Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Sechstes Kapitel.

In dichten Scharen strömten die Krieger, die die letzte Schlacht gefochten hatten, von den Bergen herab. Da sie die Brücke und die Ufer umher von den Flüchtlingen so überschwemmt sahen, daß es unmöglich war, sich hier die Bahn zu brechen, wandten sie sich weiter stromaufwärts, um schwimmend oder eine Furt durchwatend das jenseitige Ufer zu erreichen. Diese Flut bedrohte auch den Zufluchtsort, den Bernhard aufgespürt hatte. Ludwig bemerkte es zuerst und trieb an, jenen voran, weiter gegen die Quelle des Stroms hinaufzuflüchten. Es geschah in stürzender Eile, soviel die von Angst und Qualen erschöpften Kräfte der Frauen es vermochten. Doch auch hier war die Natur feindlich gesinnt, denn der Sturm tobte ihnen entgegen und jagte ihnen den aufgestäubten Schnee ins Angesicht. Viele, die an der Rettung über die Brücken verzweifelten, folgten ihnen, und so zog sich auch dahin eine dichte, strömende Schar. Von der Höhe herab fluteten die aus der Schlacht zurückkehrenden Reiter, Fußvolk, Wagen und Kanonen durcheinander. Bald mischten sich beide Ströme, und jetzt erneuten sich die Schrecken des wilden Dranges. Bernhard rief Ludwig zu: »Folge mir; immer aufwärts nach den Höhen laß uns kämpfen; wohin niemand sich retten will, da ist unser Heil zu suchen.«

Sie mußten so den Strom der Flüchtlinge durchschneiden und hatten daher einen gewaltigen Kampf zu bestehen; keuchend, atemlos, fast von den letzten Kräften verlassen, erreichten sie endlich doch die Grenze des Gewühls. Eilig schritten sie über einen glatten Abhang hin; da lauerte das Schicksal noch einmal tückisch auf. Zwei Kanonen kommen von der Höhe herab, sie geraten auf die eisige Abdachung; die Pferde gleiten, sie drohen zu stürzen. Nichts kann mehr retten als ein blindes Fortstürmen. Von Peitschenhieben und tobendem Zuruf gejagt, brausen die Rosse vollen Laufs hinab und stürzen gerade auf Bernhard an. Dieser will, Jeannetten mit sich reißend, zur Seite springen; doch es ist zu spät. Die vordersten Rosse fassen ihn und schleudern ihn samt dem Mädchen zu Boden, und über ihn hin geht der zermalmende Weg der Räder. Mit einem lauten Schrei fällt Bianka auf die Knie, flehend erhebt sie die Arme und ruft: »Auch über mich nehmt euern Weg, Unmenschliche, zermalmt auch mich!« In ihrem sinnverwirrenden Schmerz will sie sich den Pferden in die Bahn werfen; doch Ludwig umschlingt sie mit der Angst der Liebe und reißt sie zurück an sein Herz; betäubt sinkt sie mit ihm zu Boden; das Gespann braust mit betäubendem Rasseln dicht an ihr vorbei, die Sinne schwinden ihr, sie liegt in starrer Ohnmacht.

Endlich dringt ein sanfter Laut zu ihrem Ohr: »Schwester, o meine Schwester, erwache«, tönt Bernhards Stimme. Sie schlägt das Auge auf, Bernhard kniet unversehrt vor ihr und breitet seine Arme gegen sie aus. »O du Allbarmherziger,« ruft sie aus und sinkt an das Bruderherz; »blickt denn dein behütendes Auge hinab bis in diese Schlünde des Entsetzens?« In seligen Tränen strömt ihre Liebe, ihr Schmerz, ihre Angst, vergessen ist aller Jammer, vergessen, womit die Zukunft droht.

»Also hat es kein Opfer gekostet?« fragte sie noch einmal und will Bernhards Lippen mit süßen Küssen versiegeln. Doch ernst hält er sie zurück und spricht: »Eins hat dennoch geblutet, obwohl der Himmel das Verderben von mir abgewendet hat. Jeannette fand den Tod; ihre Treue soll wie die unsers Willhofen nur jenseits ihren Lohn finden.« – »Jeannette tot!« rief Bianka mit bebender Stimme. »O,« sprach sie nach einigen Augenblicken in beklemmtem Schmerzgefühl; »wenn hier alles vernichtet wird, sollen wir es denn ein Glück nennen, allein zu entrinnen? Aber wo ist sie?« – »O, verlange sie nicht zu sehen,« bat Bernhard und wollte sie hindern, sich umzuwenden, denn der Leichnam lag hinter ihr; »sie starb zu schrecklich.«

