Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der, welcher dieser Aufforderung des Barons sofort folgend, in das Zimmer trat, war ein junger Mann von vielleicht fünfundzwanzig Jahren, obgleich die frische Farbe seines hübschen bartlosen Gesichtes ihn kaum dem Jünglingsalter entwachsen scheinen ließ. Der wohlgeformte Kopf war mit einem schlichten, blonden Haar bedeckt, das lang genug war, um nach hinten gestrichen zu werden und die weiße Stirn frei zu lassen, die keck und fest sich über einem Augenpaare wölbte, dessen Farbe ein mattes Blau war, soweit man es durch die Gläser der Brille, die der junge Mann trug, erkennen konnte. Seine Gestalt war mittelgroß, aber breitschultrig, und sein gedrungener, muskulöser Körper augenscheinlich zur Ertragung von Strapazen aller Art ausnehmend geeignet. Auf sein Äußeres schien der junge Mann sehr wenig zu geben. Seine Kleidung bestand aus einem hellen Sommerrock von zweifelhafter Farbe, der schon manchen Sturm erlebt zu haben schien, und aus Beinkleidern von demselben Stoff und derselben Farbe und Beschaffenheit. Seine Wäsche war, als sie aus den Händen der Wäscherin kam, jedenfalls saubrer gewesen. Seine Haltung entsprach seiner Kleidung, das heißt, sie war weniger elegant als bequem, und hatte noch mit jener gemein, daß Herr Timm sie offenbar unter Umständen mit einer besseren vertauschen konnte.
»Bitte tausendmal um Entschuldigung«, sagte er lachend, indem er sich vor der Baronin ohne alle Förmlichkeit verbeugte und dem Pastor vertraulich zunickte, »daß ich die Unterhaltung der Herrschaften durch mein lyrisches Intermezzo stören mußte, aber ich wußte mir wirklich nicht anders zu helfen, da ich nicht die Ehre habe, Frau Baronin, Ihre Bedienten namentlich zu kennen, trotz allen Suchens keinen Klingelzug auf dem Flur entdecken konnte, und schon vergeblich in vier Türen hineingesehen hatte. Hätte ich ahnen können, daß diese fünfte, die ich übrigens gar nicht bemerkte, von dem Herrn Baron selbst geöffnet werden sollte, so würde ich mir natürlich meinen musikalischen Vortrag erspart haben, der allerdings nur für das weniger empfindliche Ohr eines in der Nähe befindlichen dienstbaren Geistes berechnet war. – Wie befinden Sie sich, Frau Baronin? Angegriffen von der Hitze? Wäre kein Wunder – fünfundzwanzig Grad im Schatten – reine Treibhaus-Temperatur. – Ich soll Sie von Ihrer Frau Gemahlin grüßen, Herr Pastor; sprach sie vor einer Stunde in Faschwitz. Sie wird gegen abend mit dem Einspänner herüberkommen, Sie abzuholen. – Mit der Vermessung von Sassitz wären wir fertig, Herr Baron. Wenn es Ihnen recht ist, will ich jetzt sogleich die Karten zeichnen, wenn die Frau Baronin die Güte haben will, mir ein Zimmer des Schlosses einzuräumen.«
So sprach Herr Timm und griff in die Tasche nach seinem Taschentuche, um sich die von Schweißtropfen perlende Stirn abzutrocknen. Da er sich aber noch zur rechten Zeit darauf besann, daß das betreffende, so überaus nützliche Stück der Toilette sich für den Augenblick bei ihm in einem keineswegs salonfähigen Zustand befand, so ließ er es, wo es war, fuhr mit der Hand über Stirn und Haar und schaute so vergnügt um sich, als ob ihm die Grenwitzer Besitzungen, die er im Schweiße seines Angesichts vermessen mußte, erb- und eigentümlich gehörten.
