Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Fünftes Kapitel.

Mit schlagendem Herzen gelangte er ins Freie und sah sich nun um, wie er am besten und unbemerktesten den bezeichneten Weg erreichen könnte. Es war nicht ganz leicht, denn eine Wendung der kleinen Gasse, der er gefolgt war, hatte ihn an eine ganz entgegengesetzte Seite des Örtchens geführt. Der Querweg, den er einschlug, war von Gärten rings umgeben, er konnte nicht einmal die Rhone sehen; eine ziemliche Strecke verfolgte er den Pfad, un- geduldig, sich immer von Hecken oder Zäunen begleitet zu sehen. Jetzt endlich erreichte er das Freie, befand sich aber so tief in der Ebene, auf Wiesengrund, daß er sich durchaus nicht zu orientieren vermochte. Auf gutes Glück ging er quer über die Triften hin nach der Richtung zu, die er nehmen mußte. Es war nun bereits eine halbe Stunde verflossen, seit Bianka das Haus verlassen hatte, deshalb wurde ihm jede Minute kostbar, weil er die Teuere nicht der ängstlichen Erwartung überlassen und durch langes Ausbleiben einer drohenden Gefahr preisgeben wollte. Er beschleunigte daher seine Schritte und erreichte endlich fast atemlos einen Pfad, welcher auf eine kleine Anhöhe zuleitete, von der aus er die Rhone sehen mußte. Endlich hatte er die Höhe erreicht. Zu seinem Schrecken aber sah er sich viel weiter von dem Flusse entfernt, als er beim Ausgehen gewesen war; ja, es schien ihm, als tue er jetzt fast am besten, den Weg gerade wieder zurückzumachen. Denn die Rhone schlug gleich oberhalb Brieg einen so starken, fast rückwärts gekrümmten Bogen, daß Ludwig, der hier seiner Richtung den ursprünglichen Lauf des Flusses und Tales zum Grunde gelegt hatte, jetzt die Stelle des Ufers, die etwa eine halbe Stunde von der Stadt entfernt liegen konnte, und wo Bianka verabredetermaßen warten sollte, weit hinter sich sah. Nahm er also den Weg in nächster Richtung nach dem Flusse zu, so traf er weit über den Ort der Zusammenkunft hinaus; wählte er die Richtung so, daß er vor dem Punkte ans Ufer gelangte, wo Bianka mutmaßlich wartete, so mußte er fast eine ebenso weite Strecke wieder rückwärts machen, als er schon von der Stadt entfernt war, und eine volle Stunde Zeit war rein verloren. Es schien ihm daher endlich am geratensten, gerade auf den Strom zuzugehen und dem Laufe desselben abwärts zu folgen, wo er dann von der entgegengesetzten Seite auf die Wartenden stoßen mußte. Er eilte, was seine Kräfte vermochten. Doch verging, da häufig Erdspalten, kleine Vertiefungen, auch sumpfige Stellen ihn zu Umwegen nötigten, eine volle halbe Stunde, und er hatte das Ufer noch immer nicht erreicht. Schon war die Sonne hinter die hohe Wand der Alpenkette hinabgesunken, und das tiefe Tal von Brieg lag bereits in bläulichem Abendschatten. Jetzt hörte er die Rhone rauschen; noch eine felsige, mit Brombeersträuchern überwachsene, ziemlich steile Anhöhe, welche den Fluß gleich einem Damm zu begleiten schien, mußte er überklimmen, dann hoffte er den Uferpfad erreicht zu haben. Er stieg angestrengt aufwärts; die Höhe war steiler und bedeutender, als er sie anfangs geschätzt hatte; die lang verschlungenen Rankenzweige der Brombeerbüsche legten sich wie Schlingen über den Boden und zerritzten ihm durch den Stiefel hindurch den Fuß mit ihren scharfen Dornen. Endlich hatte er das Hindernis mit blutenden Händen und Füßen überwunden und sah sich auf der Höhe. Er schritt rasch über den Kamm derselben hin, um jenseit hinabzusteigen. Plötzlich aber mußte er innehalten, denn er stand an einem Absturze, und unter sich hörte er die Rhone dahinbrausen, doch so, daß er sie nicht einmal sah, weil der Felsen weit über die Strömung hinüberhing. Es blieb ihm daher nichts übrig, als umzuwenden und die Richtung der Höhe stromabwärts zu verfolgen. Zu seiner großen Beunruhigung entdeckte er keinen betretenen Pfad, befand sich also noch