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Eine Hexe nimmt sich meiner an
Indem ich so lag und allerhand Betrachtungen anstellte, kühlte sich mein Affekt allmählich ab. Ich betrachtete nun meinen Zustand in einem ganz anderen Licht als zuvor, und das Resultat meiner Überlegung bestand darin, womöglich aufzustehen und mich nach irgendeinem bewohnten Ort hinzuschleppen, wo ich auf Hilfe rechnen könnte.
Nachdem ich mit Mühe auf die Beine gekommen war, untersuchte ich meinen Körper und fand, daß ich keinen weiteren Schaden als zwei große Quetschwunden hatte, die eine am vorderen, die andere am hinteren Teil meines Kopfes. Sie schienen durch ein und dieselbe Waffe, nämlich durch einen Pistolenschaft bewirkt worden zu sein.
Ich sah in die See hinaus und erblickte keine Überbleibsel vom Schiff mehr. Daraus schloß ich, es sei in Stücke gegangen und die noch darauf befindlich gewesenen Personen wären umgekommen. Allein wie ich nachher erfuhr, hatte der Kanonier, der mehr Klugheit besaß als Crampley, bemerkt, daß es Flut war, als dieser das Schiff verließ, und daß es dadurch wieder flott werden würde. Deshalb gab er sich keine Mühe, an Land zu kommen, sondern blieb an Bord, in der Hoffnung, das Schiff, dessen Befehlshaber die Flucht genommen hatte, wohlbehalten in einen Hafen zu bringen, wofür er ohne Zweifel eine ansehnliche Belohnung erwartete. Er führte sein Vorhaben glücklich aus, und die Admiralität versprach ihm goldene Berge, daß er eines von Seiner Majestät Schiffen gerettet hätte; doch ich habe nie gehört, daß er die erwarteten Früchte dafür geerntet hätte.
Was mich nun anlangt, so richtete ich meine Schritte nach einem kleinen Hause. Unterwegs stieß ich auf eine alte Bootsmannsjacke, die vermutlich der Dieb weggeworfen, der meine Kleidung angezogen hatte. Ein erfreulicher Fund für mich, da ich vor Kälte fast ganz erstarrt war.
Ich zog das Wams an, und meine natürliche Wärme fand sich wieder ein. Dadurch brachen meine Wunden auf, die zu bluten nachgelassen hatten. Dies erschöpfte mich außerordentlich, und ich war daher im Begriff, mich auf das freie Feld hinzulegen, als ich einige Ruten davon links eine Scheune gewahrte. Nur mit genauer Not schwankte ich nach diesem Ort. Ich sah die Tür offen und niemanden darin. Sogleich ging ich hinein und warf mich auf ein Bund Stroh, in der Hoffnung, es würde bald jemand kommen und mir Beistand leisten.
Einige Minuten hatte ich erst unter diesem Obdach gelegen, als ich einen Landmann mit einer Heugabel hereintreten sah. Eben war er im Begriff, sein Instrument in das Stroh zu stoßen, das mich bedeckte, und würde mir dadurch höchstwahrscheinlich den Rest gegeben haben, hätte ich nicht gar entsetzlich zu stöhnen angefangen, nachdem ich vergebens zu sprechen versucht hatte.
Diese kläglichen Töne machten den Bauern stutzig. Er fuhr zurück, und wie er einen mit Blut besudelten Menschen entdeckte, blieb er zitternd und bebend mit vorgestreckter Forke stehen. Das Haar war emporgesträubt, die Augen stier, die Nasenlöcher und der Mund weit offen. Zu einer anderen Zeit würde mich diese Figur weidlich belustigt haben. Er blieb länger als zehn Minuten in derselben Stellung. In der Zeit machte ich verschiedene fruchtlose Versuche, ihn um Beistand und Mitleid anzuflehen. Allein die Zunge versagte mir, und ich war nicht imstande, etwas anderes hervorzubringen als tiefe Seufzer. Endlich kam ein alter Mann herein. Wie er jenen in der obenbeschriebenen Positur erblickte, rief er: »Gott sei uns gnädig! Der Bursche ist behext! Dick, so höre doch, komm zu dir!« Dick aber, ohne die Augen von dem Gegenstand seines Schrecks zu wenden, erwiderte: »O Vater, Vater! Entweder liegt hier der Teufel oder ein toter Mann. Wer von beiden, weiß ich nicht, aber er stöhnt fürchterlich.«
Der Vater, dessen Sehvermögen keines von den besten war, zog die Brille heraus, versah seine Nase damit und nahm mich über des Sohnes Schultern in Augenschein. Kaum hatte er mich erblickt, als ihn ein noch heftigerer Schauer überfiel als seinen Dick. Mit gebrochner Stimme wandte er sich folgendermaßen an mich: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes beschwöre ich dich, wenn du Satan bist, hebe dich hinweg zum Roten Meer; bist du aber ein Ermordeter, so sprich, daß wir dir ein christliches Begräbnis geben können.«
Allein ich war nicht imstande, ihm in dem letzten Punkt Genüge zu leisten. Daher wiederholte er seine Beschwörungen zum zweitenmal, doch umsonst. Beide standen noch eine gute Weile Todesangst aus. Endlich tat der Vater dem jungen Menschen den Vorschlag, näher hinzutreten und die Erscheinung genauer zu beäugen. Dick aber war der Meinung, das gebühre sich für den Vater; der wäre schon ein alter Mann, habe seine meiste Arbeit auf der Welt bereits getan; und ginge es ihm ja etwa schief, so habe das doch nicht so viel zu sagen wie mit ihm, der, wenn er durchkäme, doch noch was in der Welt vor sich bringen und Kinder hineinsetzen könnte.
