Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Fünftes Kapitel.

Es war am 22. Juni, als Rasinski mit seiner Reiterschar zu der Hauptkolonne der Armee, welche der Kaiser selbst führte, stieß. Ein Befehl, den er unterwegs erhalten, hatte seinen Marsch beschleunigt! Die übrigen Truppenteile, Regnards Regiment, die Artillerie und zwei Eskadrons schwerer Kavallerie, welche bei Lomza zu ihnen gestoßen waren, konnten nicht so eilig folgen. Die Sonne senkte sich eben hinter die blauen Wälder, welche den westlichen Horizont umschlossen, als man von einer Anhöhe die französische Armee zuerst gewahr wurde. In unabsehbarer Weite bedeckten die schwarzen Truppenmassen die sanfte Einsenkung, welche sich diesseit der Hügelreihen, die das Ufer des Riemen begleiten, und an dem Saume des großen Waldes von Pilwiski hinzieht. Rasinski war mit Bernhard und Ludwig, die er gewissermaßen als seine Ordonnanzen gebrauchte, etwa tausend Schritte dem Regiment vorausgeritten. »Heiliger Gott!« rief er aus, »welch eine Welt in Waffen! Seht, Freunde, seht dorthin! Über eine Meile dehnt sich die Linie dieser eng aufeinander gerückten Kolonnen aus. Und von dort herüber sind noch unzählbare Massen im Anmarsch. Welch ein ungeheuerer Geist, der so viele tausend Kräfte der einzelnen alle in dem Mittelpunkte seines Willens vereinigt! Alle Zungen Europas vernehmt ihr in diesem Feldlager. Von den Nachbarn des Ebro und des Vesuv, von den Söhnen der Alpen und Pyrenäen bis zu den slawischen Stämmen, die unsere rauhen Steppen bewohnen, hat jede Stadt, jedes Dörfchen einen Sohn hierher gesandt, und alle folgen sie in glühender Begeisterung und im stummen Gehorsam dem Wink des Führers. Sie gehorchen ihm und glauben an ihn wie an einen Gott, dem der Mensch sich beugt, auch ohne ihn zu begreifen! Seht die herrlichen Artillerieparks, welche dort am Abhänge aufgefahren sind; ich schätze die Stärke derselben auf vier- bis fünfhundert Feuerrohre, und doch ist es kaum die Hälfte von denen, welche Napoleon heranführt, um das Verderben in die feindlichen Reihen zu schleudern.«

Rasinski hielt und sah sich aufmerksam rings um. »Hier, über jene drei Bäume hinweg, liegt Kowno; es wird mutmaßlich hartnäckig von den Russen verteidigt werden. Dorther kommt die Straße von Königsberg, die sich in dem Gebüsch vor uns mit der unserigen vereinigt. Das Örtchen hier unten am Walde heißt Pilwiski; dort weiter links jener spitze Turm gehört dem Städtchen Schirwindt an. Seht euch die Lage der Orte genau an, Freunde; denn ich könnte euch noch in dieser Nacht nach beiden zu verschicken haben, da ich vermute, daß der Stab in denselben liegt.«

Während Rasinski seine beiden Begleiter auf diese Weise mit der Gegend bekannt machte, war sein Regiment herangekommen. Er setzte sich jetzt an die Spitze desselben und ließ es im geordneten Zuge gegen das Lager vorrücken.

Noch bevor er die ersten Posten erreicht hatte, sprengte ihm ein Generalstabsoffizier entgegen: »Ich bin beauftragt, Herr Oberst,« redete derselbe ihn an, »Ihnen die Stelle anzuweisen, wo Sie mit Ihrem Regimente das Biwak zu beziehen haben. Ihre Ankunft war bereits gemeldet. Sie werden Ihr Lager dort drüben auf jenem Hügel zunächst der kaiserlichen Garde einnehmen.« Rasinski erkannte sogleich die Auszeichnung, welche in dieser Bestimmung lag, und sprach, indem er für die Meldung dankte, seine Freude darüber lebhaft aus. Von dem Generalstabsoffizier geführt, rückte das Regiment jetzt mitten durch das Lager seinem Biwaksplatze zu. Das mannigfaltigste Schauspiel bot sich auf diesem Zuge dar. Zuerst kam man an langen Reihen schwerer Geschütze, an dicht aufgefahrenen Parks von Munitionswagen vorbei. »Das sind die ehernen Knochen des Kriegsungeheuers«, sprach Ludwig zu Bernhard im Vorüberreiten.