nicht auf der Bahn, wo er der Geliebten begegnen mußte. Indes blieb ihm nichts anderes übrig, als auf dem Kamm des steilen Ufers entlang zu gehen. Es bedeckte sich jetzt mit dichtem Kieferngebüsch; dies beunruhigte ihn zu Anfang ebenfalls, weil ihm der Blick in die Ferne ge- raubt wurde. Doch zu seinem Trost bemerkte er, daß nach und nach der Boden betretener wurde und unerwartet in einen viel benutzten Pfad überging. Dies mußte durchaus der Weg sein, den Paul bezeichnet hatte. Ludwig verfolgte ihn daher mit angestrengtester Eile. Darüber vergaß er, auf das Brausen des Stroms zu achten, und erst nachdem er eine starke Viertelstunde vorwärts ge- gangen war, bemerkte er die tiefe Stille ringsumher, die ihn fürchten ließ, daß er sich wiederum weiter von dem Ufer entfernt haben müsfe. Zum Glück lichtete sich jedoch das Gebüsch, deshalb eilte er nur um so hastiger vorwärts, weil er, sobald er nur das Freie erreicht hätte, gewiß zu sein glaubte, Bianka sehr bald aufzufinden. Kaum aber gestatteten die niedrigen Büsche einen Blick in die Ferne, als er zu seinem größten Schrecken sich wieder weitab von der Rhone sah und zwischen seinem Wege und dem Strom eine breite Strecke ebenen Landes entdeckte. Der täuschende Fluß wich hier abermals durch eine weite Krümmung von der Bahn ab. Ohne Bedenken schlug sich daher Ludwig, fast außer sich vor innerm Unmut und Sorge, zur Rechten und eilte querfeldein dem Rhoneufer zu. Atemlos erreichte er es nach zehn Minuten und stieß auch sogleich auf einen betretenen Pfad, der der Krümmung des Flusses von der Stadt her zu folgen und auch weiter hinauf am Rande desselben hinzuleiten schien. Er sah nach der Uhr. Volle zwei Stunden war er jetzt auf dem Wege und doch nicht weiter als eine gute halbe Stunde von der Stadt entfernt. Einzelne Gruppen von Brombeer und Holundergebüschen fanden sich von Zeit zu Zeit am Ufer; sie waren zweifelsohne bequeme Punkte für die Frauen gewesen, um die nachfolgenden Männer zu erwarten. Aber ob sie jetzt, da schon die Dämmerung hereinbrach, noch harren würden? Ob sie den Punkt, um Ludwig zu erwarten, an dem Orte, wo er sich jetzt befand, oder vielleicht dicht hinter ihm gewählt hatten? Das waren zwei Fragen, die ihn mit banger Ungewißheit quälten. Indes zauderte er nicht, sich zu entscheiden. Er wollte wieder so weit zurückeilen, bis er gewiß sein durfte, daß der Punkt des Zusammentreffens nicht mehr zwischen ihm und der Stadt liege. Dann konnte er wenigstens mit Sicherheit seinen Weg vorwärts richten. So schnell es ihm daher irgend möglich war, ging er der Stadt zu; in jedem nächsten Busch hoffte er die Teuere zu entdecken; immer täuschte er sich. Jetzt sah er etwas Weißes schimmern; sie mußte es sein! Vergebene Hoffnung, es war ein Stück Linnen, das zum Bleichen am Abhang eines Rasenhügels ausgespannt zwischen den kaum belaubten Büschen hindurchschimmerte. Nunmehr war er der Stadt so nahe, daß Bianka unmöglich schon hier angehalten haben konnte. Da bewegten sich, wie er in der grauenden Dämmerung unterschied, zwei Gestalten im nächsten, etwa hundert Schritte entfernten Gebüsch. Sein Herz schlug freudig empor; er eilte näher. Es waren Frauen, sie trugen hohe Reisehüte, er sah ein weißes Tuch schimmern. O Himmel, sie ist es, jauchzte sein Herz aus tiefster Hoffnungslosigkeit wieder in seliger Freude auf. Als er ihnen näher gekommen war, sah er, daß sie im Gespräch vertieft, den Blick aufwärts nach den mit Schnee bedeckten Bergspitzen gerichtet hatten, die, da die Sonne schon versunken war, kalt, leichenähnlich, gleich blassen Gespenstern in den dunkelnden Horizont emporragten. Paul war nicht bei den Frauen, überdies ihre Haltung durchaus gleichgültig und ruhig; das machte Ludwig sehr zweifelhaft. Jetzt wandten sie sich, durch sein hastiges Heranschreiten aufmerksam gemacht, um. O Himmel, er sah, daß er sich völlig getäuscht hatte!