Diese vernünftigen Gründe schlugen bei dem Alten nicht an, der sich immer so postierte, daß Dick sich zwischen ihm und mir befand. Ich bemühte mich indes, eine Hand aufzuheben und ihnen ein Zeichen zu geben, mir beizustehen; allein meine Kräfte reichten nur so weit, daß ich ein Rascheln im Stroh verursachte. Dies versetzte den jungen Bauer in eine solche Bestürzung, daß er zur Tür hinaussprang und den Vater bei seiner Flucht über den Haufen warf. Der alte Mann wollte mit dem Aufstehen keine Zeit verlieren, daher kroch er rückwärts, wie ein Krebs, in großer Eile fort, bis er über die Türschwelle gekommen war, und murmelte unterwegs lauter Beschwörungen.
Es ging mir ungemein nahe, durch die Unwissenheit und Feigheit dieser Bauern mich in der Gefahr zu befinden, umzukommen. Schon begannen meine Lebensgeister allmählich wieder abzunehmen, als ein altes Weib in die Scheune trat, welches von den beiden Flüchtlingen begleitet wurde. Sie ging mit großer Unerschrockenheit nach dem Ort hin, wo ich lag, und sagte: »Wenn's der Teufel ist, so hab ich keine Angst, und wenn's ein Toter ist, so kann er uns nichts zuleide tun.« Als sie mich genau beäugt hatte, fuhr sie fort: »Der Teufel ist höchstens in euren närrischen Köpfen. Hier liegt ein armer Wicht, der nahe am Verbluten ist. Wenn er stirbt, müssen wir ihn auf unsere Kosten begraben. Darum hol die alte Schiebekarre, Dick, lade ihn auf und fahr ihn vor Gevatter Hodges Hintertür. Der kann für arme Landstreicher eher Geld ausgeben als wir.« Ihr Rat wurde angenommen und unmittelbar ausgeführt. Man karrte mich vor des anderen Pächters Tür und lud mich da wie einen Haufen Mist ab. Ich würde dort zuverlässig eine Beute der Schweine geworden sein, wenn nicht mein Stöhnen die Leute im Hause aufmerksam gemacht und einige davon herausgelockt hätte, um zu sehen, was mir fehle. Allein Hodge glich mehr dem Leviten als dem barmherzigen Samariter; er befahl, daß man mich nach des Pfarrers Wohnung bringen sollte. Dessen Sache, merkte er an, sei es, die christliche Liebe nicht nur zu predigen, sondern auch auszuüben. Er seinerseits täte daran schon genug, daß er seinen Anteil für die Verpflegung der Armen hergäbe, die zu seinem Kirchspiel gehörten.
Als ich vor der Tür des Vikars abgesetzt wurde, geriet dieser in den heftigsten Zorn und drohte, sowohl denjenigen, der mich sandte, als die, welche mich brachten, in den Kirchenbann zu tun, wofern sie mich nicht sofort nach einem anderen Ort hinschafften. Um die Zeit fiel ich durch die bisher ausgestandenen Ungemächlichkeiten in Ohnmacht.
Nachher erfuhr ich, man habe mich im ganzen Dorf von Tür zu Tür geführt, und niemand hätte Menschlichkeit genug gehabt, mir die allergeringste Hilfe zu leisten. Endlich hätte eine alte Frau, die man in der Nachbarschaft für eine Hexe hielt, von meiner jammervollen Lage gehört und mich in ihr Haus aufgenommen.
