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Neuntes Kapitel

Das Dorf Faschwitz ist ein Experiment der Regierung. Das Gut, eines der größten der Gegend, war, wie fast alle in diesem Teil des Landes, ursprünglich im Besitz einer adeligen Familie gewesen und bei ihrem Aussterben als erledigtes Lehen an die Krone zurückgefallen. Diese hatte, um sich einen Stamm kleinerer Grundbesitzer oder freier Bauern zu schaffen, an denen es dort fast ganz gebricht, hier und an anderen Orten förmliche Bauernkolonien gegründet, indem sie große Lehengüter parzellierte und die einzelnen Parzellen zu Spottpreisen an Liebhaber verkaufte. Der Faschwitzer Gemeinde hatte sie eine Kirche, einen Prediger in den Ort geschickt; es war nicht die Schuld der Regierung, wenn die Faschwitzer nicht gediehen.

Indessen stand zu wünschen, daß die Faschwitzer von den übrigen ihnen gewährten Vorteilen und Vorzügen einen besseren Gebrauch machten als von der Gelegenheit, sich allsonntäglich geistige Nahrung zu verschaffen, denn Oswald fand, als er sich durch eine Seitentür – die Haupttür war verschlossen – Eingang verschafft hatte, daß die »andächtigen Zuhörer« aus einigen Kindern, die wohl zum Konfirmandenunterricht gingen und also ex officio da waren, einigen alten Frauen, die der langen Gewohnheit bis ans Ende treu bleiben, und aus einigen Gutsbesitzerfamilien der Nachbarschaft, die ihren Hörigen ein gutes Beispiel geben wollten, bestand. Das Innere der Kirche bildete einen mäßig großen, wohlerhellten, nicht gewölbten Saal, in dem Kanzel, Altar und Bänke schicklich verteilt waren – alles sehr neu, sehr zweckmäßig – und sehr nüchtern. Da gab es keine kleinen buntgemalten Fensterscheiben, kein Altarbild, keine pausbäckigen Engel in Bronze oder Holz, keine Votivtafeln, keine gemütlichen Beziehungen zu der überirdischen Welt, zu welcher ihm die Kirche eine Vorhalle ist, einen Ausdruck zu verschaffen sucht. Das einzige Poetische in der Kirche waren die Schatten der Linden vor den Fenstern, die auf der hellen gegenüberstehenden Wand hin und her wogten, und die breiten Lichtstreifen, die schräg durch den Raum fielen und der Phantasie eine goldene Brücke bauten, aus dieser nüchternen Atmosphäre zu entrinnen in den Sommermorgen, der draußen warm und duftig auf Wiesen, Feldern und Wäldern lag. Von der Zuhörerschaft schien indessen niemand dieses Weges zu bedürfen oder ihn praktikabel zu finden, mit Ausnahme etwa eines hübschen zehnjährigen Mädchens mit langen blonden Locken, die wohl ein lebhaftes Verlangen nach den bunten Blumen und weißen Schmetterlingen im Garten ihres Vaters, eines dicken Gutsbesitzers, der neben ihr andächtig nickte, empfinden mochte, und deswegen von der hageren Gouvernante oft zur Ruhe ermahnt werden mußte. Im übrigen trugen die Gesichter aller Anwesenden entschieden das Gepräge von Leuten, die ihre Gedanken zu Hause gelassen haben, und im besten Falle von Menschen, die sich mit Anstand langweilen.

Und in der Tat, es wäre ein Wunder gewesen, wenn diese Gemeinde sich von dieser Predigt hätte erbauen lassen und von diesem Prediger. Oswald, der der Kanzel gegenüber hinter der Gutsbesitzerfamilie zu sitzen gekommen war, erkannte auf den ersten Blick, den er auf den Prediger richtete, und nach den ersten Worten, die er aus des Mannes Munde vernahm, daß hier zwischen Geistlichem und Gemeinde ungefähr so viel Sympathie bestehe, wie zwischen einem schriftgelehrten Missionär und einem Stamme gutmütiger wilder Menschen. Auch schien der Prediger selbst, ein kleiner, schmächtiger Mann von etwa vierzig Jahren mit einem durch trockene Studien ausgetrockneten Gesicht, dies recht wohl zu empfinden; denn er war Oswalds, in welchem er natürlich sofort den vielbesprochenen neuen Hauslehrer von Grenwitz erkannte, kaum ansichtig geworden, als er seinen Vortrag hauptsächlich an ihn zu richten begann, als an den einzigen, der imstande sei, den Wert der gelehrten Perlen zu würdigen, die ihn hier, vor ungebildetes Rüsselvieh zu werfen, ein unverständiges Konsistorium nötigte.