Wie niedergeschmettert stand er da; kaum vermochte er sich so weit zu fassen, daß er sie anredete und fragte, ob sie nicht zwei Damen in Begleitung eines Dieners gesehen hätten. Die eine verneinte es, die andere erinnerte jedoch daran, daß sie vor einer Stunde bei ihrem Spaziergange im Tal weiter aufwärts in der Ferne zwei Damen in Begleitung eines Mannes gesehen hätten, die ihren Weg der Rhone entgegen nahmen. Ludwig dankte hastig für die Nachricht, und glücklich, nun wenigstens ein Zeichen gefunden zu haben und zu wissen, wohin er sich wenden müsse, stürzte er wieder zurück, dem Lauf des schäumenden Stromes entgegen. Die Angst der Eile gab ihm Flügel. Bald hatte er die Stelle wieder erreicht, von wo er ausgegangen war; er verfolgte jetzt den Uferpfad rastlos weiter. Doch nun war es in diesem tiefen, von beiden Seiten durch die hohe Alpenmauer eingeschlossenen Tale bereits völlig dunkel und unter einer Stunde keine Hoffnung da, daß das Mondlicht dem Wanderer zu Hilfe kommen werde. Schauerliche Einsamkeit umgab ihn; die Gegend wurde bald rauh und wild. Die Bergmassen türmten sich immer schroffer und kolossaler empor; die Zinnen der Schneehörner glänzten hoch über den dunkeln Felsmauern. Reißend schoß die Rhone neben ihm dahin und krönte ihre schwarzen Wellen mit zischendem Schaum. Jetzt wurde das Ufer durchaus steil und bald darauf hing der Fels sogar drohend weit herüber. Ludwig erkannte, daß er hier an der Stelle sei, wo er vor länger als einer Stunde auf der Höhe stand; der Pfad schmiegte sich unter dem gewölbten Felsen hindurch. Vielleicht war Bianka eben in dem Augenblicke mit bangem, trauerndem Herzen unten vorübergeschritten, während er droben in tödlicher Angst stand und nichts hörte als den tobenden Strom, der hier wild durch das steile Geklüft brach. Der Weg wurde sehr beschwerlich, ja, bei der immer tiefer dunkelnden Nacht gefahrvoll. Denn er klimmte bald steil an den Felswänden hinauf, bald senkte er sich jäh wieder abwärts. Ludwig freute sich fast dieser Gefahren und Mühseligkeiten, weil er hoffte, Bianka werde dadurch so aufgehalten worden sein, daß er sie bald erreichen müsse. Mit rüstiger Kraft drang er vorwärts, obwohl seine Hände bluteten, und auch die von dem hastigen Lauf glühend brennenden Füße ihn bei jedem Schritte heftig schmerzten. Eine volle Stunde dauerte dieser beschwerliche Weg; da zog er sich entschieden die Höhe hinan, und bald sah sich Ludwig auf dem Rücken eines Hügels, wo jedoch die Spur des Pfades ihm teils auf felsigem Gerüll, teils in niedrigem Büschwerk verschwand. Jetzt faßte ihn die Angst der Ungewißheit aufs neue; denn wie leicht konnte er hier vollends die Richtung verfehlen und bei der Wildheit des Tales in ganz unwegsame Gegenden geraten! Zwar tröstete ihn der Gedanke, daß die Hauptrichtung des Weges keine andere sein konnte, und er daher vielleicht am nächsten Morgen einzubringen imstande war, was er heute versäumte; doch welche Pein der Besorgnis mußte er bis dahin erdulden! Etwas war jedenfalls gewonnen, wenn er soviel als möglich vorwärts eilte; er behielt daher im allgemeinen, so gut es sich tun ließ, die Richtung bei und gönnte sich nicht Rast noch Ruhe. Abermals verging eine Stunde. Da schimmerte ihm ein Licht entgegen; er war einer Hütte nahe, der ersten menschlichen Wohnung, die er bis jetzt auf seinem Pfade angetroffen hatte. Ein süßes Gefühl der Ahnung sagte ihm, dort werde er die Geliebte treffen, denn weiter konnte ihr schwacher Fuß sie unmöglich geführt haben. Hastig ging er dem freundlichen Glänze des Lichtes entgegen; in wenigen Minuten hatte er das Haus erreicht. Er pochte. »Wer ist da?« ließ sich eine rauhe männliche Stimme vernehmen, und zwei schwere Holzschuhe klappten im langsamen Takte auf dem Boden heran. – »Ein verirrter Wanderer«, entgegnete Ludwig. – »Schon gut, Freund, ich werde gleich öffnen«, antwortete es drinnen.