Die wackere Matrone brachte mich, nachdem sie einen Verband auf meine Wunden gelegt, durch selbstverfertigte Herzstärkungen wieder zu mir. Sie behandelte mich mit äußerster Sorgfalt und Schonung. Sowie ich wieder einige Kräfte bekommen hatte, wünschte sie von meinem letzten Unglück ausführlich unterrichtet zu sein. Diese Befriedigung konnte ich nicht gut einer Person versagen, die mein Leben gerettet hatte. Ich erzählte ihr sonach alle meine Abenteuer ohne Übertreibung oder Rückhalt.
Sie schien voller Verwunderung über den mannigfachen Glückswechsel, den ich ausgestanden hatte, und zog aus meinen bisherigen Leiden eine glückliche Vorbedeutung für die Zukunft. Dann brach sie in Lobsprüche über widriges Geschick mit so vielem Feuer und gesundem Verstande aus, daß ich urteilte, sie müsse bessere Tage als die gegenwärtigen erlebt haben, und daß ich den stärksten Drang fühlte, ihre Lebensgeschichte zu wissen.
Aus einigen mir entfallenen Worten merkte meine Wohltäterin, wonach ich mich sehnte, und sagte mir mit Lächeln, ihre Schicksale wären weder unterhaltend noch außerordentlich, indessen wolle sie mir diese mitteilen, weil ich so offen gegen sie gewesen sei.
»Der Name meiner Eltern«, fuhr sie fort, »kann Sie wenig interessieren, zumal da sie schon seit langen Jahren tot sind. Genug, wenn ich Ihnen versichere, sie waren reich und hatten kein anderes Kind als mich. Ich wurde daher als die Erbin eines beträchtlichen Vermögens angesehen und deshalb von Bewerbern nicht wenig geplagt. Unter der Zahl meiner Bewunderer war ein junger Mann ohne alle Glücksgüter, der weiter keine Aussicht hatte als die Beförderung in der Armee, wo er als Leutnant stand. Dieser liebenswürdige Offizier gewann meine Gewogenheit, die sich bald in die heftigste Leidenschaft verwandelte. Kurz, um Sie nicht mit geringfügigen Umständen aufzuhalten, ich heiratete meinen Geliebten insgeheim.
Wir hatten nicht lange unser Glück in verstohlenen Zusammenkünften genossen, als er Befehl erhielt, mit seinem Regiment nach Flandern zu gehen. Ehe er sich aber auf den Weg machte, schrieb er, wie wir miteinander verabredet hatten, einen Brief an meinen Vater, worin er ihn wegen des Schrittes um Verzeihung bat, den wir ohne sein Vorwissen getan hatten.
Diese Entdeckung geschah während der Zeit, da ich mich auf einer Reise befand. Eben war ich im Begriff, nach Hause zurückzukehren, als ich von meinem Vater einen Brief des Inhalts erhielt: Weil ich so pflichtwidrig und niederträchtig gewesen sei, einen Bettler ohne sein Wissen und ohne seine Genehmigung zur Schande seiner Familie zu heiraten und dadurch alle seine Hoffnungen zugrunde zu richten, so überließe er mich dem elenden Schicksal, das ich mir bereitet hätte, und verböte mir hiermit, je wieder einen Fuß über seine Schwelle zu setzen.
Dieser strenge Urteilsspruch wurde von meiner Mutter bestätigt, die mir in einer Nachschrift zu verstehen gab, sie dächte über diese Sache genauso wie mein Vater, ich möchte nur keine Versuche machen, sie auf meine Seite zu bringen; ihr Entschluß sei unwandelbar.