»Oh, meine andächtigen Zuhörer«, rief er, die bebrillten Augen auf Oswald richtend, der sich so gut es gehen wollte, hinter den blonden Lockenkopf versteckte, »Oh, meine andächtigen Zuhörer, ihr sehet, ein wie schwaches Ding diesen ungeheuren Fragen gegenüber die menschliche Vernunft ist. Und dennoch, dennoch. Vielgeliebte, gibt es irrende Brüder und Schwestern, die noch immer dem Nachtlicht ihrer eitlen Vernunft vertrauen, nachdem schon längst auch für sie die Sonne aufgegangen ist. O ja! Dieses Stümpfchen ihrer Unschlittkerze mag ihnen hell genug erscheinen in den Tagen des Festes, der Herrlichkeit und der Freude; aber nicht also in den Tagen des kummervollen und gedankenschweren Alters. Darum laßt fahren das stolze Vertrauen auf die Vernunft, und haltet fest an dem Glauben! Gebet auf die törichte Zuversicht, auf euren gesunden Menschenverstand, wie ihr ihn nennt! Oh, meine andächtigen Zuhörer, dieser gesunde Menschenverstand ist ein kranker, ein sehr kranker Menschenverstand, ist ein Teufelsspuk und ein Irrlicht, das euch unaufhaltsam in den Sündenpfuhl der Verderbnis lockt.«

Oswald wurde durch diese Rede, die sich, mit Zitaten aus der heiligen Schrift reichlich untermischt, noch eine halbe Stunde fortspann, auf eine eigentümliche, aber keineswegs angenehme Weise berührt. Der Gegensatz schien doch gar zu groß zwischen der stillen, demütigen Unterwerfung unter die großen, ewigen Gesetze der Natur, die aus den Worten der alten Frau und noch mehr aus ihrem ernsten, bescheidenen Wesen gesprochen hatte, und der anmaßlichen Zuversicht, womit der Mann auf der Kanzel über so tief verborgene Dinge sprach und jedes gesunde Gefühl und jede natürliche Regung der Menschenbrust als eitel Lug und Trug und Sünde verdammte. Die schmucklose Weisheit der Matrone war frisch und duftig, wie ein Blümchen auf der Heide, die prunkende Klugheit des Predigers wie eine Pflanze, in der dumpfigen, schwülen Luft eines Zimmers üppig emporgeschossen in Stiel und Blätter, aber ohne Saft und Kraft und Blüten. Oswald war froh, als endlich der gelehrte Herr, nachdem er noch ein letztes kräftiges Anathema gegen alle Andersdenkende geschleudert und ihre Moralität gehörig verdächtigt hatte, bis zum Amen kam.

Es ist gewißlich nicht wahr! sagte der junge Mann bei sich, als er auf den Fußspitzen nach der kleinen Seitentür schlich, durch die er eingetreten war. Und als da draußen der blaue Himmel sich wieder über ihn wölbte und der Duft der Linden ihn umwehte, da atmete er tief auf, wie jemand, der aus der heißen, erstickenden Atmosphäre eines Krankenzimmers in die balsamische Luft eines Gartens kommt.

Ich werde die Bekanntschaft dieses Mannes nicht machen, wenn ich es vermeiden kann, sprach er weiter, während er den kleinen Hügel, auf dem die Kirche lag, hinunter, an mehreren herrschaftlichen Wagen, die unterdessen vorgefahren waren, vorüber, ins Dorf hineinging; was habe ich mit ihm zu schaffen! Seine Gedanken sind nicht meine Gedanken, und seine Sprache ist nicht meine Sprache! Wir würden uns in Ewigkeit nicht verstehen. Ich halte nichts von jener verwaschenen Humanität, die mit jedermann gut Freund ist und niemanden zurückweist, weil es doch vielleicht ein fester Punkt ist, um den sich möglicherweise etwas kristallisieren könnte; nichts von jener Käferphilosophie, die jeden Fremden höflich umsummt, in der Hoffnung, die verborgene Blüte zu finden, aus der sich eine Nahrung saugen ließe. Der kluge Kaufmann schifft der Küste vorüber, die zu arm zum Tauschhandel ist; und kommen doch die Worte: wer nicht für mich ist, der ist wider mich – aus dem erhabenen Munde, der die Liebe gepredigt hat.