Doch schon war es geschehen. Bianka hatte, den Blutspuren mit den Augen folgend, den Leichnam schon erblickt; sie schrie laut auf und fuhr zuckend zusammen bei dem schaudervollen Anblick desselben. Das Rad war über Stirn und Brust gegangen und hatte das blühende jugendliche Antlitz gräßlich gequetscht und zerrissen. Noch drang das Blut in dunkeln Strömen hervor und mischte sich mit den blonden Locken, die aufgelöst und zerstreut von dem Haupt der Unglücklichen herabwallten und über dem Schnee ausgebreitet lagen. »Ach, ich muß sie dennoch sehen,« bat Bianka zu den sie zurückhaltenden Männern; »ich muß noch Abschied von ihr nehmen, wie schaudernd sie auch entstellt ist; so weichlich ist mein Herz nicht, daß ich dieses Gefühl nicht um der Pflicht der Liebe willen überwinden sollte. Sie hat ja mir ihr jugendliches Leben geopfert! O, leitet mich zu ihr!«

Bernhard und Ludwig nahmen sie in die Arme und führten sie zu der Entseelten. Ludwig trug auch das Kind, an dem, als sei es von Engelsfittichen geschirmt, bis jetzt noch alle Schrecken, ohne es zu versehren, vorübergegangen waren. Der Strom der Menge ringsumher hatte sich verloren, doch weiter unten und zurück tobte und drängte er noch; nur von fernher drang das verworrene Brausen der Stimmen herauf. Selbst die Kugeln reichten nicht bis auf diese Stelle, obwohl der Donner der Geschütze noch immer den Boden erschütterte. So waren sie denn einsam mit ihrem Schmerz und dem bangen Grauen ihrer Seele; aber dennoch, trotz alles Jammers, im Tiefsten dankbar bewegt, daß die stürmende Wut des Verderbens wenigstens die heiligsten Bande der Liebe verschont hatte. Schweigend stand Bianka, auf die Arme ihrer Führer gelehnt, vor der nun Entschlummerten, und ihre Tränen flossen leise. »O, wenn du ihr das Haupt umwenden könntest, Bernhard,« bat sie diesen, »dann sähe ich vielleicht noch einmal ihre freundlichen Züge.« Bernhard tat es; zugleich verhüllte er die blutenden zerschmetterten Stellen in das Gewand und bedeckte die Stirn mit einem Teil der Locken, die noch nicht von Blut genetzt waren. Bianka hatte recht gehabt, nur die linke Seite des Hauptes war so fürchterlich zerrissen, die rechte zwar ein wenig krampfhaft verzogen, doch noch unversehrt genug, um an das Bild der Lebenden zu erinnern.

Mit Rührung beugte sich Bianka über die Tote hinab und sprach: »Wie sanft sie aussieht; so freundlich, wohlwollend und milde war auch ihr Herz!« – »Und das liebe Wesen muß so rauh von der Keule des Geschicks zerschmettert werden!« setzte Ludwig hinzu, indem er Biankas Hand küssend drückte und sie an seine Brust zog. – »Freilich,« warf Bernhard hin, »hier wird keinem sanft gebettet; wer den Tod nur hier gesehen, wird ihn nicht wie die Alten als Genius mit der umgekehrten Fackel bilden. Selbst unser Beingerippe ist noch zu freundlich; er ist ein eherner Zyklop, der unter seinen Füßen und mit seiner Keule alles zerstampft und zermalmt. Doch wie heilig die Pflichten der Liebe und Trauer sein mögen, wir können nicht länger bei ihnen verweilen. Seht, dort oben an der Höhe zeigen sich schon wieder schwarze Massen; Russen oder Franzosen, gleichviel, hier ist alles Feind, denn die Menge verderbt sich untereinander. Laßt uns eilen, dort um die Krümmung des Ufers zu kommen, ob wir vielleicht weiter aufwärts eine Hütte oder ein Dorf finden, das uns Obdach gewähre.« Er wollte die Schwester fortziehen, doch sie bat: »Nur eine Locke laßt mich entnehmen von ihrem Haupt!« – »Gern,« antwortete Bernhard, indem er ihr zugleich eine kleine Schere aus seiner Brieftasche darreichte und ein Blatt herausriß, um das Haar einzuwickeln; »doch beeile dich, Schwester.« Sie kniete auf den Schnee nieder, schnitt eine schöne Locke aus dem reichen blonden Haar, rollte sie auf und barg sie wohlverwahrt in ihrem Busen. Dann drückte sie einen schmerzlichen Kuß auf die blasse Wange des Mädchens, benetzte sie noch einmal mit ihren Tränen und hauchte ihr ein lispelndes »Schlummere süß« zu.