Durch dieses Unglück ganz zu Boden geschlagen, ließ ich eine Kutsche rufen und fuhr nach dem Logis meines Mannes, der auf den Erfolg seines Briefes wartete. Wiewohl er denselben aus meinen Mienen gar leicht entnehmen konnte, so las er dennoch den Brief, den ich erhalten hatte, mit großer Ruhe. Er umarmte mich mit einem äußerst zärtlichen Lächeln, das ich nie vergessen werde, und sagte: ›Ich glaube, die gute Dame, Ihre Mutter, hätte sich die Mühe ersparen können, diese Nachschrift hinzuzufügen. Nun wohlan, meine teure Betty, Sie müssen sich so lange die Gedanken, Kutsche und Pferde zu haben, vergehen lassen, bis ich Kommandeur eines Regiments bin.‹
Dies unbefangene Benehmen unterstützte mich nicht nur bei dem Umsturz meines Glücks, sondern machte mir meinen Gatten jetzt noch werter, da es mich überzeugte, daß er mich ohne alle eigennützige Rücksicht geheiratet habe. Den folgenden Tag wurde ich nebst der Frau eines anderen Offiziers, der lange Zeit der Freund und Vertraute meines Gatten gewesen war, auf einem Dorf, nicht weit von London, in Kost gebracht. Beide nahmen den rührendsten Abschied von uns, gingen nach Flandern und fanden während des ersten Treffens gemeinsam den Tod.
Ich will Sie nicht mit einer Beschreibung unseres unaussprechlichen Grams bei dieser traurigen Nachricht behelligen, deren Erinnerung noch jetzt meine betagten Augen mit Tränen füllt. Als unser heftigster Schmerz sich etwas gelegt hatte und Besinnung uns zu Hilfe kam, fanden wir uns von der ganzen Welt verlassen und in Gefahr, aus Mangel umzukommen. Wir hielten daher um eine Pension an und wurden auf die Liste gesetzt. Dann gelobten wir uns ewige Freundschaft, machten unsere Juwelen und überflüssigen Kleider zu Geld und verfügten uns an diesen Ort, der in der Grafschaft Sussex liegt.
Hier kauften wir dies kleine Haus, wo wir, von aller Gesellschaft abgeschieden, manche Jahre gelebt und unserem Kummer nachgehangen haben. Endlich gefiel es vor zwei Jahren dem Himmel, meine Gefährtin zu sich zu rufen. Seit der Zeit habe ich ein elendes Dasein fortgeschleppt; ich sehne mich stets nach meiner Auflösung und erhoffe jenseits des Grabes die Belohnung für alle meine Leiden.
Doch ich muß Ihnen sagen«, fuhr sie fort, »in was für einem Ruf ich bei den Nachbarn stehe. Meine gewählte Sprache, durch die ich mich von den Einwohnern dieses Dorfes unterscheide, meine eingezogene Lebensart, meine Geschicklichkeit, Krankheiten zu heilen, die ich mir seit der Zeit meines hiesigen Aufenthalts aus Büchern erworben habe, und endlich mein Alter, das alles ist Ursache, daß der gemeine Mann mich für ein übernatürliches Wesen ansieht und mich jetzt wirklich für eine Hexe hält. Der Pfarrer des Kirchspiels, dessen Bekanntschaft zu erlangen ich mir nicht viel Mühe gab, ward über diesen vermeinten Mangel an Ehrerbietung so ärgerlich, daß er nicht wenig dazu beitrug, dieser Meinung Ansehen zu verschaffen. Er ließ nämlich gegen den Pöbel gewisse Winke zu meinem Nachteil fallen. Dieser nimmt überdies an der armen bunten Katze hier mit dem Halsbande sehr vielen Anstoß, die ein Liebling meiner verstorbenen Freundin war.«
Das ganze Benehmen dieser ehrwürdigen Frau war so patriarchalisch, gefühlvoll und menschlich, daß ich eine kindliche Ehrerbietung gegen sie faßte und mir ihren Rat erbat, was ich anfangen sollte, sobald ich imstande wäre, wieder etwas vorzunehmen. Ich hatte in den öffentlichen Blättern gelesen, daß das Schiff, worauf ich gewesen war, wohlbehalten in der Themse eingelaufen sei. Daher faßte ich den Entschluß, nach London zu gehen, um meinen rückständigen Sold und meine Kleider wiederzubekommen. Allein sie redete mir dies Vorhaben gänzlich aus.