»Gewiß«, sagte die Baronin, bei der Herr Timm wegen seiner auffallenden Anspruchslosigkeit in großer Gunst stand und die unwillkürlich einen Mann schätzen mußte, der sich durch nichts imponieren ließ und den nichts aus der Fassung zu bringen vermochte, »gewiß, Herr Timm. Sie wissen, daß Sie uns zu jeder Zeit willkommen sind. Sie werden hier, wo Sie nichts stört, besser arbeiten können als in der Stadt, und es ist ja zu unserm beiderseitigen Vorteil, daß die Arbeit möglichst schnell beendet wird. Sie haben doch Ihre Sachen gleich mitgebracht, Herr Timm?«
»Steht alles schon auf dem Hausflur, wo es der ländliche Jüngling, welcher die Öländer lenkte, die mich im Hundetrab von Sassitz hierher kutschierten, deponiert hat«, sagte Herr Timm, dessen »Sachen« aus einem kleinen melancholisch aussehenden Koffer bestanden, in dem etwas reine und nicht viel schmutzige Wäsche und die sonstigen Stücke seiner nicht eben luxuriösen Garderobe in chaotischer Verwirrung durcheinanderlagen, und aus einer großen Mappe, die seine Zeichenmaterialien und Flurkarten enthielt. »Ich bedarf nur noch der Anweisung auf einen Ihrer dienstbaren Geister, der mich auf das mir von Ihnen gütigst angewiesene oder anzuweisende Zimmer führt, um mich sofort häuslich einrichten zu können.«
»Wollen Sie die Güte haben, jenen Klingelzug zweimal zu ziehen«, sagte Anna-Maria mit huldvollem Lächeln.
»Mit Vergnügen«, sagte Herr Timm, »diese instrumentale Methode des Beschwörens dienstbarer Geister ist viel bequemer als meine vokale und auch viel wirksamer, wie ich sehe.«
Der eintretende Bediente erhielt den Auftrag, Herrn Timm auf sein Zimmer zu führen.
»Es steht schon seit Wochen für Sie bereit, Herr Geometer«, sagte die Baronin.
»Sie sind umsichtig und gütig wie die Vorsehung selbst, gnädige Frau«, sagte Herr Timm aufstehend und der Baronin ohne Umstände die Hand küssend, »auf Wiedersehen, meine Herrschaften, bis zum Abendessen, bei dem Sie hoffentlich wie ich erscheinen werden, das heißt mit guter Laune und noch besserem Appetit«, und er folgte leichten Schrittes dem Bedienten aus dem Gemache.
»Wirklich ein charmanter Mensch, der Herr Timm«, sagte die Baronin, »so harmlos, unbefangen, anspruchslos, so ganz sich seiner Stellung in der Gesellschaft bewußt und nicht stets oben hinauswollend, wie gewisse andere Leute.«
»Ei, jawohl«, bestätigte der Pastor, »ein äußerst charmanter, bescheidener junger Mann, und der sowohl was seine Talente betrifft, die wirklich überraschend sind, als auch wegen der angesehenen Familie, aus der er stammt, Beachtung verdient. Gustava kennt seine Familienverhältnisse genau. Auch ich erinnere mich aus meiner Grünwalder Zeit her sehr wohl seines Herrn Vaters, eines ausgezeichneten Advokaten, der sein bedeutendes Vermögen kurz vor seinem Tode in einer unglücklichen Spekulation verlor. Seine Verwandten befinden sich zum Teil in ganz respektablen Stellungen. Ein Onkel von ihm ist Major. Auch Herr Timm war anfangs einer militärischen Karriere bestimmt, und war, soviel ich weiß, schon Fähnrich, als er infolge der großen Verluste seines Vaters diese Laufbahn aufgab, um sich dem Baufach zu widmen. Er wünscht sehnlichste die Akademie in der Residenz beziehen zu können, nur fehlt es ihm leider –« der Pastor machte mit dem Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand eine bezeichnende Bewegung.«
»Das ist ja jammerschade«, sagte die Baronin, »wer doch dem armen Menschen helfen könnte; kann ihm denn sein Onkel, der Major, nicht ein paar hundert Taler vorschießen? Aber freilich, die Herren vom Militär haben meistens genug mit sich selbst zu tun. – Ah, mademoiselle, vous arrivez bien à propos! Veuillez avoir la bonté –« Die Baronin war aufgestanden, um der eben eintretenden Mademoiselle Marguerite eine Instruktion zu erteilen.
»Wollen Sie meine Bienenstöcke einmal ansehen, Pastor Jäger?« sagte der Baron.
»Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte dieser, Hut und Stock ergreifend.
