Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Zweites Kapitel.

Man war auf diese Art in ein sehr lebhaftes Gespräch geraten, dem es keinen Eintrag tat, daß es sich oft in drei verschiedenen Zungen kreuzte. »Es sollte mich wundern,« sprach die Gräfin, als eine augenblickliche Pause eingetreten war, »wenn der Oberst ausbliebe, da er sonst nicht leicht einen Abend bei mir zu versäumen pflegt. Zwar weiß ich sehr wohl, daß hier im Hause ihn niemand fesselt; allein er trifft nicht selten einen Liebling hier, und auch heute wird es der Fall sein, wiewohl ihm anfangs diese Überraschung nicht zugedacht war.«

»Und wen meinen Sie,« fragte Bernhard mit einer gewandten Wendung; »wen könnten Sie noch erwarten, der geeigneter wäre, einen Mann an dieses Haus zu fesseln, als diese bereits versammelten Damen?«

»Das bleibt, hoffentlich aber nur noch ganz kurze Zeit, mein Geheimnis, bis ich durch die Tat antworten kann. Aber wahrlich, ich kann es schon«, rief die Gräfin, nach der Tür blickend, und eilte der jungen Dame, welche eben eintrat, entgegen. »O wie gütig,« redete sie die Kommende an, »daß Sie meiner späten Einladung ein so freundliches Ja gesagt haben. Aber Ihre Töne lockten mich so süß, unwiderstehlich, daß ich nicht umhin konnte, die unbescheidene Bitte zu wagen.«

»Müssen Sie mich denn immer beschämen?« entgegnete Françoise Alisette, denn sie war die eben Eingetretene, mit dem anmutigsten Klang der Stimme, indem sie sich neigte, um wie mit kindlicher Aufmerksamkeit, zugleich aber auch mit Ehrfurcht vor dem hohen Rang der reichen Gräfin, die Hand derselben zu küssen. Die Gräfin hinderte es jedoch und küßte das anmutige Mädchen recht herzlich auf die frischen Lippen. »Sie wissen es nur gar zu gut,« sprach diese, »daß es mich über alles glücklich macht, wenn ich einen Abend bei Ihnen zubringen kann.«

In dem Wesen dieses Mädchens lag eine ganz eigene Mischung von Zärtlichkeit und Schalkhaftigkeit; man wußte kaum, ob sie es ernstlich meinte, oder ob sie Spott mit der Gräfin trieb. Indessen, mochte auch das letztere der Fall sein, man hätte es ihr doch vergeben müssen, weil es mit einer so liebenswürdigen Anmut geschah, daß an ein Erzürnen gar nicht zu denken war. An der Hand der Gräfin näherte sich Françoise jetzt der Gesellschaft, grüßte mit Freundlichkeit, als ob sie mit allen bekannt wäre, rings im Kreise herum und nahm dann zwischen Jaromir und Bernhard Platz. Sie begann sogleich ein munteres Gespräch, auf welches Bernhard mit Leichtigkeit einging; Jaromir schien sich weniger um die anmutige Nachbarin zu kümmern, sondern setzte seine vertraute Unterhaltung mit Lodoiska fort. Alisette war bald munter, bald weich; mit einer unglaublichen Schnelligkeit ging sie aus einer Stimmung in die entfernteste, entgegengesetzte über, ohne daß dabei irgendeine Absichtlichkeit oder Gewaltsamkeit zu bemerken gewesen wäre. Ihre Züge bildeten, sei es nun aus Gewohnheit der Schauspielkunst, oder aus natürlicher Anlage, stets den getreuesten Spiegel ihrer Empfindungen oder vielmehr ihrer Äußerungen. Dadurch gewann sie einen ganz eigenen, schwer beschreiblichen Reiz; ihr Gesicht glich in gewisser Hinsicht dem eines Kindes im zartesten Alter, wo sich auch die leisesten Regungen der Freude und der Schmerzen sogleich auf das bestimmteste ausprägen. Nichts aber kam ihrem Entzücken gleich, als sie hörte, daß Bernhard in England und Schottland gewesen sei. »Ach,« rief sie aus, »so finde ich doch endlich jemand, mit dem ich von dem Lande reden kann, wo ich meine schönsten Tage verlebte; freilich aber auch meine traurigsten«, setzte sie plötzlich betrübt hinzu. Bei den ersten Worten glänzte ihr Angesicht so heiter wie der Frühlingshimmel, und ihre lächelnden Lippen zeigten die blendendste Perlenschnur kleiner Zähne; mit dem Zusatz aber schien es, als falle ein Wolkenschatten auf die freie, heitere Stirn, und fast glaubte man den Blick durch eine Träne getrübt zu sehen.