Oswald war, dies und ähnliches bei sich überdenkend, aufs Geratewohl, wie es seine Gewohnheit war, wenn ihn etwas lebhaft beschäftigte, in dem ihm unbekannten Dorfe, wo Häuser und Scheunen und Ställe, Mauern und Gärten, dem Fremden unentwirrbar, durcheinanderlagen, umhergewandert, und wollte eben aus einem schmalen Gange an der Seite eines stattlichen Hauses auf eine breitere Straße einbiegen, als ihm der Pfarrer, der aus der Kirche kam, gegenüberstand. An ein Ausweichen war nicht zu denken, und Oswalds Versuch, höflich grüßend vorbeizukommen, mißlang gänzlich, denn der Pfarrer hatte ihn kaum erblickt, als er ihm im eigentlichsten Sinne den Weg vertrat.

»Ach! Ich habe gewiß die Ehre und das Vergnügen, Herrn Doktor Stein vor mir zu sehen!« sagte er. »Wie freundlich von Ihnen, daß Sie mich zu besuchen kommen. Aufrichtig, ich habe Sie schon seit einigen Tagen bei mir erwartet. Als ich neulich in Grenwitz war, der gnädigen Baronin meine Aufwartung zu machen, erfuhr ich leider, daß Sie mit Ihren Zöglingen einen längeren Spaziergang unternommen hätten, sonst würde ich mir die Freude nicht versagt haben, Sie auf Ihrem Zimmer aufzusuchen. Meine Frau wird sich glücklich schätzen, Sie unter unserem bescheidenen Dache zu begrüßen. Wollen Sie gefälligst näher treten? Bitte, bitte, keine Umstände!«

Hier ist kein Entrinnen möglich, dachte Oswald, und ließ sich unter dem bescheidenen Dache, das nebenbei ein ganz stattliches Haus bedeckte, eine Gastfreundschaft aufnötigen, der auszuweichen er noch eine Minute vorher entschlossen gewesen war.

»Gustava! Gustave! Gustchen!« rief der Pfarrer auf dem Hausflur; öffnete aber, da die Gerufene die sichere Position hinter dem mit einem Vorhang versehenen Guckfensterchen der Küchentür nicht aufgeben mochte, bevor sie über den Charakter des Fremden und den Zweck seines Besuches genauer unterrichtet sein würde, sein Studierzimmer und bat Oswald einzutreten, bis er sich seiner Amtstracht entledigt und seine Gustava von dem werten Besuch benachrichtigt hätte.

Das Studierzimmer des geistlichen Herrn war ein großes, zweifenstriges Gemach, in dem einige Bücherschränke, einige Heiligenbilder an der Wand, ein hartes, mit schwarzem, glänzendem Zeuge überzogenes Sofa, ein runder, mit Büchern bedeckter Tisch in der Mitte, ein Stehpult mit einem Drehsessel davor in einem der Fenster und eine mit Tabaksduft reichlich geschwängerte Atmosphäre das dem Eintretenden zuerst in die Sinne Fallende war. Die letztgenannte Eigentümlichkeit war so ausgesprochen, daß Oswald einen Fensterflügel öffnen mußte, wobei er eine starke Anwandlung verspürte, über die niedrige Brüstung auf die sonnenbeschienene Dorfgasse zu springen und das Weite zu suchen.

Dieser Fluchtversuch wurde indessen durch die Zurückkunft des Pfarrers vereitelt. Der geistliche Herr präsentierte sich jetzt in einem Anzuge aus schwarzem, wie Fett glänzendem Sommerzeuge. Er bat Oswald, einige Augenblicke in seiner Klause verziehen zu wollen, da Gustava noch in den Küchenräumen schalte. Oswald, der alle Hoffnung, zu entrinnen, aufgegeben hatte, machte jetzt nicht einmal den Versuch, die Einladung des Pfarrers, zum Mittagessen dazubleiben, auszuschlagen.