»Bleiben die Herren nicht zu lange«, sagte die Baronin, »wir wollen heute etwas früher soupieren. – Que voulais-je dire? Ah, oui! Du chocolat, mais pas si énormément sucré que la dernière fois, et particulièrement prenez garde – – –«
Der Abend war gekommen, mit ihm Frau Pastor Jäger auf dem Einspänner. Primula trug dasselbe Kleid von ungefärbter Seide, in dem sie Oswald an jenem Sonntagmorgen erschien, und sah, von der übergroßen Hitze des Tages angegriffen, mehr denn je wie ein kranker Kanarienvogel aus. Ihr Gatte hatte, sobald der langatmige Selam zwischen ihr und der Baronin vorüber war, die erste schickliche Gelegenheit ergriffen, ihr zuzuraunen, von dem »Gastfreunde« weniger entzückt zu erscheinen, als sie und er sich vorgenommen hatten, da »der junge Mensch« keineswegs in besonderer Gunst bei der Baronin zu stehen scheine – eine Nachricht, die Primula in ein solches Erstaunen versetzte, daß, als Oswald kurz vor dem Abendessen erschien, sie seine höfliche Begrüßung nur mit einer sehr förmlichen Verbeugung zu erwidern vermochte.
Dies wunderliche Benehmen der vorher für den »Gastfreund« so begeisterten Dichterin würde wahrscheinlich nicht wenig zur Erhöhung von Oswalds guter Laune beigetragen haben, wenn er es überhaupt bemerkt hätte. Aber er befand sich heute abend in einer Stimmung, in der man, wie Oldenburg es ausdrückte, Ohren sind Augen offen hat und doch weder sieht noch hört. Die Schatten der Ereignisse des letzten Tages und der letzten Nacht lagen noch auf seiner Seele und auf seiner Stirn. Seine gewöhnliche Lebhaftigkeit war einer melancholischen Ruhe gewichen; er sah bleich und nachdenklich aus, aber so schön und vornehm, daß Primulas zart besaitete Seele alsbald den Zauber, den die Erscheinung des jungen Fremden bei der ersten Begegnung auf sie ausgeübt hatte, wiederum zu fühlen begann, und sie die Warnung ihres vorsichtigen Gatten um so lieber vergaß, als sie sah, mit welcher ausgesuchten Höflichkeit und Zuvorkommenheit die Baronin und der Baron denselben Mann behandelten, der ihr soeben als eine gefallene Größe denunziert war. Sie bereitete sich schon im stillen auf eine Strafpredigt vor, die sie auf der Heimfahrt ihrem Jäger halten wollte, der »wieder einmal nach seiner Gewohnheit den Wald vor Bäumen nicht gesehen hatte«. Der würdige Geistliche selbst war für den Augenblick durch den vollkommenen Widerspruch zwischen den Worten und der Handlungsweise der Baronin aus der Fassung gebracht. Er wußte indessen besser als irgendeiner, daß die Menschen nicht immer scheinen, was sie sind, und nicht immer sind, was sie scheinen, und hielt es auf alle Fälle für das geratenste, das Benehmen seiner Gönnerin möglichst treu zu kopieren, was ihm gerade nicht schwerfiel.
Indessen würde trotz des scheinbaren guten Einvernehmens der Gesellschaft die Unterhaltung bei der Abendmahlzeit, die auf der Terrasse im Freien eingenommen wurde, sehr einsilbig gewesen sein, hätte Herrn Timms Gemüt die Eigenschaft gehabt, die Farbe seiner Umgebung anzunehmen. Dies war indessen durchaus nicht der Fall.
