Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Fünftes Kapitel.

Man bestieg jetzt den Turm; Rasinski bot Marien den Arm, um sie die kleine Treppe hinaufzuleiten. Sie genoß des reichen Blicks von oben nicht zum ersten Male, doch immer neu überraschte er sie durch seine Schönheit. Von der Turmzinne über die grünen Waldgehege, die bisher rings die Aussicht vergitterten, hinwegblickend, schweifte das Auge über den Vordergrund zarter, schlanker, im Luftzuge anmutig wehender Wipfel hinaus in eine fast unbegrenzte Ferne. Der größte Teil des Landes zieht sich in wellenähnlichen Korn- und Waldhügeln dahin, zwischen denen sich Dörfer und Städte in unabsehbarer Zahl eingestreut finden. Höhere Gebirgsrücken steigen ringsum, wie die Ufer dieses in leichtgeschwungenen Linien wallenden Meeres, auf. Die silberne breite Bahn des Elbstromes teilt die Landschaft in zwei übersichtliche Hälften. Gern verfolgt das Auge die anmutigen Bilder, die der Strom widerspiegelt, von den blauen dämmernden Türmen Dresdens an, den Rebenhügeln von Loschwitz vorüber, bis zu den schroffen Felskegeln des Königsteins und Wiensteins, die, gleich halb eingestürzten ägyptischen Pyramiden, kolossal über ihre Umgebung emporragen. Mitten in diesem Teppich, der von tausend bunten, aber durch die Ferne matter schimmernden Farben gewebt wird, steht der frische grüne Berg selbst, mit seinen bald sanftern, bald schroffem Waldhängen, als das Herz des weiten Panoramas. Er fügt zur wunderbar erregenden Aussicht romantische, wahrhaft malerische Ansichten, während die Ferne weniger der Malerei als der Poesie angehört und fast nur durch den bewußten Gedanken ihre Reize erhält, weil sie dem Menschen das Gefühl der Erweiterung und Beschränkung seiner Kräfte, zugleich gewährt. Denn indem sein Auge mit unbegreiflicher Schnelligkeit die fernsten Punkte verknüpft, weite Räume durchfliegt, meilenlange Strombahnen oder Landstraßen in einem Blick verfolgt und übersieht, fühlt sich der Fuß um desto enger gefesselt; aber gerade dieser Gegensatz ist es vielleicht, der weiten Aussichten einen so wunderbaren, geheimnisvollen Reiz gibt, da wir jede Größe und Kraft ja nur durch ein vergleichendes Maß empfinden.

Während die Männer fast gleichgültig über die naheliegenden Schönheiten hinausblickten und die ihrem rastlos vorwärtsstrebenden Geiste verwandten Fernen durchflogen, wandte sich der Blick der Frauen aus gleichen Ursachen auf die vertrautere Nähe. Sie betrachteten die Räume, die sie eben durchwandelt hatten, ja Marie sah mit einem besondern Wohlgefallen auf den grünen, mit Blumenkränzen geschmückten Rasenplatz hinunter, auf dem sie soeben noch geweilt hatte, und wo sich die kränzewindenden Mädchen und Burschen in der Tat sehr zierlich ausnahmen.

Bernhards Blick schweifte über die Erde hinweg in die seltsamen Wolkengestalten am Horizont hinein, wo er für seinen phantastischen Sinn mehr Nahrung fand, zumal da die heimischen Gegenden ihm gegen die grotesken nordischen Landschaften, in denen er zuletzt geweilt und die er vielfach gezeichnet hatte, ein wenig nüchtern erschienen. Diesmal aber wurde aus dem Träumer, der in Nebelgebilde und flüchtiges Gewölk hineinschaute, ein sehr praktischer Mensch. »Es gibt noch ein Gewitter,« sprach er; »seit Mittag hat es gebraut, jetzt aber haben wir die zweite Wetterwendezeit, nämlich sechs Uhr; das Zünglein der Wetterwage steht zwischen Mittag und Mitternacht gerade ein. Nun muß sich's schnell entscheiden, ob es sich der Finsternis oder dem Lichte zuneigt, das heißt, ob wir ein Donnerwetter bekommen oder heitern Himmel behalten. Ihr müßt wissen, ich bin als Seereisender ein starker Wetterkundiger geworden; daher prophezeie ich nichts Gutes, denn der Wind setzt wahrlich um und fängt an auf mächtigen Flügeln zu rauschen.«

