in den Kampf; nehmen auch Sie es, würdige Helden meines Vaterlandes! Möge es Sie in ernster Stunde daran erinnern, daß Ihre Tapferkeit den edeln Beruf hat, Rußlands Töchtern das Heiligtum weiblicher Unverletzbarkeit zu erhalten, und daß Ihrer der gerührteste Dank harrt, wenn Sie, mit Lorbeeren geschmückt, uns dereinst dieses Zeichen der Weihe zum Kampf, das Frauenhände Ihnen reichten, von edeln Tropfen vaterländischen Blutes verschönert zurückbringen.«

Feodorowna senkte das schöne Auge auf den Boden, als sie die Worte zu dem alten Krieger sprach, der den Ehrenplatz zu ihrer Rechten eingenommen hatte. Dieser aber ergriff ihre Hand, küßte sie feurig und erwiderte: »Mit einem Angedenken aus solcher Hand geht man der Schlacht so freudig entgegen wie dem Hochzeitsfeste. Bald hoffe ich, schöne Fürstin, dieses Zeichen, mit echt russischem Blute geschmückt – denn darauf würde ich stolz sein – zurückbringen zu können, damit ihr es, wie es die Sitte unsers Vaterlandes will, einlöset.« Ein höheres Rot färbte Feodorownas Wange, denn die Erlaubnis, dreimal die frischen Lippen der Frau oder Jungfrau zu küssen, deren Weihezeichen man so gefärbt zurückbrachte, durfte dem tapfern Sohne des Vaterlandes, nach altem Herkommen, von keiner Tochter aus Ruriks Stamme verweigert werden. Ein Gebrauch, der, längst aus der Tagessitte verschwunden, doch noch in geschichtlicher Überlieferung aufbewahrt wurde und den man jetzt wieder ins Leben rief. Denn bei großen Wendepunkten ihres Schicksals pflegen die Völker sich ihrer alten Gebräuche, ihrer väterlichen Sitten, ihrer Helden, ihrer Geschichte lebendiger und dankbarer wieder zu erinnern; oft nicht ohne innern Vorwurf, daß sie so lange, gewissermaßen treulos gegen würdige Vorfahren, des heilig Überlieferten vergessen haben.

Der Abend brach an, als die Tafel aufgehoben wurde und die Gäste sich in die anstoßenden Zimmer verteilten. Mit qualvoller Beängstigung sah Feodorowna die Stunde näher und näher rücken, in der sie, ihrem Gatten allein gegenüber, den letzten schauerlichen Kampf mit ihrem Herzen zu bestehen haben würde. Da nahte sich ihr Jeannette, in einem Augenblicke, wo sie, getrennt von der Gesellschaft, im Nebenzimmer etwas an ihrer Kleidung ordnete, und berichtete ihr, Gregor sei auf ihrem Gemach und verlange dringend sie zu sprechen. Wie gern eilte Feodorowna, den Wunsch des so geliebten, würdigen Greises zu erfüllen! Ach, ihr ganzes Herz drängte sich zu ihm hin, denn von ihm allein hoffte sie Trost und Stärkung für die schwere Prüfung, der sie entgegenging, Sie fand ihn auf ihrem Zimmer; ernster als gewöhnlich war der Ausdruck seiner Züge. »Meine Tochter,« redete er sie an, »die Stunde ist gekommen, wo ich von wichtigen Dingen zu dir zu reden habe. Du bist nun unwiderruflich die Gattin des Fürsten Ochalskoi, denn der segnende Spruch der Weihe hat euch vereint. Der Tod allein kann dies Bündnis trennen.«

»O mein teuerer Vater,« unterbrach ihn Feodorowna, »ich weiß es; aber ich werde in meiner Pflicht nicht wanken. Ihm, dem mein Wort, wiewohl mit widerstrebendem Herzen, mich zugesagt, werde ich treu und ergeben sein bis an das Ende meiner Tage. Ach, ich hoffe, es wird so fern nicht sein! Überwältigt von Schmerz lehnte sie das müde Haupt gegen die Brust des greisen Mannes.

»Es ist nicht das, wovon ich sprechen will, liebe Tochter,« entgegnete Gregor sanft, »denn der Kraft deiner Tugend bin ich sicher. Ich kam, dir ein Geheimnis zu offenbaren, das deine Pflegerin Ruschka, sterbend, in der letzten Beichte in mein Ohr niedergelegt, und das sie, sollte der Tod auch mich abrufen, diesen Papieren anvertraut hat. Ich hatte ihr bei meinem priesterlichm Eide gelobt, es dir erst dann zu entdecken, wenn deine Vermählung vollzogen sei. Es ist geschehen, jetzt darf ich meine Lippen öffnen. Du bist nicht die Tochter Dolgorows, keine Eingeborene dieses Landes; Deutschland ist dein Geburtsland, aber deine Eltern sind längst dahingegangen. Graf Dolgorow nahm dich an Kindes Statt an, weil seine Gemahlin ihm keine Hoffnung gab, Vater zu werden. Dies sind die Bildnisse deiner Eltern, die mir Ruschka übergeben.« Mit diesen Worten übergab er Feodorowna einen Brief und ein geöffnetes Taschenbuch mit zwei Bildnissen, eine junge Frau und einen Offizier darstellend.