»Sie werden freilich nur paternum mensa tenui salinum finden, Urväter Hausrat auf dürftigem Tische«, sagte der Pastor, der seinem Gaste zeigen wollte, daß er sein Latein nicht vergessen habe. »Aber Sie wissen: vivitur parvo bene; auch mit wenigem lebt sich's gut. Darf ich Ihnen, bis die Mahlzeit angerichtet ist, eine Zigarre offerieren?«

Oswald dankte, da er kein Raucher sei.

»Oh, eine vortreffliche Eigenschaft das! Eine klassische Eigenschaft«, sagte der Pastor, seinen eigenen Witz belächelnd, »die Alten rauchten nicht, und Goethe, den ein frivoler, aber witziger Schriftsteller den großen Heiden nennt, war ein abgesagter Feind der Pfeife und Zigarre. Sie erlauben, daß ich meiner Gewohnheit, nach der Predigt ein leichtes Zigarrchen zu rauchen, getreu bleibe?«

»Bitte dringend, Herr Pastor!«

»Finden Sie nicht – paff , paff ! – daß das Rauchen – paff , paff so recht eigentlich ein germanisches, ja um mich so auszudrücken, ein christlich-germanisches Element ist?« sagte der Pfarrer, der heute auf alle Fälle geistreich sein wollte.

»Sie würden durch diese Bemerkung den Spöttern der Religion eine Waffe in die Hände geben«, antwortete Oswald trocken.

»Wie das, Wertgeschätztester?«

»Besagte Spötter könnten behaupten, daß, sich selbst und anderen einen romantischen blauen Dunst vorzumachen, allerdings ein wesentlicher Zug germanischer, besonders christlich-germanischer Natur sei.«

Der Pfarrer sah Oswald mit einem schnellen, lauernden Blick halb über die Brillengläser hinweg an, als hätte er gern auf einmal herausgebracht, wie weit er seinem Gast trauen dürfe. Da er es aber für einen Mann von klassischer Bildung unschicklich fand, auf einen Scherz, auch wenn derselbe ans Frivole streifte, nicht einzugehen, so antwortete er mit sauersüßem Lächeln: »Nicht übel, nicht übel! Aber was wäre vor den Spöttern sicher? Freilich: wir können antworten: ex fumo lucem! ex fumo lucem! Licht aus dem Rauche! – Aber setzen wir uns, lieber Freund, setzen wir uns! Wie befindet sich denn der gute, liebe Baron und die gnädige Baronin? Ach! Sie können sich glücklich schätzen, lieber Freund, in solchem Hause leben zu dürfen, unter so vortrefflichen Menschen, die mit dem Geburtsadel den wahren Adel der Seele verbinden – vor allem die Baronin, eine fromme und sehr gebildetere Dame, die alles ex fundamento kennenlernen will. Sie liest jetzt Schleiermachers Reden über die Religion –«

»Sollte sie imstande sein, die zu verstehen?« bemerkte Oswald.

Der Pfarrer sah Oswald wieder mit jenem eigentümlichen Blick über die Brillengläser an, als müsse er sich den Mann genauer betrachten, der den Mut hatte, eine Ansicht, der er im stillen vollkommen beipflichtete, so ungeniert laut werden zu lassen. Er begnügte sich indessen damit, die Mundwinkel herunter und Schultern und Augenbrauen in die Höhe zu ziehen, eine Gebärdensprache, die sich sein Besuch nach Belieben in: Alles Schwindel, lieber Freund! oder: Die Fähigkeiten dieser Frau sind inkommensurabel, übersetzen konnte.

»Freilich«, fuhr er fort, »Grünwald werden Sie vermissen; zumal den Umgang eines Mannes von einer so umfassenden Gelehrsamkeit, wie der Professor Berger. Aber geht es mir denn anders? Auch ich kann sagen: Barbarus hic ego sum, quia non intelligor ulli. Ich gelte hier für einen Sonderling, weil niemand mich versteht. Unsere Gutsbesitzer sind ohne Zweifel treffliche, würdige, gottesfürchtige und treu-königlich gesinnte Männer; aber, im Vertrauen, die Bildung, ich meine natürlich nur die gelehrte, ist arg vernachlässigt. Ja, wenn die Herren sich in ihrer Jugend des unschätzbaren Glückes einer wahrhaft rationellen Erziehung zu erfreuen gehabt hätten, wie Junker Malte –«