Wirklich trieb von dem Gebirge her schwarzgraues Gewölk herauf, das nur deshalb die Luft noch nicht verdunkelt hatte, weil die Sonne gerade an der entgegengesetzten Seite des Horizonts stand, wo der Himmel noch im reinsten Blau glänzte. Zugleich erhob sich ein hohles Brausen, und man sah an dem Wogen der niedergebeugten Baumgipfel schon von weitem her den Strom der Lüfte über den dunkeln Waldhöhen heranziehen. Es schien, als habe Bernhards prophezeiendes Wort die Entscheidung gegeben, so plötzlich brach das Ungewitter herein. Ein starker Windstoß umsauste den Turm und hätte in unvermutetem Überfall fast die Tücher und Hüte der Frauen entführt. Einzelne schwarze, weit vorgetriebene Wolken zogen jetzt vor die Sonne, so daß riesenhafte Schatten über die Landschaft fielen, und die Luft sich mit jedem Augenblicke mehr und mehr verfinsterte.

Die Mädchen sahen einander ängstlich verlegen an; das Gewitter schien allem Anschein nach sehr heftig werden zu wollen und war schon so nahe herangerückt, daß man ihm nicht mehr entfliehen konnte. Ihre Lage wurde daher in der Tat bedenklich. Indessen gestaltete sich das Schauspiel so großartig, daß der Anblick desselben einigermaßen die Besorgnisse in den Hintergrund treten ließ. In schweren Massen zog das wettergraue, schweflige Gewölk von dem östlichen Horizont herauf und hüllte allmählich das Gebirge in seine düstern Schleier ein. Mit ihm senkte sich Nacht auf die ganze Landschaft; nur einige zum Teil mit hellen Gebäuden gekrönte Höhen, auf welche der zwischen den Wolkenrissen durchblitzende Sonnenstrahl fiel, leuchteten auf dem dunkeln Grunde in desto klarern Umrissen und Farben. Der Strom wand sich finster gekräuselt unter dem Bogen des Gewitterhimmels dahin und spiegelte ihn aus verdunkelnder Tiefe zurück. Im Westen blickte das klare Auge des reinsten Blaus unter den düstern Brauen der Gewölke hervor, die, schwarz vor die Sonnenscheibe gelagert, mit feurigen, gezackten Goldrändern von ihr umsäumt worden. Mehreremal setzte der Sturm in wirbelnden Stößen an, schüttelte die Wipfel der Bäume und kräuselte den Staub zu hohen Säulen empor; in den Pausen trat daher eine desto tiefere Stille ein, und ein schwüler Druck beklemmte die Brust. Kein Vogel ließ sich hören, nur hier und da flatterte noch einer ängstlich dem Neste zu. Jetzt flammte es rotleuchtend durch den ganzen westlichen Himmel, und der zackige Blitzstrahl schoß in den Strom hinunter. Das Gewitter stand indes noch ziemlich ferne, denn es verfloß wohl eine halbe Minute, bevor das dumpfe Rollen des Donners sich vernehmen ließ, das an den Häuptern der Berge murmelnd hinlief.

»Prächtig!« rief Bernhard, »ich gebe ein Dutzend schöner Tage mit Freuden für ein Gewitter wie dieses hin. Was für Lichter auf die Landschaft fallen! Nacht und Tag in scharfen Streifen nebeneinander gelagert! Seht nur, wie der Sonnenstein drüben bei Pirna noch leuchtet und glänzt gegen die blauschwarze Wolke, die sich hinter ihm auftürmt. Und die weißen Segel dort auf der Elbe, die wie Möwen über die graue Flut hinschießen; die Schiffe ziehen ordentlich eine Schaumfurche durch die Wellen!«

Die Mädchen empfanden die wunderbare Schönheit des Schauspiels so lebhaft, daß sie sich scheuten, ihre kleinen Besorgnisse um Kleider und Hüte laut werden zu lassen. Doch zog das Gewitter mit so furchtbarer Majestät näher, daß es ein weibliches Herz doch wohl mit einiger Furcht erfüllen konnte.