Mit starren, staunenden Blicken, bebend, fast regungslos stand Feodorowna vor Gregor und versuchte vergeblich zu sprechen; halb bewußtlos nahm sie, was ihr Gregor darreichte, und legte es auf den Tisch vor ihrem Sessel. Endlich brachte sie, indem sie die gefalteten Hände krampfhaft gegen die Brust drückte, wie mit einem Schrei der Angst die Worte hervor: »Nicht ihre Tochter! Und dennoch – o allmächtiger Gott!« – »Fasse dich, meine Tochter,« erwiderte Gregor sanft, »wende dein Herz fromm zu Gott, der die Geschicke der Menschen wunderbar leitet. Ich habe dir das Wichtigste, das Notwendigste entdeckt. Lies diese Papiere durch, und du wirst das übrige erfahren. Ich verlasse dich jetzt! Laß erst den gewaltigen Sturm sich beruhigen, der jetzt alle Wogen in deiner Brust emporschwellt. Wenn du allein bist, wirst du dich selbst wiederfinden. Bedarfst du dann meiner, so sende zu mir.« Mit diesen Worten verließ der Greis das Gemach; Feodorowna vermochte ihm nichts zu erwidern, mühsam schwankte sie einem Sessel zu und stützte das schwere, von dem unerwarteten Schlag betäubte Haupt in beide Hände. Es dauerte lange, ehe sie die Papiere, die ihr das Geheimnis ihres Lebens enthüllen sollten, zu entfalten vermochte. Die Bildnisse ihrer Eltern lagen vor ihr; sie sah mit unverwandten Blicken darauf hin, doch die strömenden Tränen verdunkelten ihr Auge. Endlich löste sie die fünf Siegel des an sie gerichteten Briefes und las, was Ruschka mit eigener, vor Alter zitternder Hand geschrieben.