»Oder vielmehr seine feuerspeienden Rachen«, erwiderte Bernhard. »Mir ist seltsam zumute,« fuhr er nach einigen Augenblicken fort; »indem ich in diese Tore des Kriegs einziehe, erscheine ich mir gegen die ungeheuern Massen der Kräfte plötzlich so ganz unbedeutend, ich verliere so vollständig das Gefühl eigener Tatkräftigkeit, daß ich mir vorkomme wie eine Nußschale, die auf dem brandenden Ozean schwimmt. Aber etwas zu tun werde ich hier bekommen für mein Skizzenbuch, denn alle zehn Schritte sehe ich ein köstliches Genrebild vor mir, und ich merke, daß man nur einmal durch ein Feldlager geritten zu sein braucht, um ein Philipp Wouwerman zu werden, wenn man sonst den Pinsel dazu hat und keiner ist.«

Man war jetzt an die ersten Biwaks der Infanterie gekommen und konnte mit Muße die Gruppen betrachten, welche sich um die Feuer gelagert hatten. In der Ferne hörte man die halbverwehten Töne der Feldmusik, welche die Marseiller Hymne spielte. Gleich im Vordergrunde lagen ein Dutzend Grenadiere um ein stattliches Feuer. Ein bärtiger Sappeur rührte eifrigst die Nachtkost im Feldkessel um. Er war jeden Augenblick genötigt, seinen langen Bart vor der aufflackernden Flamme zu sichern; einige junge Leute, die seine Not ansahen trieben ihren Spott mit ihm. Einer lag mit verbundenem Kopf und schlief; seine Kameraden hatten ihm mit Kohle einen ungeheuern Schnurrbart gemalt. Zwei standen und fochten scherzhaft mit den Händen. Die übrigen saßen oder lagen im Kreise umher und betrachteten müßig das vorbeiziehende Regiment, schienen jedoch keine sonderliche Aufmerksamkeit auf die für sie so alltägliche Begebenheit zu wenden. Ohne Umstände deuteten sie mit Fingern auf das, was ihnen auffiel, und einer drehte sogar dem ihn scharf anblickenden Bernhard mutwillig eine Nase, worüber die andern ein helles Gelächter aufschlugen.

Einige Schritte weiter war eine andere Gruppe gelagert, welche aufmerksam einem musikalischen Genie zuhörte, das auf einer kleinen Querflöte die Romanze »Il pleut,il pleut,bergère« blies. Dieses Lieblingsliedchen schien die Zärtlichkeit eines Sergeanten zu entflammen, der hinter dem Kreise seiner gelagerten Kameraden einer niedlichen Marketenderin die feinsten Galanterien zu sagen suchte und ihr das Kinn mit einem gewissen väterlichen Wohlwollen streichelte, obgleich seine lebhaften Augen eine viel feurigere Zuneigung zu dem muntern Mädchen verrieten. Sie nickte wohlgefällig mit dem Köpfchen zu dem Takte der Melodie und achtete nicht sonderlich auf den Liebhaber, dem sie nur dann und wann die Hand abwehrend zurückschlug.

»Die Liebe ist überall zu Hause,« sprach Bernhard lachend; »auch im Biwak treibt sie ihre Blüten. Der ewig dürre Boden, wo sie gar nicht fortwill, glaube ich, ist mein Herz. Denn wenigstens von den Blüten glücklicher Liebe kann ich noch kein sonderliches Herbarium aufweisen.«

Ludwig schwieg; er hing seinen ernsten Gedanken nach, die durch Bernhards Worte lebhaft aufgeregt waren.

»Nun Tölpel«, rief Bernhard etwas verdrießlich, denn ein mächtiger Dragoner, dem ein dichter schwarzer Busch von Pferdehaaren vom Helme herabhing, ritt auf einem wahren Brauerpferde dicht an ihm vorbei und rannte ihn fast vom Sattel. Der Kerl steckte jedoch den Tölpel ein, ohne sich umzusehen, und ritt seiner Wege.

»Ein unverschämter schnauzbärtiger Esel, der dort seine langen Beine über den plumpen normännischen Gaul gehängt hat,« polterte Bernhard; »der Kerl machte einen förmlichen Chok gegen mich mit seinem Elefanten.