»Dorthin regnet es schon stark«, bemerkte Ludwig, indem er mit dem Finger nach der Gegend deutete. – »Wo?« fragte Marie. – »Dort, rechts vom Königstein, wo die dichten, grauen und violetten Streifen sich aus dem Schoß der Wolke gegen die Erde ziehen; man bemerkt deutlich, wie der Regen mehr und mehr nach Westen vorrückt.«

»Sollte es wohl möglich sein,« fragte Marie, »daß wir Pillnitz erreichten, ehe das Wetter vollends ausbricht?« – »Kaum,« entgegnete Ludwig, »und ich möchte nicht anraten, den Versuch zu machen, da wir hier oben in dem kleinen Gewölbe des Turmes Schutz finden können, das man uns gewiß gern öffnen wird. Vielleicht aber zieht das Wetter ganz vorüber; denn der Sturm scheint so stark werden zu wollen, daß er es leicht über uns dahintreiben kann.« In der Tat zog das Gewölk jetzt so zerrissen über den Berggipfel hinweg und verdichtete sich dagegen auf der andern Seite des Stromes, daß Ludwigs Vermutung Wahrscheinlichkeit gewann. Während man noch darüber sprach, kam ein Reiter in vollem Galopp den Berg heraufgesprengt. Er brachte dem Hofgärtner die Nachricht, daß die Fahrt mit Fackeln plötzlich abgesagt sei, er daher schleunigst alle Vorbereitungen zum Empfang der hohen Herrschaften einstellen, aber dieselben auf morgen in Bereitschaft halten solle. Die Arbeiter, welche, rings von Wald umgeben, die Annäherung des Gewitters erst seit den wenigen Minuten bemerkt hatten, wo die Sonne durch das Gewölk verdeckt wurde und der erste Donner sich vernehmen ließ, beeilten sich auf diese Nachricht, ihre abgelegten Kleidungsstücke anzulegen und so schnell als möglich ein Obdach zu gewinnen. Die Mädchen warfen ihre Tücher über den Kopf und flüchteten hastig den Berg hinab. Von den Männern blieben jedoch einige auf Befehl des Hofgärtners, um das Zelt abzubrechen, das schwerlich dem Wetter getrotzt haben würde.

Diese Anstalten, besonders die Flucht der Arbeiterinnen, brachten natürlich in den jungen Mädchen, die noch auf der Höhe des Turmes standen und mühsam die im Winde flatternden Gewänder zusammenzuhalten suchten, eine erhöhte Besorglichkeit hervor. Marie meinte, so gut wie jene könne man wohl auch noch ein Obdach gewinnen, und vielleicht sei ein Gebäude in der Nähe, das sie aufnehmen könne. Ludwig sprang rasch die Treppe hinunter, um sich bei dem Hofgärtner zu erkundigen. Dieser ließ eben die zum Aufschlagen des Zeltes verwendeten Gerätschaften sowie dieses selbst in den engen Raum, welchen der Turm gewährte, bringen. Auf Ludwigs Frage entgegnete er, man werde gewiß Pillnitz noch glücklich erreichen, da man abwärts den Weg sehr schnell zurücklegen könne und die Wetter hier oben auf der Höhe, wo man dem Sturme völlig preisgegeben sei und den ganzen Horizont überblicke, immer näher und drohender aussähen, als sie in der Tat seien. Es dauere vielleicht noch eine Stunde, bis es zu regnen anfange. Ziehe es die Gesellschaft indessen vor, hier oben zu verweilen, so wolle er ihnen gern den Schlüssel zu dem kleinen, engen Raum im Turme lassen, der jedoch, nachdem er jetzt mit Gerätschaften, Stühlen und Tischen angefüllt sei, kaum einige Personen fassen könne.

