Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Fünftes Kapitel.

Die kalte Scheibe der Sonne rötete sich schon wieder und senkte sich gegen das Schneemeer hinab, als die Wandernden Malodeczno in der Ferne einer Stunde vor sich sahen. Die Hoffnung, ein Obdach zu erreichen, belebte die gesunkenen Kräfte wieder. Doch als wollte das Schicksal jeden leisesten Schimmer des Glücks nur gewähren, um die Kräfte für ein neues größeres Unheil aufzuregen, so folgte auch hier der Schrecken mit furchtbarer Eile der Freude nach. Denn plötzlich bedeckten sich die Höhen mit schwarzen Massen; der Feind, auf andern Wegen herangedrungen, erschien, um den unglücklichen Flüchtlingen den Zufluchtsort für die Mitternacht streitig zu machen. Bei dem ersten Anblick dieser dunkeln Linien, die den Horizont zu säumen begannen, drängte sich die Schar der waffenlosen Flüchtigen wie eine Herde zusammen, in die ein Wolf einbricht. Der Marschall Ney rief mit lauter Stimme den Bewehrten zu, sich um ihn zu sammeln. Noch gab es einige Trümmer des kriegsgewohnten Heeres, die selbst jetzt das Gesetz der Ehre noch nicht vergessen hatten. Die Reihen ordneten sich, die wenigen Reiter schlossen sich, wenngleich aus allen Regimentern gemischt, aneinander, die Artillerie, soviel durch die noch am Leben gebliebenen Pferde hatte fortgeschafft werden können, nahm eine Stellung. »Kameraden,« rief der Marschall, »wir müssen heut um ein Obdach fechten; denn die Winternacht ist mörderischer als die Waffen des Feindes. Auch ihn treibt nur die Not; ihr vernichtet ihn, wenn ihr euch behauptet. Denkt an euer Heil, an Frankreichs Ruhm, an euern Kaiser!«

»Es lebe der Kaiser!« tönte der Ruf der Heldenschar, die nur den fernen Donner der Schlacht hören durfte, um inmitten der schwersten Drangsale den begeisterten Mut wiederzufinden, der sie durch alle Länder Europas geführt hatte. – »Wir haben keine Pferde,« rief Rasinski den Seinigen zu, »laßt uns das Geschütz bedienen, denn es fehlt an Mannschaft.«

Ein dumpfer Donner ertönte von den Höhen; die ersten Kugeln wurden herabgesandt; sie flogen, auf dem erstarrten Boden widerprallend, in weiten sausenden Bogensprüngen über die zur Schlacht geordneten Krieger hinweg. »Ihr schießt zu hoch, wir wollen besser treffen«, sprach Rasinski keck scherzend, und lehnte sich auf das Geschütz, um es zu richten. »So! Jetzt Feuer!« Jaromir feuerte ab. »Seht ihr, wie die Kugel eine Lücke reißt?« rief Rasinski freudig, als die schwarze Linie auf der Höhe zerriß, daß der helle Himmel dahinter sichtbar wurde. »Ich wollte nur, sie ständen so tief als breit, so sollte ihnen dieser Schuß dreißig Köpfe gekostet haben.«

Der Kampf war eröffnet; die Artillerie des Feindes donnerte jetzt von drei Seiten zugleich, und die Kugeln schmetterten sowohl in die Schar der waffenlosen Flüchtlinge, die in blinder Hast auf den Flecken Malodeczno zustürzten, als in die geordneten Reihen der Tapfern, die ihr Leben für die Rettung jener wagten, verheerend hinein. »Wir müssen uns langsam zurückziehen,« befahl der Marschall, »daß sie sich nicht zwischen uns und den Flecken eindrängen, denn sonst sind wir alle eine Beute des heißhungerigen Winters.« Die Artillerie gab noch eine Lage zur Erwiderung, dann nahm sie eine Stellung einige hundert Schritte weiter rückwärts. Die Truppen folgten geschlossen. So gewann man ohne ein sehr ernstliches Gefecht nach und nach eine Stellung dicht am Eingange Malodecznos. Aber diese kurze Bewegung hatte die Kräfte der Artilleriepferde so erschöpft, daß sie jeden Augenblick übereinander stürzten und endlich nicht mehr emporzubringen waren. Was Hände hatte, mußte daher angreifen, um die Geschütze vollends auf einen Hügel zu schaffen, von dem sie den Eingang des Fleckens verteidigen konnten. »Retten können wir unsere Kanonen nicht mehr, Kameraden,« rief der Marschall, als er an den Reihen derselben hinuntersprengte, »so wollen wir sie wenigstens teuer verkaufen.«