»Sie laufen«, sagte sie zu mir, »nicht nur Gefahr, als Deserteur angesehen zu werden, da Sie die Schaluppe verlassen, sondern auch als Meuterer, da Sie Ihren kommandierenden Offizier mißhandelt haben, und Sie sind der hämischen Rache dieses Mannes ausgeliefert. Unterwerfen Sie sich ganz den Launen des Schicksals. Ich will Sie bei einer unverheirateten Dame in der Nachbarschaft unterzubringen suchen, die ich kenne. Sie hat ihren Neffen, der ein junger Fuchsjäger von großem Vermögen ist, bei sich. Wenn Sie imstande sind, sich in den sonderbaren Charakter und die oft launenhaften Manieren dieses Frauenzimmers zu schicken, so können Sie es da recht gut haben. Doch rate ich Ihnen vor allen Dingen, sich von Ihrer Geschichte nicht das geringste merken zu lassen, denn das möchte Ihnen nachteilig sein, und Sie könnten deshalb nicht angenommen werden. Leute von Stand hegen einmal den Grundsatz, keine Person von rechtlicher Herkunft, die sich in Not befindet, in Diensten zu haben, weil sie nur hochmütig, faul und unverschämt werde.«
Ich sah mich bei der verzweifelten Lage, worin meine Angelegenheiten waren, genötigt, diesen demütigenden Vorschlag nicht von der Hand zu weisen. Meine Wirtin stellte mich wenige Tage nachher der Dame als einen jungen Menschen vor, den seine Verwandten gegen seinen Willen zur See geschickt, der Schiffbruch gelitten hätte, ausgeplündert worden sei und dadurch nur noch mehr Abneigung gegen diese Lebensart bekommen habe. Dies hätte ihn denn zu dem Entschluß gebracht, lieber Lakai zu werden als noch einmal, und zwar aus freien Stücken, wieder an Bord irgendeines Schiffes zu gehen. Das Fräulein nahm mich an.
Ehe ich meine neue Stelle antrat, gab mir meine Wohltäterin eine Skizze von dem Charakter meiner künftigen Gebieterin, damit ich um so eher wüßte, wie ich mich gegen sie zu benehmen hätte. »Diese Dame«, sagte sie, »ist eine vierzigjährige Jungfer, nicht so merkwürdig wegen ihrer Schönheit als wegen ihrer Gelehrsamkeit und ihrer Neigungen, derentwegen sie in der ganzen Gegend berühmt ist. Sie ist in der Tat ein wahrhaft gelehrtes Frauenzimmer. Sie jagt immer tiefer gehenden Kenntnissen so eifrig nach, daß sie darüber ihre Person bis zur Schlamperei vernachlässigt. Diese Versäumnis, nebst ihrer Verachtung gegen den männlichen Teil der Schöpfung, scheint ihrem Neffen eben nicht zuwider zu sein, weil er dadurch ihr ansehnliches Vermögen wahrscheinlicherweise in der Familie behalten wird. Deshalb erlaubt er ihr auch, ganz auf ihre eigene sonderbare Art zu leben, und bezeigt sich gegen alle ihre wunderlichen Launen gefällig. Ihre Zimmer liegen von dem übrigen bewohnten Teil des Hauses etwas entfernt und bestehen aus einem kleinen Eßsaal, einer Schlafkammer und einer Studierstube. Sie hält sich eine Köchin, eine Kammerfrau und einen Bedienten. Nur selten ißt oder spricht sie mit jemandem aus der Familie, ihre Nichte, ein sehr liebenswürdiges Geschöpf, ausgenommen, die sich, zum Nachteil ihrer Gesundheit, nach allen ihren Grillen richtet und ganze Nächte mit ihr wach bleibt.
Ihre künftige Gebieterin, mein lieber Roderick«, fuhr die Erzählerin fort, »sollen Sie wissen, ist zu sehr Philosophin, um sich von den Gewohnheiten der Welt beherrschen zu lassen. Daher schläft und ißt sie nie, wenn andere Leute dies tun. Unter mehreren sonderbaren Meinungen ist sie den Grundsätzen der Rosenkreuzer zugetan und glaubt, daß Erde, Luft und Meer von unsichtbaren Wesen bewohnt werden, mit denen das menschliche Geschlecht Verkehr und innige Bekanntschaft unter der leichten Bedingung eines keuschen Wandels haben kann.
Sie hoffte daher, als sie einst von meiner Katze und mir gehört hatte, eine Bekanntschaft von der Art zu erlangen. Zu dem Zweck machte sie mir einen Besuch, um, wie sie mir nachher gestand, mit meinem ›spiritus familiaris‹ in Beziehung zu kommen. Es kränkte sie sehr, als sie sich in ihrer Erwartung getäuscht fand. Da sie durch ihren Hang zu Visionen von der Welt abgezogen wird, so befindet sie sich außerstande, auf die gewöhnlichsten Vorfälle des Lebens achtzuhaben. Deshalb ist sie öfters so abwesend, daß sie ganz seltsame Mißgriffe und Ausschweifungen begeht. Sie werden sonach wohl tun, wenn Sie denselben so gut abzuhelfen suchen, als Ihre Klugheit es Ihnen jedesmal eingibt.«