Ludwig nahm das Anerbieten mit Dank an und versprach, die Tür sorgfältig zu schließen und den Schlüssel zuverlässig in Pillnitz abzugeben. Obwohl der Gärtner die Erfahrung für sich hatte, so schien es doch, als täusche er sich diesmal über die Nähe des Gewitters sehr. Wenigstens wollte Ludwig vorher den Frauen die Wahl lassen, ob sie den Rückweg dem freilich nicht sehr angenehmen Aufenthalte vorzögen. Er nahm daher den Schlüssel an sich und stieg dann eiligst die Stufen wieder hinan, um Bericht zu erstatten. Die Stimmen waren geteilt. Die Männer, zumal Bernhard, entschieden sich unbedingt für das Bleiben, da man augenscheinlich kein Obdach mehr gewinnen könne, bevor das Ungewitter in seiner ganzen Gewalt losbräche. Die Frauen waren, besonders mit Rücksicht auf die Besorgnis, in der die Mütter schweben würden, wenn man ausblieb, für das gewagte Unternehmen, sofort aufzubrechen. Da ihr Wunsch am meisten in Betracht kam, indem eigentlich Gefahr nicht zu fürchten war, beschloß man denn, zu gehen. Aber indem Marie, von Rasinski geleitet, den Fuß auf die erste Stufe der schmalen, steilen Treppe setzte, blitzte es, daß der ganze Himmel in Flammen stand und man das Auge geblendet schließen mußte; zugleich ertönte ein furchtbarer Donnerschlag, von dem der Berg in seinen Grundfesten zu erzittern schien. Geblendet und erschreckt bebte Marie zurück und drängte sich schüchtern gegen ihren Begleiter; dabei glitt sie mit dem Fuße aus, und hätte Rasinski sie nicht rasch umfaßt, so würde sie vielleicht einen gefährlichen Sturz hinab getan haben. Wenigstens schien die Gefahr so nahe, daß Emma und Julie, die sie fallen sahen, einen lauten Schrei ausstießen und eilig hinzusprangen. Doch hatte Marie sich schnell wieder aufgerichtet und erwiderte auf die von allen Seiten zugleich an sie gerichtete, ängstliche Frage, ob sie Schaden genommen habe, mit einem holden Lächeln auf dem erblaßten Gesicht: »O nein, nur ein wenig erschreckt bin ich.«

Rasinski unterstützte sie sorgfältig und geleitete sie mit Vorsicht hinab. Erst als sie den ebenen Boden erreicht hatten, bemerkte er, daß ihr das Gehen schwer wurde. »Der Fuß schmerzt mich ein wenig,« erwiderte sie auf seine Frage; »aber es wird sich wohl bald geben.« Zugleich bemühte sie sich, ihres Schmerzes Herr zu werden und fest aufzutreten. Allein sie vermochte es nicht, der Fuß brach unter ihr ein und sie mußte sich an Rasinski halten, um nicht niederzusinken. »Jetzt werde ich doch wohl hier oben das Gewitter abwarten müssen,« sprach sie; »denn schnell hinabzugehen ist mir nun unmöglich.«

»Auch nicht, wenn ich dich von der andern Seite unterstütze, liebe Marie?« fragte Ludwig und ergriff ihren rechten Arm. Marie versuchte einige Schritte, dann antwortete sie mit einem sichtlich bekämpften Schmerz in den Zügen: »Ich glaube auch so nicht.« – »Wir tragen Sie hinab«, rief Bernhard rasch. – »Nein, nein,« entgegnete Marie mit einem freundlichen Lächeln, das sie durch eine abwehrende Bewegung der Hand begleitete, »ich kann ja nun hier oben verweilen; Ludwig bleibt wohl bei mir.«

»Nun bleiben wir alle«, rief Julie entschieden, und Emma stimmte sogleich ein.

»Es ist auch wahrlich das beste,« sprach Ludwig, »denn es fallen ja schon Tropfen, und das übermäßige Eilen beim Hinabgehen könnte, wenn wir durch den Regen überrascht würden, die gefährlichsten Folgen haben. Hoffentlich wird ja das Wetter wohl bald genug vorüber sein, da es so heftig zu werden scheint.«


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