»Sehr gütig, Herr Pastor, obgleich von diesem Kompliment nur ein verzweifelt kleiner Teil auf meine Rechnung kommen dürfte. Ich wünsche nur, bei Malte käme die ratio nächstens mehr zum Durchbruch, denn bis jetzt ist er wahrlich eine höchst irrationelle kleine Größe.«

»Sie sollten Ursache haben, mit dem jungen Baron unzufrieden zu sein?« sagte der Pastor im Tone jemandes, der etwas ganz Unerhörtes, Unglaubliches vernommen hat. »Ach, verstehe! Freilich, der junge Bruno ist vielleicht in mancher Hinsicht die begabtere Natur, obgleich er, wie ich in dem Konfirmandenunterricht, den ich den Junkern zu erteilen die Ehre hatte, wohl bemerkte, für die Wahrheiten der christlichen Religion nicht eben sehr zugänglich ist; indessen non omnes possunt omnia – omnia«, wiederholte der Pfarrer, der nicht wußte, wie er fortfahren sollte. »Ja, was ich sagen wollte, dafür ist aber auch der Malte wieder der Erbe eines so großen Vermögens!«

»Um so mehr scheint es mir wünschenswert, daß er dereinst ein ganzer Mann wird. Ist denn übrigens das Grenwitzsche Vermögen wirklich so bedeutend?«

»Ei, mein lieber Freund«, rief der Pastor im Tone sanften Vorwurfs, daß Oswald eine so beklagenswerte Unwissenheit in betreff so hochwichtiger Dinge an den Tag legen konnte, »ob es bedeutend ist! Da sind in dieser Nachbarschaft allein fünf, nein – mit Stantow und Bärwalde, die allerdings nicht zum Majorat gehören, sind es eben sieben Güter. Und in den anderen Teilen der Insel – lassen Sie mich sehen – liegen noch ein, zwei, drei Güter. Das ist ein Kapital von mindestens anderthalb Millionen. Anderthalb Millionen!« wiederholte er, als könne sich sein Geist von einer so erhabenen Vorstellung nicht gleich wieder losmachen.

»Und das Vermögen ist ein Majorat?«

»Ei gewiß! Mit Ausnahme, wie gesagt, von zwei der schönsten Güter, die dem verstorbenen Baron, dem Vetter des jetzigen, durch Erbschaft von der Mutter Seite zufielen und in dem Testamente auf ein gar besondere Weise verklausuliert sind. Denken Sie sich nur, lieber Freund, daß der verstorbene Baron, der, ganz unter uns gesagt, eine überaus wüste, unbändige Natur war, diese Güter dem Sohne einer seiner Mätressen vermacht hat.«

»Aber Sie rechneten doch vorhin die beiden Güter mit zu dem Vermögen der Familie«, sagte Oswald.

»Nun, unter uns kann man es immerhin«, sagte der Pfarrer, Oswald näher rückend, in leiserem Ton. »Denn kein Mensch weiß, wo dieser Knabe lebt, ja, ob er überhaupt lebt, ja nicht einmal, ob es wirklich ein Knabe oder ein Mädchen ist.«

»Das ist ja eine kuriose Geschichte«, sagte Oswald lachend.

»Eine äußerst kuriose Geschichte«, sagte der geistliche Herr, »eine lächerliche Geschichte, wenn Sie wollen. Denken Sie nur: Der Baron Harald – sie haben alle sonderbare Namen in der Familie – jener unbändige Mann, der zur Zeit der heiligen Feme hätte leben müssen, entbrannt in heißer Liebe zu einem armen Bürgermädchen – ein Fall, der in seinem Leben freilich oft vorgekommen sein mag, aber niemals solche üblen Folgen hatte. Er entführte sie, halb mit Gewalt, hierher auf sein Schloß. Nach einem halben Jahr entflieht sie bei Nacht und Nebel. Ob sie ihre Schande auf dem Grunde eines unserer tiefen Moore verborgen hat, ob sie wirklich nur entflohen ist, niemand weiß es. Der Baron ist außer sich, rasend. Er durchsucht vergebens die ganze Insel. Um seinen Gram und seine Gewissensbisse zu betäuben, trinkt und spielt und lebt er noch wilder wie gewöhnlich, so daß er denn ein paar Wochen später im Delirium stirbt. Als man das Testament eröffnet, findet man nun, daß er in einer Anwandlung von Reue oder aus Kaprice, wie Sie wollen, dem Kinde jener seiner Geliebten, gleichviel ob Knabe oder Mädchen, falls es nur bis zu dem und dem bestimmten Datum geboren ist, die beiden herrlichen Güter, der Dirne selbst aber den Nießbrauch auf Lebenszeit vermacht hatte. Wie finden Sie das?«