»Mein teuerstes Kind! Solange ich lebe, band ein strenger, fürchterlich erpreßter Eid meine Zunge; bin ich dahin, so soll noch aus meinem Grabe meine Stimme erschallen, um Dir die Geheimnisse zu entdecken, die Deine Jugend umschwebt haben. Du bist nicht die Tochter Dolgorows, noch der Gräfin. Wenige Tage warst Du alt, als sie Dich in Deutschland nach dem Tode Deiner Mutter an Kindes Statt annahmen. Der Graf war damals schon vier Jahre vermählt; er hatte die Hoffnung, Vater zu werden, aufgegeben. Die Leere einer kinderlosen Ehe, noch mehr aber die Lust, fremde Länder kennen zu lernen, hatte ihn bewogen, große Reisen zu unternehmen. Im Mai des Jahres 1793 befand er sich zu Pyrmont; hier lernte er Deine Mutter kennen, die als Witwe mit ihrem fünfjährigen braunlockigen Knaben, namens Benno – Du warst noch nicht geboren –, dahin gekommen war, um ihre zerrüttete Gesundheit herzustellen. Sie hieß Luise Waldheim; ihr Gatte war Offizier gewesen und in einem Duell erschossen worden. Dadurch plötzlich in eine mehr als beschränkte Lage geraten, kränkelnd der Geburt eines zweiten Kindes entgegensehend, schön, sanft, erregte sie trotz ihrer tiefen Zurückgezogenheit doch bald die Aufmerksamkeit einiger reichern Badegäste. Die Gräfin Dolgorow, welche das mittlere Stockwerk des Hauses gemietet hatte, in dem Deine Mutter ein kleines Zimmerchen bewohnte, machte ihr den Antrag, als Gesellschafterin zu ihr zu ziehen und dabei zugleich die Pflicht zu übernehmen, den Grafen und sie selbst in der deutschen Sprache zu unterrichten, welche beide damals aufs gründlichste zu lernen sich bemühten. Deine Mutter nahm den Antrag, der sie ihrer dringenden Not entriß, an; drei Monate später, als wir Pyrmont schon verlassen hatten und auf einer Reise nach der Schweiz und Italien begriffen waren, wurdest Du geboren. In einem einzeln stehenden Wirtshause unweit Freiburg, mitten im Schwarzwalde, hast Du das Licht der Welt erblickt. Der Graf wollte anfangs, als die Niederkunft Deiner Mutter herannahte, sie den redlichen Leuten daselbst übergeben, mich zurücklassen und die Reise mit der Gräfin allein fortsetzen, bis wir ihm nachfolgen könnten. Doch ein leichtes Unwohlsein der Gräfin selbst bestimmte ihn, unsere Einsamkeit zu teilen, bis Deine Mutter völlig genesen sei. Allein es geschah nicht; am elften Tage nach Deiner Geburt starb sie. Ich war ihre Pflegerin in den letzten Stunden ihres Lebens; sterbend empfahl sie mir die Sorge für ihre Kinder und übergab mir ihr ganzes kleines Vermächtnis für Euch. Darunter war ihr eigener und ihres Gatten Trauring. Gleich nach der Bestattung bemerkte ich, daß der Graf mit einem wichtigen Plane umgehen mußte. Er schloß sich mehrmals mit der Gräfin ein und hatte lange, oft sehr heftige Unterredungen mit ihr, und häufig sprach er, wenn ich zugegen war, englisch, welches ich nicht verstand; nur bemerkte ich, daß Du der Gegenstand des Gesprächs sein mußtest, weil beide Dich oft mit seltsamer Aufmerksamkeit betrachteten. Einige Tage darauf verabschiedete der Graf die beiden deutschen Bedienten, die er bei sich hatte, unter dem Vorwande, daß er in Italien sich Eingeborene zu Dienern wählen wollte, gab ihnen Reisegeld und ließ sie in ihre Heimat zurückkehren. Endlich rief er mich eines Morgens zu sich und erklärte mir; er habe die Absicht, Dich als seine Tochter anzunehmen. Natürlich war ich sehr erfreut darüber, denn das Schicksal der beiden Kinder hatte mich sehr beunruhigt; allein meine Freude wurde zur tiefsten Betrübnis, als er mir erklärte, für den Bruder werde er auf andere Weise sorgen, da es durchaus verschwiegen bleiben müßte, daß die Gräfin nicht die rechte Mutter des Kindes sei. «So sollen die Geschwister getrennt werden?» rief ich erschrocken und erstaunt aus. «Es wird kein Unglütk für diejenigen sein, die einander niemals gekannt haben», entgegnete der Graf streng. Ich schwieg bestürzt. Er aber fuhr fort: «Du bist die einzige, die um das Geheimnis weiß; aber ich fordere von dir, daß du einen Eid auf die geweihte Hostie schwörst, es niemals zu entdecken. Weigerst du dich, so erinnere dich, daß du und deine Brüder Leibeigene sind und daß ich mit einem Worte euch wieder in den tiefsten Stand der Unterwürfigkeit zurückschleudern kann.» Diese Drohung war fürchterlich Meine Brüder waren durch die Gunst des alten Grafen, des Vaters Deines Pflegevaters, zu wohlhabenden Kaufleuten in Moskau geworden. Aber der Stolz der russischen Großen, reiche Leibeigene zu besitzen, war Ursache,daß er ihnen, so wohl er ihnen sonst wollte, dennoch ihre Freibriefe nicht gegeben hatte. Ich wußte, welch ein schreckliches Los ihrer und meiner harrte, wenn ich den Eid verweigerte. Da überdies des Grafen Entschluß Dein Glück entschied da ich bedachte, daß Du an einem Bruder, den Du niemals gekannt, nichts verlieren könntest, endlich da er mir auf mein Bitten versprach, für den Knaben großmütige Sorge zu tragen, so,entschloß ich mich, seinem Willen nachzugeben Doch jetzt in der Stunde meines herannahenden Todes, wo ich Dich, mein liebstes Kind, fern von mir weiß, jetzt erst befällt es mich mit schwerer Gewissensangst, daß ich Dein treu liebendes Herz mit einer ewigen Lüge verwirren soll. Ich weiß, welche Ursachen den Grafen bestimmten, Dich für seine Tochter zu erklären. Die Gräfin konnte einen bedeutenden Teil ihrer Güter nur dann erben, wenn sie Mutter war. Es war nicht Liebe, es war Eigennutz, der beide diesen Plan entwerfen ließ. Erst vor zwei Jahren, kurz vor seiner Abreise nach England, ist ihr diese Erbschaft zugefallen, die nur eben hinreichte, des Grafen, durch Hang zu einem seine Kräfte übersteigenden Aufwand zerrüttetes Vermögen herzustellen. Jetzt denkt er, durch Dich, deren Schönheit und Engelgüte jedes Herz gewinnen müßte, einen reichen Eidam zu gewinnen. Du bist in dem Stande der Vornehmen, der Reichen erzogen, Du hast die Vorteile einer freien Geburt gewonnen! O Liebe, sie sind unermeßlich! Erfährst Du das Geheimnis Deiner Geburt zu früh, so kannst Du sie verlieren Darum soll es Dir erst mitgeteilt werden, wenn Dir, als Gattin eines freien Russen, für ewig die Rechte Deines Standes gesichert sind. Dem frommen Vater Gregor habe ich gebeichtet, was meine Seele drückte; ich vertraue es diesem Papier an, damit er es in der Sakristei aufbewahre, es vernichte, wenn Du unvermählt dahinstirbst, und es Dir übergebe, wenn niemand Dir das, was Du mit dem Verluste eines Brüders gewonnen, entreißen kann.«