Mit hastiger Eile setzten sie jetzt ihre Flucht fort, den Strom aufwärts. Eine starke Biegung desselben brachte ihnen die Brücke und das Getümmel daselbst völlig aus dem Gesicht, und sie hörten nichts mehr als den dumpfen Donner der feindlichen Kanonenschüsse; sonst umgab ihren Pfad schauerliche Wintereinsamkeit. Zur Linken schoß die schollentreibende Beresina dahin, zur Rechten begleiteten sie die Höhen, von denen der Sturm, der ihnen kalt, daß Angesicht und Hände erstarrten, entgegenbrauste, den Schnee stäubend aufjagte. Und dennoch war diese rauhe Winterwüste ein freundlicher Zufluchtsort gegen die Stätte der gräßlichen Verheerung, der sie entflohen.

Allein es mußte sich bald ein Obdach zeigen, sonst versagten ihnen die Kräfte, denn Bianka war aufs äußerste erschöpft. Bernhard hielt ihre Hoffnung damit aufrecht, daß Weselowa nicht mehr entfernt sein könne. Wenn sie dort auch nur Russen fanden, so war ihre Rettung gesichert, da Bianka sich nach Bernhards Anweisung für eine vor den Franzosen geflüchtete Russin, und ihn und Ludwig für ihre ausländischen Hausbeamten ausgeben sollte. Fanden sie Franzosen, so war es an den Männern, von diesen Hilfe und Rettung zu gewinnen. Über eine Stunde hatten sie jetzt die Wanderung fortgesetzt, und noch immer wollte das ersehnte Weselowa nicht sichtbar werden. Da machte Ludwig Bernhard aufmerksam darauf, daß auf der Höhe, rechts, sich einzelne Reiter zeigten. Bernhard mit seinem schärfern Auge rief sogleich: »Das sind Kosaken; ich erkenne sie an den Lanzen; wenn uns diese habsüchtigen Gäste hier überfielen, so würde uns schwerlich etwas vor der Plünderung retten. Dem Beutegierigen ist es gleich, ob er den Landsmann oder den Feind beraubt, wenn er es ungestraft vermag. Wir wollen uns hier unten so dicht am Ufer hinschmiegen als möglich.« Dies geschah in größter Eile, doch es war vergeblich, denn schon hatten die Reiter sie bemerkt und sprengten ihnen, wie es schien, verfolgend nach. Abermals machte der Fluß eine Biegung, die sie glücklicherweise den Verfolgern aus dem Gesicht brachte; zugleich sahen sie in der Ferne die beschneiten Dächer Weselowas vor sich und hatten so die Rettung im Angesicht.

Doch Biankas Kräfte waren durch die Anstrengung dieser letzten Eile völlig erschöpft, sie sank auf die Knie und rief: »Ich vermag nicht mehr! O, flüchtet ihr und rettet euch, und laßt mir das Kind; ich werde Erbarmen bei diesen wilden Horden finden.« – »Wir tragen dich,« rief Bernhard; »bis zu jener Hütte reichen unsere Kräfte.« Und schon hatten er und Ludwig sie emporgehoben und versuchten das Unmögliche. Doch nach wenigen Schritten mußten sie es aufgeben, denn sie versanken fast im tiefen ungebahnten Schnee. – »Entflieht, ich beschwöre euch! Bruder, Geliebter, entflieht, das ist die einzige Rettung für euch und mich; so aber stürzen wir alle ins Verderben.«

»O Bianka,« sprach Ludwig sanft, aber mit dem Tone der Kränkung; »darfst du wirklich von uns so unwürdig denken? Nein, dein Herz weiß nichts von dem, was deine Lippe fordert!« – »Warum hörst du nur danach, Ludwig«, antwortete Bernhard fast lächelnd. »Aber es ist nun nichts weiter zu tun, und so wollen wir uns hier in den Schnee setzen und unser Schicksal ruhig erwarten. Wir kommen indessen doch wenigstens wieder zu Atem.«

Bianka fühlte, daß sie vergeblich bitten würde. Schweigend setzte sie sich daher auf den kalten Boden nieder und nahm das Kind in den Schoß. Bernhard und Ludwig setzten sich ihr zur Seite, legten den Arm um sie, drückten das schöne edle Wesen sanft an sich und erwarteten so in gemeinsamer süßschmerzlicher Umarmung ihr Geschick.