»Ihre freudigsten und Ihre betrübtesten Tage zugleich verlebten Sie dort?« fragte Bernhard. »Ich könnte von mir fast dasselbe sagen. Aber darf ich Sie um das fragen, was Ihr Glück störte?« setzte er hinzu. »Denn nach dem, was es begründete, zu forschen, würde etwas verwegen sein.«

»Wie mutwillig und eitel zugleich zeigen Sie sich,« rief Alisette mit komischem Zorn aus, und sogleich legte sich ihre Stirn in krause Falten; »recht wie ein Mann; denn wahrlich, ihr alle bildet euch ein, man könne nur durch euch glücklich werden.« – »Und ist es nicht schon bescheiden genug,« entgegnete Bernhard auf den Scherz eingehend, »daß ich wenigstens auch andere Ursachen zum Unglück annehme?« – »Nein, darüber müssen Sie nicht scherzen,« sprach Françoise wehmütig, aber leise, so daß sie ihre Worte nur an Bernhard richtete; »ich verlor meine einzige, über alles geliebte Schwester dort, die kurz zuvor Witwe geworden war und mir kein anderes Andenken hinterließ als ihr verwaistes kleines Töchterchen Nadine, die mir dereinst die Mutter ersetzen soll. Ach, mein Herr, Sie glauben nicht, wieviel Jammer sich im Leben zusammenhäufen kann! Ihr Reichen und Vornehmen wißt nicht, in wie viele Bedrängnisse der Arme und besonders ein hilfloses Mädchen nur zu leicht kommt! Wir müssen davon abbrechen, es taugt nicht für so viele; erzählen Sie mir lieber, wie es Ihnen in England gefallen hat.«

»Nicht so gut als in Schottland,« antwortete Bernhard; »denn dort zog mich die wunderbare Natur des Landes und der Menschen an, während mich in London die wunderliche Unnatur der letztern zurückstieß. In Schottland fand ich auch tausendmal mehr Gegenstände für meinen Pinsel – denn ich bin Maler – als in England.«

»Sie sind Maler!« rief Alisette freudig aus. »O das ist herrlich! Da haben Sie gewiß viele Zeichnungen mitgebracht, die Sie mir zeigen müssen, denn auch ich bin das Land vielfältig durchreist.« – »Sehr gern,« entgegnete Bernhard; »doch für jedes Blatt, welches ich Ihnen zeige, müssen Sie mir ein Lied singen!« – »Tausend, mit Freuden«, sprach Alisette munter, und jede Spur des Ernstes oder Schmerzes war aus ihren Zügen verschwunden. »Oder glauben Sie wohl, ich sänge ungern? Ach, meine ganze Seele ist glücklich, wenn nur singen kann.« Bernhard wollte ihr eben sagen: nun, so machen Sie doch sich und uns zugleich glücklich, als ihr Gespräch durch das Eintreten eines Fremden, des Obersten Regnard, unterbrochen wurde. Dieser war ein stattlicher Mann, vielleicht vierzig Jahre alt; doch schienen seine Züge anzudeuten, daß er das Leben rascher genossen habe, als heilsam zu sein pflegt. Seine Stirn wurde durch eine breite Narbe, die sich am Auge nahe den Schläfen herunterzog, nicht entstellt; der Blick hatte nur noch ein abnehmendes Feuer; seine Züge waren bestimmt, bedeutend, Geist verratend, doch ohne Lebendigkeit. Im übrigen besaß er eine große Gewandtheit des Benehmens und jene besonnene Haltung, welche der Franzose selten eher als in den Jahren des Obersten erwirbt. Der Deutsche erlangt sie zehn Jahre früher.