Feodorowna mußte das Blatt aus der Hand legen, da ihre Tränen sie hinderten weiterzulesen. Doch trieb eine hastige Ungeduld, mehr und vor allem das Schicksal ihres Bruders zu erfahren, sie bald wieder aus ihrer Ermattung auf.

»Nachdem ich den Eid geleistet, den Dolgorow von mir gefordert, verließ ich sein Gemach. Der kleine fünfjährige Knabe, Dein Bruder, sprang mir fröhlich, aber leise entgegen und zeigte mit seinem Fingerchen auf die Wiege, um mir bemerklich zu machen, wie Du so ruhig schlummertest. Jetzt gedachte ich der beiden Ringe. Eine dunkle Ahnung, von der ich mir selbst nicht Rechenschaft zu geben wußte, trieb mich an, dem Knaben wenigstens dies eine Andenken zu sichern. Ich nahm schnell sein Sonntagskleidchen und nähte den einen Ring im Gürtel desselben fest. Wohl mir, daß ich es getan; denn wenige Minuten nachher trat der Graf ein und hieß mich den Knaben ankleiden, weil er mit ihm ausfahren wolle. Ein bedeutsamer Blick sagte mir, was er vorhabe. Ich vollzog den Befehl unter Tränen. Der Knabe begriff nicht, weshalb ich weinte, sondern freute sich nur auf die Spazierfahrt. Seine Ungeduld, ja sein Ungestüm – denn er war ebenso wild und heftig als gutherzig – konnte den Augenblick, wo er mit dem Grafen einsteigen sollte, gar nicht erwarten. «Mich drückt hier etwas», rief er unwillig, als ich ihm das Kleidchen zuknöpfte, und griff nach dem eingenähten Ringe. Besorgt, daß er selbst auf diese Art verraten könne, was ich getan, schnitt ich schnell mit der Schere eine eingenähte Falte in dem Röschen auf, damit die Spannung nachließe. Hätte der Graf mein Geheimnis entdeckt, es würde mir übel gegangen sein. Doch ich konnte es nicht unterlassen. Zu meinem Erstaunen sah ich, daß der Reisewagen des Grafen mit Postpferden bespannt wurde. Einige Minuten später stieg er mit dem Kinde ein, und ich habe es seitdem niemals wiedergesehen. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht, denn am nächsten Morgen fuhr ich, mit der Gräfin und Dir, dem, wie es hieß, vorangereisten Grafen nach. Nach drei Tagen trafen wir ihn erst in Köln wieder. Er schwieg, ich wagte nicht zu fragen. Von dort gingen wir nach Holland und dann nach England, weil die Zeitereignisse es gefährlich machten, nach Italien zu reisen. Nach drei Jahren erst kehrten wir nach Rußland zurück, und Du galtest nun für die Gräfin Feodorowna Dolgorow und wurdest als solche erzogen. Der Ring, den ich Dir, teuerstes Kind, bei meiner Abreise gab und Dich so dringend bat, ihn ja nicht zu verlieren, sondern stets zu meinem Andenken zu tragen, ist der Trauring Deiner Mutter. Durch ihn kannst Du dereinst vielleicht Deinen Bruder wiederfinden. Mehr weiß ich Dir nicht zu entdecken. Ich beschwöre Dich aber, bewahre diese Geheimnisse treu und entdecke sie auch nicht Deinen Pflegeeltern, denn ich fürchte sie nehmen Rache an meinen noch lebenden Brüdern. Niemand als Du und der fromme Vater Gregor wissen darum, und ihm bindet das heilige Geheimnis der Beichte auf ewig die Lippen.

»Nun lebe wohl, mein holdes Kind. Vergib mir, was ich an Dir verbrochen, um der Liebe willen, die ich für Dich gehabt. Möge es Dir so glücklich auf dieser Erde ergehen, wie Du gut und schön bist, dann wirst Du nicht so viel Tränen vergießen, wirst nicht so viel angst- und kummervolle Nächte zubringen, als ich in meinem Leben verseufzt habe. Deine alte, treue, siebzigjährige Pflegerin

Ruschka.«


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