Die Russen waren langsam feuernd nachgerückt; jetzt schienen sie ihre Kräfte zu sammeln, um einen stürmenden Angriff zu versuchen. Doch sowie sie sich in vollen Kolonnen zeigten, gab die Artillerie der Franzosen eine furchtbare Salve, die tausendfachen Tod in ihre Reihen schleuderte. Die Erde zitterte, die Lüfte krachten, Rauch und Dämmerung webten einen dichten Schleier der Nacht über das Heer. Der Feind füllte seine Lücken und rückte entschlossen weiter vor, indem er den Angriff durch seine Artillerie unterstützte. Eine zweite Lage stäubte ihn zum zweitenmal auseinander. Doch immer neue Scharen drangen nach; er hatte Ersatz für seine Toten, denn er focht mit Tausenden gegen Hunderte und schien den Gewinn des Fleckens um jeden Preis erkaufen zu wollen.

Rasinski, Boleslaw, Jaromir, Bernhard und Ludwig bedienten ein Geschütz; denn auch diese letztern hatten es für eine Pflicht der Ehre gehalten, tätigen Anteil am Kampfe zu nehmen und ihre Freunde, obwohl sie nicht mehr die Uniform des Regiments trugen, nicht jetzt zu verlassen, wo entschlossene Männer den zehnfachen Wert galten. Auch war der Gedanke, mit den Freunden vereinigt zu bleiben, der einzige Trost, die einzige Quelle ihrer Hoffnungen und Freuden in dieser Zeit des öden Grauens. Nur für Bianka hatten sie einen Ort des Schutzes aufgesucht, wo diese, so gesichert als es überhaupt möglich war, in ihrer Nähe bleiben konnte. Gegen Malodeczno hin senkte sich, dicht hinter der Stellung, die die Artillerie einnahm, der Hügel etwa in Mannshöhe fast ganz steil abwärts und bildete so eine natürliche Brustwehr. Dort weilte Bianka mit dem Kinde, während oben die Schlacht tobte. An dieser Stelle waren auch die Munitionswagen aufgefahren, aus denen die Batterien auf der Höhe mit allem Schießbedarf versehen wurden.

Obwohl Bianka für sich selbst nichts zu befürchten hatte, so schlug doch ihr Herz in krampfhafter Angst, da sie die Geliebten wenige Schritte von sich allen Schrecken des Todes preisgegeben wußte. So teuer sie es Bernhard gelobt hatte, den sichern Zufluchtsort nicht zu verlassen, so konnte sie doch, da das Krachen der Kanonen bis zu einer betäubenden Stärke wuchs, ihrer Angst nicht länger gebieten. Sie mußte den Hügel hinan, um zu sehen, ob die Ihrigen noch verschont waren von dem Geschick, das seinen eisernen Todesstrom mit donnernden Wogen über das Gefilde wälzte. Doch vergeblich war das Spähen ihres Auges, denn der Rauch lag in dichten Wolken über den Feuerschlünden, und man sah nur schwarze Gestalten sich unbestimmt und unkenntlich darin bewegen, Da es ihr unmöglich war, sich von dem Los der Ihrigen zu überzeugen, wankte sie wieder zurück an die Stelle, wo sie zu verweilen gelobt hatte. Todesangst pochte in ihrer Brust; jeder Donnerschlag der Geschütze traf ihr eigenes Herz; so dem äußersten Verzagen hingegeben war sie noch nie. Das Kind wurde durch das furchtbare Getöse der Schlacht geängstigt und weinte. Bianka legte dem kleinen Wesen die Hände gefalten ineinander und sprach: »Unschuldiges Herz, flehe zu dem himmlischen Vater, deine reine Bitte wird ihn rühren; o laß diese grauenvolle Stunde an uns vorübergehen!« Das Kind gehorchte fast bewußtlos, kniete auf dem Boden und sah mit tränenden Augen bittend empor gen Himmel. Auch Bianka warf sich auf die Knie; die Worte versagten ihr, sie vermochte nur die Hände zitternd zu erheben; doch der Allmächtige vernahm ihr stummes Flehen. Wie viele tausend Gebete der Angst machtlos von dem ehernen Gewölbe des Himmels zurückschlugen, ihr war der Lenker der Dinge nicht taub, ihr neigte er sich mild entgegen. Ein tröstender Glaube senkte sich in ihre Brust und verscheuchte die düstern Ahnungen des Grausens, die sie umwoben. Sie atmete freier. »Nein, du unendlich Gütiger,« bat sie mit innigem Vertrauen, »du hast dein Antlitz nicht ganz von der Erde gewendet. Du hörst das Flehen der Unschuld und der bebenden Liebe, du wirst mein angstzerrissenes Herz nicht zermalmen!« Sie drückte das Kind an ihre Brust, und ihre Tränen flossen in erleichternden Strömen.