Sein Herz schlug heftig in der atemlosen Brust; jede Sekunde, die bis zum Öffnen der Tür verging, spannte ihn auf eine unbeschreibliche Folter der Angst. Der Riegel wurde endlich zurückgeschoben, und ein Greis mit silberweißem Haar und Bart stand, von einem flammenden Holzspan, den er in der Hand hielt, seltsam beleuchtet, vor ihm und hieß ihn freundlich willkommen.

»Habt ihr keine andern Gäste bei euch, guter Vater?« fragte Ludwig.

»Keine Seele,« erwiderte der Greis; »wer sollte auch hierher in die Wildnis zu mir armem, altem Manne kommen! Ich fürchte nicht einmal böse Gäste, denn bei mir ist nichts zu finden, was einen habsüchtigen Sinn reizen könnte. Aber wer seid ihr, lieber Herr, und wie kommt ihr so spät in der Nacht noch hierher?«

Es dauerte einige Augenblicke, bevor Ludwig, von seiner nun völlig fehlgeschlagenen Hoffnung fast betäubt, zu antworten vermochte. »Ich bin im Gebirge verirrt; ich bin von den Meinigen, um die ich noch in der größten Sorge schwebe, abgekommen. Sie wollten von Brieg aus das Tal an der Rhone hinauf, ich folgte ihnen nach und bin, ohne eine Spur von ihnen zu treffen, hier endlich auf die erste menschliche Wohnung gestoßen, wo ich sie durchaus vermuten mußte, da meines Wissens nirgends ein Weg zur Seite möglich war!« –»Doch, doch,« erwiderte der Greis; »der Hauptweg im Tale führt am andern Ufer der Rhone entlang; aber ihr habt vermutlich in der Dunkelheit den Steg, der über das Wasser leitet, nicht bemerkt. Dieser Pfad verliert sich hier in unserer Wildnis.«

»Könnt ihr mich auf den rechten Weg führen, guter Vater?« rief Ludwig lebhaft. »Ich will's euch reichlich belohnen.« – »Morgen früh recht gern, mein lieber Herr,« entgegnete der Alte; »aber heute abend vermögen es meine schwachen müden Glieder nicht mehr, denn der Weg ist im Finstern äußerst ge- fährlich selbst für die besten Bergsteiger, die ihn genau kennen. Hinanwärts geht es noch, aber hinunter, wo wir steil bergab müssen, ist es gar nicht zu wagen.«

Ludwig wäre, so erschöpft er sich fühlte, mit Freuden die ganze Nacht hindurch gewandert; doch ein Blick auf den schwachen, zitternden Greis überzeugte ihn, daß er das Unmögliche von demselben verlangen würde, wenn er ihn beredet hätte, ihn gleich zu geleiten. Er nahm daher die gastliche Einladung, die Nacht in der Hütte zuzubringen, an, und folgte dem gutmütigen Wirte in die kleine, enge, von dem brennenden Holzspan düster erleuchtete Stube. »Es tut mir nur leid, daß mein Sohn nicht daheim ist,« sprach der Alte, »der würde besser für euch sorgen können. Aber er kommt erst morgen abend von Sion zurück, wo er zur Hochzeit seiner Base geladen ist. So müssen wir uns denn schon allein behelfen.«

»Lieber Vater,« sprach Ludwig, »ich bedarf nur der Ruhe, und die würde mich doch fliehen, selbst wenn ich hier das üppigste Lager fände. Das einzige, was ich euch bitten will, ist, daß wir morgen recht zeitig aufbrechen.«

»Das wollen wir,« sprach der Greis, »denn von drei Uhr an leuchtet uns der Mond schon; aber nehmt jetzt mit einem Stück schwarzes Brot und Alpenkäse fürlieb; auch einen Trunk Milch kann ich euch geben. Heute früh hatte ich noch einen Rest Wein, den habe ich aber wahrlich schon selbst getrunken,« Ludwig genoß das ländliche Mahl mit dem Alten. Es würde ihm herrlich gemundet haben, wenn nicht Schmerz und bange Sorgen sein Herz erfüllt hätten. Indessen wider Willen gaben ihm Ruhe und Speise frische Kräfte und damit zugleich heitere Hoffnungen zurück. Er empfand bald die große körperliche Ermüdung, die sein angestrengtes rastloses Eilen auf beschwerlichen Pfaden, das über fünf Stunden gedauert hatte, nach einer fast schlaflosen Nacht und der gestrigen Tageswanderung wohl erzeugen mußte. So erschien das Lager von duftendem Alpenheu, welches der freundliche Alte bereitet hatte, ihm sehr willkommen, und er sank bald in tiefen Schlaf, der, wie unruhige Träume auch durch seine Seele zogen, ihn doch zu der neuen mühseligen Wanderung stärkte.


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