Jetzt hörten sie den Hufschlag der Pferde hinter der Spitze des Schneehügels, um den sich der Fluß wand; noch eine Minute, und ihr Los war gefallen. Sie blickten nicht auf, sondern hielten sich in inniger Umschließung und erwarteten gleichsam mit gebeugtem Haupt den Streich des Todesschwertes, das über ihnen schwebte. Die Reiter sprengten heran, dicht an ihnen hielten sie, und eine Stimme fragte auf russisch: »He, ist das dort Weselowa?« Bianka fuhr, da sie diese Worte aus gebildetem Munde hörte, freudig auf; aber mit einem unbeschreiblichen Laut rief sie, als sie das Angesicht des Fragenden erblickte: »Allmächtiger Gott, Rasinski.« Mit aufjauchzender Freude sprangen Ludwig und Bernhard bei diesem Wort empor und zugleich warf sich Rasinski vom Pferde und in ihre Arme. Auch Boleslaw und Jaromir, die sich unter den nachfolgenden Reitern befanden, flogen heran und an die Brust der Freunde: »Ihr lebt, ihr lebt! und hier müssen wir uns finden!« tönte der Ruf aus jedem Munde, und das Herz vermochte sein überschwellendes Glück nicht zu fassen, und heilig selige Tränen netzten selbst Rasinskis Heldenangesicht.

Bianka hing in seinen Armen wie eine Tochter an der Brust des Vaters. Der gewaltige Strom der Geschicke hatte die nichtigen Unterschiede und Grenzen, mit denen der Mensch sich kümmerlich umgibt, mächtig hinweggerissen. Zwischen den Edeln standen keine Schranken kleinlicher Gewohnheit und Sitte mehr, die der Argwohn um sich her zieht, die aus den verderbten Keimen der Seele aufwachsen. Das erhabene Glück und Unglück vernichtet alles Trügerische und Falsche in der menschlichen Brust, und nur das geläuterte Herz bleibt zurück, und das edle schlägt an dem edlen.

Die schäumend aufbrausende, halb betäubende Minute voll überschwenglicher Seligkeit war vorüber; ihr folgte eine lächelnde Ruhe, wie der Strom nach dem prächtig donnernden Wassersturz in sanften Wellen dahinzieht und die ganze Tiefe des Äthers in sich abspiegelt. Auch schmerzliche Rückblicke fehlten nicht; Willhofens, Regnards, Jeannettens Schicksal wurde erzählt. Rasinski hörte es mit wehmütigem Blick der Trauer. Dann wandte er sich zurück, deutete auf die wenigen, die ihm folgten, und sprach mit tiefbewegter Stimme: »Das sind alle, die ich von meinen Getreuen aus jenem mörderischen Kampf zurückbringe! Wir sind hierher – versprengt!«

Eine ernste Stille herrschte umher; jeder bedachte mit düsterm Nachsinnen, welche Opfer in dieser Stunde des Wiederfindens gefallen waren! Endlich begann Rasinski: »Damit wir von diesen wenigen Freunden keine mehr verlieren, so laßt uns aufbrechen; dort liegt Weselowa, dort hoffe ich über den Fluß zu kommen. Jenseits, denke ich, sind wir geborgen.« Er hob die entkräftete Bianka mit dem Kinde auf sein eigenes Pferd und leitete es am Zügel. Boleslaw und Jaromir boten Ludwig und Bernhard ihre Rosse an, doch diese schlugen sie aus, weil sie sich noch kräftig genug fühlten, den Weg zu Fuß zu machen.

So brachen sie auf. Nach einer Stunde hatten sie den Ort erreicht; ein litauischer Bauer führte sie auf Rasinskis Fragen nach einer Furt, wo der Strom nicht volle Mannshöhe tief war; trotz seiner treibenden Eisschollen wagten sie sich mutig hinein, Rasinski saß bei einem seiner Leute mit auf, Bernhard und Ludwig schwangen sich auf Jaromirs und Boleslaws Roß. Diesmal lauerte keine Tücke finsterer Mächte auf sie, sie erreichten glücklich das jenseitige Ufer, und nun endlich gerettet aus diesen furchtbaren Drangsalen, erhoben sie Blick und Herz dankbar gen Himmel.


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