»Jedenfalls eignet sich die Geschichte mehr zu einer Tragödie als zu einer Komödie«, sagte Oswald. »Und hat man hier nie eine Spur von Mutter und Kind entdeckt?«

»Nie! Obgleich testamentarisch – es ist wahrhaftig ein wahrer Skandal, und ich bedaure die gnädige Baronin von ganzem Herzen – alljährlich die Verschollene in sämtlichen Blättern der Provinz aufgefordert wird, ihre Ansprüche geltend zu machen.«

»Wie lange spielt die Geschichte nun?«

»So ein zwanzig Jahre und darüber.«

»Da ist doch wohl kaum denkbar, daß die Arme noch am Leben ist.«

»Es denkt auch niemand mehr daran«, sagte der Pastor. »Grenwitzens würden auch nicht wenig verwundert sein, wenn plötzlich so ein junger Landstreicher sich als ergebenster Neffe vorstellte und die beiden Güter und die Zinsen seit zwanzig Jahren für sich beanspruchte, um so mehr, als die gnädige Baronin, die von Hause aus – ganz unter uns gesagt – keinen roten Pfennig Vermögen hat, nach dem Tode des Barons, da die Grenwitzschen Besitzungen, Gott sei Dank, Majorat sind, samt ihrer Tochter so arm sein würde, als sie vor ihrer Vermählung war.«

»Sie sind ein großer Freund der Majorate?«

»Ei gewiß! Ich halte es für ein Glück, daß so bedeutende Vermögen nicht durch Erbteilung zersplittert werden können und so eine Aristokratie reicher Grundbesitzer möglich wird, die gleichsam ein Ballast sein kann für das Staatsschiff in Zeiten der Gefahr, die Gott noch lange abwenden möge von unseren teuren Vaterlande.«

»Nun«, sagte Oswald, »das Ding hat, wie alle anderen, seine zwei Seiten.«

»Wer wollte sich das verhehlen«, sagte der geschmeidige Pastor. »Aber ich für meinen Teil habe zu lange die Ehre und das Glück gehabt, mit reichen und in der schönsten Bedeutung des Wortes adeligen Familien zu verkehren, als daß ich nicht gewissermaßen ein Anhänger der Aristokratie sein sollte; und überdies habe ich neuerdings nur zu trübe Erfahrungen darüber gemacht, wie sehr der Besitz in den Händen des Plebejers, um mich dieses historischen Ausdrucks zu bedienen, Eitelkeit, Hoffart und weltlichen Sinn hervorruft und begünstigt.«

»Es tut mir leid, von meinen Freunden so etwas hören zu müssen«, sagte Oswald.

»Von Ihren Freunden?« sagte der Pastor verwundert.

»Von meinen Freunden, allerdings. Denn ich fand mich stets, ohne es zu wollen und manchmal ohne es zu wissen, wo immer in der Geschichte der große Gegensatz zwischen Aristokratie und Plebejern hervortrat, auf Seite der letzteren. Ich war ein geschworener Anhänger der Gracchen und anderer römischer Demagogen; ich schlug mich mit den Independenten gegen die Kavaliere, und ich gestehe, daß ich in den Bauernkriegen viel mehr Sympathie gehabt habe für die armen, unterdrückten, gehudelten, geknechteten und infolge dieser brutalen Behandlung meinetwegen auch brutalen Bauern als für die hochmögenden, reichsfreiherrlichen und trotz und vielmehr wegen all der Freiheit und Herrlichkeit nicht minder brutalen Grafen und Barone.«

Der Pfarrer hörte diese Rede mit jenem ungläubigen Lächeln an, mit dem man dem Bramarbasieren junger Gelbschnäbel zuhört, die sich gern den Anstrich von vollendeten Wüstlingen geben möchten.