Regnard ging auf die Wirtin zu und begrüßte sie mit dem feinen Anstande des Weltmanns; gegen die übrigen Personen verbeugte er sich im allgemeinen, ohne irgend jemand besonders auszuzeichnen; nur Alisetten warf er einen bekannten, freundlichen Blick zu. »Ich sehe hier,« begann er nach einigen Augenblicken, »etwas doppelt Auffallendes für mich; drei mir ganz fremde Herren in einer mir ebenso unbekannten Uniform. Darf ich Sie bitten,« wandte er sich zur Gräfin, »mich mit meinen Kameraden bekannt zu machen?« Sie stellte ihm die neuen Ankömmlinge vor.

»Also Graf Rasinski wird bald hier eintreffen?« fragte der Oberst, als ihm das Verhältnis der jungen Männer zu diesem bekannt gemacht wurde. »Dies freut mich ungemein, denn wir haben in Spanien und Italien manchen heißen Tag miteinander zugebracht. Ein trefflicher Soldat,« setzte er hinzu, indem er sich halb zur Gräfin, halb zu den jungen Männern wandte; »der Kaiser konnte den Führer eines Freikorps nicht besser wählen. Der Graf hat militärischen Blick, er übersieht den Zusammenhang großer Operationen und beurteilt mit Scharfblick, an welchem Punkte die scheinbar kleine Hilfe zu einer unberechenbar großen wird. Die meisten Führer solcher Korps versehen es darin, daß sie ihre Unternehmungen nur für sich betrachten und ausführen. Es ist ganz gut, wenn man dem Feinde einen Transport Lebensmittel abnehmen kann, wenn man ein Detachement abschneidet oder aufhebt, ihn auch allenfalls einmal nur beunruhigt und dadurch ermüdet; im großen aber wird damit wenig gefördert. Der wahre Parteigänger muß entweder die Rolle der Biene spielen, welche den Jäger in die Hand sticht in dem Augenblicke, wo er abdrücken will; oder er muß im andern Falle die der Maus übernehmen, welche das Netz zernagt, in dem sich der Löwe gefangen hat.«

Der Oberst sprach über militärische Gegenstände mit einer großen Klarheit und sehr entschieden, ohne jedoch in jenen unangenehmen Ton zu verfallen, welcher stets vorauszusetzen scheint, daß man völlig Unkundige zu unterrichten und ihnen ganz besondere Schätze des Wissens mitzuteilen habe. Er warf seine einsichtigen Bemerkungen wie beiläufig, als Dinge, die sich eigentlich von selbst verstehen, hin, und in seiner sich überhaupt wenig ändernden Miene zeigte sich nichts, was eine prunkende Anerkennung des Werts einer ausgesprochenen Meinung zu erwarten schien. So auch jetzt, wo alles, was er sagte, eigentlich nur den Charakter eines Lobspruchs für Rasinski trug. Jaromir beantwortete die Bemerkungen des Obersten beistimmend, wodurch sich ein Gespräch über militärische Gegenstände entspann, dem Bernhard und Ludwig mit Anteil folgten. Dies zog sie ein wenig von der Unterhaltung mit den Damen ab, und sie wurden daher um so angenehmer überrascht, als plötzlich einige Akkorde auf dem geöffneten Flügel ertönten. Es war Françoise Alisette, die, zum Singen aufgefordert, sich mit heiterer Anmut an das Instrument gesetzt hatte und, indem sie wie unwillkürlich einige Griffe tat, sinnend aufwärts blickte, als suche sie etwas, das sie vortragen möchte. »St!« sprach der Oberst. »Nun laßt uns zuhören, meine Freunde! Ewig schade ist es um jeden Laut dieser Silberstimme, der ungehört verloren geht.«