Jetzt wurde der Donner der Schlacht schwächer, plötzlich schwieg er. Bianka riß sich gewaltsam empor; nun mußte sie zu den Ihrigen. Jetzt hatte sich's entschieden, ob das schwarze Verhängnis auch ihnen gefallen war. Hastig klimmte sie, mit dem Kinde an der Hand, den Hügel hinan. Da tönte eine Stimme aus Rauch und Dämmerung: »Schwester! Wo bist du?« Es war Bernhard, Außer sich vor Freude rief sie: »Hier, hier! Ihr lebt, beide, alle!« und eilte auf den Bruder zu, der von der Höhe herabkam. Er flog ihr entgegen; sie lag an seiner Brust; unaussprechlich war die Fülle ihrer Seligkeit. Doch er entwand sich sanft abwehrend ihrer Umarmung. »Frohlocke nicht,« sprach er schmerzlich – »wir mußten ein Opfer bringen! Boleslaw –« – »Gott der Gnade,« fiel Bianka erblassend ein, »er ist dahin?« – »Wir fürchten es; dort tragen die Freunde ihn heran«, erwiderte der Bruder und deutete auf einige Gestalten, die sich langsam näherten. Dann lehnte er, bis zur Ermattung erschüttert, das Haupt an die Schulter der Schwester und seufzte tief auf. Seine starke Seele war bezwungen durch den Schmerz um den Freund, seine feste Kraft gebrochen. »Es muß getragen sein!« sprach er sich aufrichtend, »wie tief der Stachel in die Brust dringe! Laß uns ihnen entgegen!«

Unsichern Schrittes ging er mit der Schwester den Kommenden entgegen, die in ihren Armen den erblaßten Jüngling trugen. Eine Kugel hatte ihm den Schenkel zerschmettert, die furchtbare Erschütterung die Lebenskeime des ganzen Körpers zerstört. »Legt mich nieder,« sprach er matt, »ich bitte euch!« – »Tut ihm seinen Willen«, gebot Rasinski leise und schüttelte das Haupt, als wolle er sagen, unsere Sorge rettet ihn doch nicht mehr.

Sie ließen den Verwundeten vorsichtig auf den Boden nieder. Rasinski kniete zu seinem Haupte und nahm ihn halb aufgerichtet sanft in seine Arme. Jaromir hatte die Rechte des Sterbenden ergriffen. Ludwig wandte sich erschüttert ab. Bianka trat ihm mitleidsvoll entgegen und hauchte leise: »Auch das noch, mein Teuerer!« Er drückte sie stumm ans Herz; zu sprechen vermochte er nicht. Es vermochte es keiner. Mit dem heiligen Schweigen der tiefsten Bekümmernis wandten alle die Blicke auf den Verwundeten, der, den Kampf des Todes in den Zügen, mit geschlossenen Augen dasaß. Jetzt schlug er sie auf, sah verwundert umher und suchte sich zu besinnen. »Ihr alle seid mir nahe«, sprach er freundlich, als er die Freunde um sich her erblickte, und ein sanftes Lächeln der Dankbarkeit schwebte um seine Lippen. »Ich sterbe schön,« fuhr er nach einigen Augenblicken fort und richtete sich empor; »ihr dürft nicht um mich trauern. Ich sterbe in Freundes Armen den Tod der Ehre!« Ein edler Stolz rötete des Jünglings erbleichte Wange mit leichtem Hauche; noch einmal flammte der Mut in seinem brechenden Auge auf. »Ich sterbe gern«, setzte er wehmütiger hinzu. »Jaromir! mein Freund, mein Bruder!« Er drückte die Hand des vor ihm Knienden mit warmer Liebe und tiefster Rührung; denn seine Gedanken wandten sich zu dem Bilde der fernen Geliebten hinüber, das er stumm, aber unverbrüchlich treu in seinem Herzen getragen hatte. Seine Liebe wurde ihm jetzt ein heiliges Vermächtnis für den unglücklichen Freund.