»Das sind die Höflichkeiten des Lagers«, rief Jaromir lächelnd, der Bernhards Unfall gesehen hatte. »Du wirst so lange welche einstecken müssen, bis du sie wieder austeilen lernst.«

»Pah!« erwiderte Bernhard, »in diesem Punkte bin ich als Meister geboren; bei Grobheiten gleiche ich gewissen Echos, welche den Schall nicht nur vervielfältigen, sondern auch verstärkt zurückgeben. Bei mir wäre das Sprichwort: «Wie man in den Wald hineinschreit, so schallt es wieder heraus», nicht ganz richtig angewendet, denn ein grober Flegel bekommt mich in einem Hohlspiegel zu sehen, wo ich ihm ein grimmiges Gesicht schneide.«

Man kam jetzt an ein Kavalleriebiwak, wo die Pferde in langen Reihen an ausgespannten Leinen standen. Das mutige Stampfen und Wiehern der Rosse machte das Schauspiel lebendiger. Eins derselben riß sich los, als das Kavallerieregiment anrückte, und wollte den brüderlichen Reihen zueilen; sogleich waren einige Dragoner hinterdrein, um es zu greifen, doch es schlug unbändig aus, warf einige Feldkessel um, daß die eben fertige Abendkost in die Kohlen geschüttet wurde, und entsprang dann in wilden Bogensätzen. Die Infanteriebataillone, welche in der Nähe lagen, erhoben ein jubelndes Gelächter über diese Jagd und suchten das Tier durch Geschrei zurückzujagen. Die polnischen Reiter drehten gleichfalls lachend die Köpfe nach dem Schauspiel um, als plötzlich Rasinskis Kommandowort: »Richtet euch! Augen rechts!« sie in die strengen Fesseln des Dienstes legte. Es war ein französischer General, welchem Rasinski auf diese Art den Zoll des militärischen Ehrengrußes abtrug. Er ritt einen prächtigen Grauschimmel, dessen Zäumung und Schabracke reich mit goldenen Verzierungen und Stickereien bedeckt war. Grüßend faßte er an den Hut und betrachtete im Vorüberreiten die Leute mit einem großen, aufmerksamen Auge. Die athletische Gestalt, das ernste Feuer im Blick, die strengen Züge auf der hohen Stirn, alles dies zusammen verlieh ihm jene Gewalt der Persönlichkeit, wodurch der Soldat ein so unbedingtes Vertrauen zu seinem Führer gewinnt. Auch standen von beiden Seiten die Leute im Lager ehrfurchtsvoll still und hielten sich in strenger dienstlicher Haltung, bis er vorüber war.

Ludwig, auf den die Erscheinung einen ganz besondern Eindruck gemacht hatte, fragte leise den ihm zur Seite reitenden Boleslaw: »Wer ist dieser General?«

»Der Marschall Davoust, Fürst von Eckmühl«, erwiderte dieser mit ernster, gewichtiger Miene, welche die Bedeutung wahrnehmen ließ, die der berühmte Feldherr auch für ihn hatte.

»Der Marschall Davoust«, sprach Ludwig weiter zu Bernhard, und beide sahen ihm mit gespanntem Auge nach, bis er sich in das Getümmel des Lagers verlor.

Es fing schon an zu dunkeln, als das Regiment den Platz, der zu seiner Lagerstätte bestimmt war, erreichte. Der Raum, welchen es einnehmen durfte, war durch die Örtlichkeit genau abgesteckt. Man befand sich nämlich auf einem Hügel, der, auf der Oberfläche kahl, ringsumher von Buschwerk begrenzt wurde. Einige hundert Schritte seitwärts hatte man auf der Spitze eines andern, etwas höhern Hügels das Zelt des Kaisers aufgeschlagen. Die dreifarbige Fahne wehte von demselben herab. Zwei Mann der Alten Garde standen Wache davor. Generaloffiziere, Adjutanten, Ordonnanzen kamen und gingen ununterbrochen. Bernhard schaute unverwandt nach dem Gezelt hinüber, wo sich in diesem Augenblicke das Geschick Europas entschied. Indessen blieb ihm nicht lange Zeit zu müßigen Betrachtungen; die angenehmste Arbeit des Soldaten, sich in seinem Biwak einzurichten, begann. Die Ställe für die Pferde wurden durch Pikettpfähle mit umgeschlungenen Furagierleinen abgeteilt. Man bestimmte die Feuerstellen; einige holten Holz und Stroh, andere Wasser herbei. In kurzer Zeit loderten die Biwakfeuer lustig auf; die Kameraden lagerten sich umher, trauliche Gespräche knüpften sich an, man wurde heiter und heiterer. Ein guter Trunk, den Rasinski spendete, erhöhte die sorglos frohe Stimmung; ja sogar fröhliche Kriegslieder erschallten laut, bis die sinkende Nacht und die Ermüdung des Tages den Schlaf herbeiriefen, der das bewegte Treiben des Lagers in eine feierliche Ruhe verwandelte.


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