Alle wandten die Blicke auf Alisetten, welche jetzt mit leichtem Wiegen des holden Köpfchens eine französische Romanze sang, deren sanfte, wellenförmig auf- und niederschwebende Melodie von ihr mit zartester Innigkeit vorgetragen wurde. Es war ein in der Tat reizendes Schauspiel, sie dabei anzusehen; denn ohne irgendeine Absichtlichkeit, ohne irgend gemachtes Mienenspiel anzuwenden, folgte doch der Ausdruck ihrer Züge dem der Worte und Töne bis in die feinsten Beziehungen nach. Die schönen Wellenlinien ihres Antlitzes schienen durch den zartesten Hauch der Klänge bewegt zu werden, wie der klare Spiegel eines Weihers sich leise wehenden Lüften mit sanftem Wiegen anschmiegt. Und welch ein namenloser Reiz lag in diesen silberhellen Tönen, die sich so schmeichelnd an das Ohr legten, mit so rührender Bitte an das Herz zu dringen schienen! Alles lauschte mit zurückgehaltenem Atemzuge. Bernhard ließ seine forschenden Blicke ringsumher schweifen; er hätte gern alles porträtiert, was im Zimmer Auge und Ohr hatte; denn der Anteil, welcher sich auf jedem Angesicht ausdrückte, verlieh auch jedem einen besondern malerischen Charakter. Von jeher gewohnt, den Ausdruck der Züge aus den verborgenen Tiefen der Seele zu erklären, weil er überzeugt war, daß alle Formen einem geistigen Gesetz gehorchten, welches uns nur nicht immer gleich verständlich ist, beschäftigte er sich noch jetzt damit, diese schönste Hieroglyphenschrift zu enträtseln, wobei man freilich oft noch in viel dunklere Irrwege gerät, als wenn man die Geheimnisse ägyptischer Katakomben aus der magischen Schrift der Priester zu enthüllen sucht. Indessen entgingen ihm doch zwei Bemerkungen nicht. Lodoiska schien weniger durch den Gesang ergriffen zu werden, als mit gespannter, fast unruhiger Aufmerksamkeit die Wirkung desselben auf Jaromir zu beobachten; dieser dagegen war so versunken in den Anblick der Sängerin, daß er es nicht bemerkte, wie dieselbe in fast auffallender Weise Blicke und Worte nur an ihn richtete. Noch ein drittes entdeckte Bernhard kurz vor dem Schlusse des Liedes; nämlich daß der Oberst den letzten Teil seiner Wahrnehmung ebenfalls gemacht zu haben schien und darüber die Stirn in finstere Falten zog. Bernhard war zu geübt in der Schule der Erfahrung, um aus dem, was er sah, nicht mancherlei Mutmaßungen zu schöpfen. Einige Äußerungen der Gräfin hatten es deutlich zu verstehen gegeben, daß der Oberst sich sehr angelegentlich um die Gunst der reizenden Alisette bewerbe; wenn diese daher dem schönen, jugendlichen Jaromir den Vorzug gab, so konnte dies zu verwickelten Unannehmlichkeiten führen, da der Oberst nicht aussah wie ein Mann, der einen Nebenbuhler geduldet hätte. Bei allem Schein jungfräulicher Schuldlosigkeit in Françoisens Benehmen und Wesen wollte es Bernhard aber doch bedünken, als könne dieser Schein täuschen. Zu häufig hatte er im Leben schon Gelegenheit gehabt, die Erfahrung zu machen, in welchem Grade die Frauen durch ihr äußeres Wesen ihr Inneres zu verhüllen wissen, und wie schwer es hält, zu unterscheiden, ob ein unschuldiger Blick aus einer unschuldigen Seele kommt. Er hatte wenig Grund zum Verdacht gegen Alisetten, und was er soeben bemerkte, konnte ebenso leicht Zufall als Absicht sein, da Jaromir ihr gerade gegenüberstand; indessen war es ihm, als rufe eine innere Stimme ihm zu: der blaue, klare Spiegel dieses Gewässers, welches Sonnenlicht und Himmel in so schöner Verklärung zurückwirft, bedeckt eine gefährliche Tiefe! Dagegen sprachen Lodoiskas edle, sanfte Züge unfehlbar das tiefste Innere ihrer Seele aus, und ohne durch den Reiz dieser Gestalt mehr als ganz allgemein angeregt zu werden, schien ihr Bild ihm doch unabweislich zuzurufen: dieser darfst du trauen; ihr Auge ist auch ihr Herz. Aber schien nicht ebendieses Auge, wie es sich so unruhig auf Jaromir heftete, zu sagen: Du trauter Jugendfreund, dich liebe ich aus tiefster treuester Brust! Muß ich sehen, daß diese lockende Stimme dich mit den silbernen Zauberfäden ihrer Töne umspinnt, um dich mir zu entführen?


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