»O warum liege ich nicht an deiner Stelle!« rief dieser schmerzensvoll aus, indem er das Antlitz auf die Hand des Scheidenden drückte; »warum hat der Tod nicht mich erlöst!« – »Nein, nein – du sollst noch glückliche Tage sehen,« antwortete Boleslaw bewegt – »glückliche Tage in ihren Armen. Bringe deiner Lodoiska den Gruß des Sterbenden; dir gesteht es meine erblassende Lippe – ich habe sie geliebt – schweigend, aber aus tiefster Seele!« – »O Gott! O Bruder!« rief Jaromir außer sich. »Du, du – du wärest treu geblieben! O, ich Unglückseliger!« – »Du hast schwer gebüßt, alles ist gesühnt, mein Bruder«, sprach Boleslaw sanft. »Gehört euch – um des Schmerzes willen, den ich getragen – es ist meine letzte Bitte an dich; an sie – das sei mein Glück dort drüben.«

Hier sank er matt zurück. Jaromir beugte sich heftig über ihn: »Bleib noch bei uns – o Bruder, noch jetzt stirb mir nicht«, rief er von krampfhaftem Schluchzen unterbrochen und drückte sein Angesicht auf die erkaltende Hand des Teuern. Noch einmal erhob Boleslaw das brechende Auge – »Rasinski – ihr Freunde!« sprach er matt. Sie hielten seine Hände – sein Blick gleitete liebend über alle dahin und winkte jedem einen lächelnden Abschiedsgruß zu. Auf Jaromir weilte er am längsten; dann seufzte er mit brechendem Laut: »Lodoiska!« – und müde schloß er die Augen – lehnte das Haupt an Rasinskis Vaterbrust – und verschied. Der Tod verklärte seine edle männliche Schönheit; ein Marmorbild saß er da; die schwarzen Locken wallten ihm von der Stirn, die noch im Tode den Adel des Muts trug; um die Lippen schwebte ein sanfter Zug des Schmerzes, aber heilige Ruhe wohnte auf den erloschenen Zügen. Heilige, sanfte Ruhe, denn sein grambeladenes Herz schlug nicht mehr. Jaromir drückte sein weinendes Antlitz gegen die Brust des Toten und umschlang ihn mit heftiger Umarmung.

»Der Herr habe seine Seele«, sprach Rasinski mit ernster Fassung und legte die Hände segnend auf das Haupt des Abgeschiedenen. Dann wandte er sich zu den Freunden: »Wohl uns, daß wir wenigstens diesen teuern Leichnam nicht der Wildnis lassen müssen. Die Nacht bricht herein. Wir müssen das teuer erkämpfte Obdach zu erreichen suchen; und dort soll er bestattet werden!« Er deutete mit dem Finger auf Malodeczno, wohin die Truppen sich jetzt zurückzogen, nachdem der Feind, durch ihren ausharrenden Mut bezwungen, es endlich aufgegeben hatte, ihnen diesen Zufluchtsort zu entreißen.

Jaromir allein hörte Rasinskis Stimme nicht; der Schmerz hatte ihn zu heftig betäubt; bewußtlos ruhte er noch immer an der Brust des Toten. »Raffe dich zusammen, Jaromir,« redete Rasinski ihn an und suchte ihn emporzuheben; »zeige ein männliches Herz. Du verlorst deinen teuersten Gefährten, ehre sein Gedächtnis durch kräftige Erhebung über deinen großen Schmerz. Starb dir ein Bruder, so starb mir ein Sohn; ermanne dich, ersetze du mir den Verlorenen.«

Der sanfte, ernste Trost drang in das Herz des Unglücklichen ein; er erhob sich schweigend, aber mit gewaltsamer Anstrengung, und Rasinski schloß ihn tröstend wie ein Vater an sein Herz. »Hilf uns unserm Gefallenen den letzten Dienst der Liebe erweisen«, sprach er und beugte sich zu Boleslaw herab, um sein Haupt emporzuheben. Die vier Freunde nahmen den Entseelten in ihre Arme, um ihn die kurze Strecke bis in den Flecken hinabzutragen. So wanderten sie im düstern Trauerzug dahin.


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