»Sehr gut, sehr gut!« sagte er. »Ja, ja, wir geistreichen Leute gefallen uns in Paradoxen. Das klebt uns noch von den ästhetischen Tees der Residenz an, und da wollen wir hübsch in der Übung bleiben, wenn uns zur Zeit auch nur ein armer Landpfarrer hört.«

»Ich versichere Sie, Herr Pastor –«

»Weiß schon, weiß schon! Aber leben Sie erst einmal wie ich fünf Jahre lang unter Bauern! Glauben Sie, daß ich in der ganzen Zeit die Leute habe bewegen können, eine Glocke für unser Gotteshaus zu kaufen, die anzuschaffen sie noch dazu verpflichtet sind? Aber, wenn es darauf ankommt, einen Schmaus herzurichten und andere weltliche Zwecke ins Werk zu setzen, fehlt es nie an Geld.«

»Nun«, sagte Oswald, »der Adel hiesiger Gegend ist auch nicht eben wegen seiner Nüchternheit berühmt.«

»Der Adel, lieber Freund! Das ist etwas ganz anderes. Seine Devise ist und muß sein: Leben und leben lassen. Aber Sie wissen, eines schickt sich nicht für alle.«

»Und manches schickt sich für keinen«, fügte Oswald hinzu.

»Ach, hier kommt meine Gustava«, rief der Pfarrer, froh, ein Gespräch abbrechen zu können, das ihm von Augenblick zu Augenblick weniger gefiel.

Die Frau Pastorin, die soeben in das Zimmer trat, war eine Dame in dem Anfang der vierziger Jahre, mit semmelblonden Haaren, sehr hellblauen Augen und einem Gesicht, das in diesem Augenblick von dem Küchenfeuer und der Eile, mit der sie ihre Toilette gemacht hatte, noch von etwas lebhafter Farbe war, sonst aber kränklich, bleich, verwelkt und altjüngferlich aussah.

Sie trug ein Kleid von gelber ungefärbter Seide, an dessen Gürtel eine goldene Uhr hing, und eine Haube mit gelben Bändern, so daß sie alles in allem auf Oswald den Eindruck eines etwas verblichenen und nicht mehr ganz gesunden Kanarienvogels machte, dessen Besitzer nach Norden wohnt. Auch sie konnte kaum Worte (an denen es ihr übrigens nicht gebrach) finden, die ihre Freude ausdrückten, den Freund eines so hochmögenden Hauses unter ihrem niedrigen Dache zu erblicken (diese Phrase schien bei beiden Gatten stereotyp), um so mehr, als es ihrem armen Jäger (das war der Name des Pastors) ganz und gar an einem wissenschaftlichen und gebildeten Umgange gebrach, ein Mangel, dem durch Oswalds Ankunft in hiesiger Gegend auf die erfreulichste Weise (davon sei sie überzeugt) abgeholfen wäre.

»Mein armer Jäger wird mir hier noch zum Hypochonder werden«, rief sie, ihre wasserblauen Augen zärtlich auf den Gegenstand ihrer Besorgnis richtend, »ich tue, was in meinen schwachen Kräften steht, daß er die Gesellschaft geistreicher und gelehrter Männer so wenig wie möglich vermißt, aber was kann eine arme, unwissende Frau denn in dieser Hinsicht Großes tun!«

»Sie werden mich zwingen, Ihnen zu widersprechen«, sagte Oswald, bei welchem der Humor über den Unmut, mit dem ihn bisher die Heuchelei und Gleisnerei der Gatten erfüllt hatte, endlich den Sieg davontrug. »Ich möchte behaupten, daß Unwissenheit und Frau Pastor Jäger niemals Freundinnen gewesen sind, und jetzt schon seit Jahren auch nicht einmal die entfernteste Bekanntschaft zwischen ihnen existiert.«

»Sie sind zu gütig, wahrlich zu gütig«, sagte die hocherfreute Pastorin. »Ich will nicht leugnen, daß ich mich von jeher bemühte, den Vorwurf der Unfähigkeit für die Sphären höherer Bildung, den man uns armen Frauen –«

»Es ist angerichtet!« rief das Dienstmädchen zur Tür herein.

»Sehen Sie, so macht das irdische Leben immer seine Rechte geltend, sooft wir versuchen, einen kühneren Flug zu nehmen«, rief die Pastorin, während ihr Oswald galant den Arm bot und der Pastor das Ende seiner Zigarre so legte, daß er es nach Tische wiederfinden konnte.


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