Herr Timm hatte sein Versprechen, bei Tische mit guter Laune und noch besserem Appetit zu erscheinen, wahr gemacht. Er fand die Schokolade, die diesmal keineswegs énormément sucré war, vortrefflich, das Brot vortrefflich, die Butter vortrefflich, alles vortrefflich. Und wie köstlich war der Einfall, sich an diesem lieblichen Abend nicht in die Stube einzuschließen! Wie glücklich der Gedanke, die Tafel gerade auf diesem Punkt der Terrasse zu decken, von dem man einen so herrlichen Blick auf den Garten hatte! Wie wundervoll waren die Schatten und Lichter in den hohen Bäumen drüben jenseits des Rasenplatzes! Wirklich ein Gemälde von Claude Lorrain! »Wahrhaftig, Herr Baron, wenn ich nicht Diogenes wäre, so möchte ich wohl Alexander sein! Aber freilich, wir können nicht alle in Schlössern hausen, es muß auch Tonnenbewohner geben, und wohl dem Manne, dem sein Schloß nicht wie eine Tonne oder dem seine Tonne wie ein Schloß erscheint! Sie sollten diesen Gedanken zu einem Epigramm verwerten, Frau Pastorin! Sie haben ein ganz entschiedenes Talent für diese Gattung, selbst in Ihren hochlyrischen Gedichten findet sich oft eine epigrammatische Wendung. So in dem reizenden Sonett auf den Maikäfer. Wie heißt doch noch der Schluß? ›Des Maies Käfer, falscher Liebe Bild –‹ das ist an und für sich schon ein tiefsinniges Epigramm. Wissen Sie, daß man in Grünwald Ihre Übersiedlung nach Faschwitz noch immer nicht verschmerzen kann? Erst neulich sagte Professor Lichtscheu, den ich in einer Gesellschaft beim Kanonikus Schwarz traf, es sei unverantwortlich, daß ein gewisser Gelehrter, den ich nicht nennen will, den reichen Schatz seines Wissens in der Einsamkeit eines Dorfes, dessen Namen mir entfallen ist, vergraben solle; worauf ich ihm erwiderte, es sei nicht minder unverantwortlich, daß die Dichterin der ›Kornblumen‹ noch immer unter Kornblumen wandle.«
So ging es mit unendlicher Zungenfertigkeit fort, dabei war alles, was Timm sprach, so augenscheinlich ohne jegliche Absicht gesagt, witzig und geistreich zu sein – trotzdem es manchmal geistreich und witzig genug war –, daß man ihm zuhören konnte wie einem lustigen und in seiner Lustigkeit freilich etwas überlauten Kanarienvogel, dem die Morgensonne in das Bauer scheint und der dabei auf den Einfall kommt, sich einmal ordentlich auszusingen. Nur kam es Oswald manchmal vor, als ob Herrn Timms Humor durchaus nicht so natürlich sei, als es den Anschein hatte; als ob Herr Timm nur eine wohleinstudierte und fein berechnete Rolle, allerdings mit vollendeter Naturwahrheit spiele, und als ob der gutmütige Bonvivant und anspruchslose Naturbursche bei Licht besehen die ganze Gesellschaft, die er mit dem Feuerwerk seines Witzes unterhielt, gründlich verhöhne und nasführe. Er wurde in diesem Verdacht um so mehr bestärkt, als Herr Timm, sobald er zu ihm sprach, stets einen andern Ton anschlug, als wollte er sagen: Dir darf ich mit solchen Narrenspossen nicht kommen, aber für den andern Pöbel sind sie gut genug.
Diesen Verdacht, auf den Oswald übrigens um so leichter verfallen mußte, als er selbst nur zu oft die Gesellschaft, gegen die er eine so gründliche Verachtung empfand, zum besten hatte, schien von den andern niemand zu teilen, es hätte denn Bruno sein müssen, der heute noch düsterer und verschlossener wie gewöhnlich auf seinem Platze neben Oswald saß und seinen stolzen Mund nicht ein einziges Mal zu einem Lächeln verzog, obwohl er alle um sich her – selbst Oswald nicht ausgenommen – lachen sah, zumal als gegen das Ende der Mahlzeit Herr Albert Timm mit seiner Nachbarin, Mademoiselle Marguerite, eine Konversation begann, in der er französisch und deutsch auf die possierlichste Weise durcheinandermischte. Die hübsche scheue Genferin hatte sich die größte Mühe gegeben, Herrn Timms Kreuz- und Quersprüngen in der Unterhaltung zu folgen und sich alle Augenblicke mit einem rapiden: Qu'est ce qu'il dit? Que veut dire cela? an Malte, ihren Nachbar auf der andern Seite gewandt, der ihr die Antwort um so häufiger schuldig bleiben mußte, als er selbst von allem, was der unerschöpfliche Albert vorbrachte, kaum die Hälfte begriff, bis dieser mit ihr zu kauderwelschen anfing, um mit vielem Takte den Scherz sofort abzubrechen, als er merkte, daß die hübsche Kleine durch das Gelächter der andern in Verlegenheit geriet.
Es war bereits dunkel geworden, als die Baronin die Tafel aufhob, und Herr und Frau Pastor Jäger, die sich jetzt unter vielen Danksagungen für den so angenehm verbrachten Abend empfehlen wollten, einlud, mit ihr und dem Baron noch ein gemütliches kleines Boston – »in der alten Weise, wissen Sie, Pastor Jäger, wie es sich für solide Leute schickt« – in dem Salon zu spielen.
Malte war zu Bett gegangen.
Oswald und Bruno, Albert und Mademoiselle Marguerite promenierten paarweise um den Rasenplatz und in den zunächst gelegenen Gängen des Gartens.
»Du hast mir noch gar nicht gesagt, Oswald«, sagte Bruno – er nannte jetzt seinen Freund, wenn sie allein waren, stets mit dem brüderlichen Du –, »ob du Tante Berkow gestern gesehen hast?«
»Ja, Bruno.
»Sah sie schön aus?«
»Wie immer.«
»Läßt sie mich grüßen?«
»Natürlich.«
»Weißt du, Oswald, daß ich glaube, Tante Berkow mag dich sehr gern leiden?«
»Warum, du Närrchen?«
»Sie sah dich an dem Abend, als sie hier war, immer mit so glänzenden Augen an – so recht lieb und freundlich, wie sie mich manchmal anblickt, wenn sie mir das Haar streichelt, aber doch anders, – so –«
»Ach, du weißt ja nicht, was du sprichst, Bruno.«
»Ich weiß es recht gut, aber ich kann mich nur nicht so ausdrücken wie ihr klugen, großen Leute. Ich bin an dem Abend ordentlich eifersüchtig auf dich gewesen, denn früher war sie gegen mich am freundlichsten. Ich nicht wissen, wie Tante Berkow aussieht, wenn sie jemanden gern hat? Ich weiß es sehr wohl!« sagte Bruno trotzig.
»Und ich weiß auch noch mehr«, fuhr er nach einer Pause fort. »Ich sollte es eigentlich nicht sagen, denn Tante hat es mir verboten, aber ich glaube jetzt, es ist ihr gar nicht Ernst mit dem Verbot gewesen.«
»Was war es?« fragte Oswald mit angenommener Gleichgültigkeit.
»Das war es«, sagte Bruno. »Ich war am Sonnabend nachmittags als du Briefe schriebst, allein in den Wald gegangen nach Berkow zu, weil das mein liebster Weg ist. Da kommt mir auf einmal Tante entgegen, zu Pferde, ganz allein, nicht einmal der Boncœur war bei ihr. Sie ritt den Brownlock, den sie immer reitet, wenn sie schnell reiten will, und schnell muß sie geritten sein, denn Brownlocks Brust und Hals und selbst Tantes Kleid waren voller weißer Schaumflocken. ›Sieh da, Bruno‹, sagte sie, mir vom Pferde herab die Hand reichend, ›wo willst du hin?‹ – ›Nirgends hin, Tante, wie gewöhnlich‹, sagte ich, ›aber wo wollen Sie hin?‹ – ›Auch nirgends!‹ antwortete sie lachend, ›da können wir ja zusammen unsern Weg fortsetzen.‹ – ›Wenn Sie Schritt reiten wollen‹, sagte ich, ›sonst nicht.‹ – Und da sind wir wohl eine halbe Stunde zusammen durch den Wald gezogen und haben die ganze Zeit von nichts als von dir gesprochen, und Tante fragte mich, ob ich dich lieb hätte, worauf ich natürlich mit Nein antwortete; ob du viel studiertest und noch hunderterlei, was ich wieder vergessen habe. Zuletzt trug sie mir auf, dich zu grüßen und zu fragen, ob du die Kupferstiche noch nicht hättest, von denen du ihr neulich gesprochen, und ob du sie ihr nicht schicken wolltest – und dann rief sie mich wieder zurück und sagte, ich solle dich lieber doch nicht daran erinnern, dir auch nicht sagen, daß ich sie gesprochen hätte – aber wie gesagt, ich glaube jetzt nicht mehr, daß es ihr Ernst gewesen ist.«
»Warum jetzt nicht mehr, Bruno?«
»Weil –«, der Knabe schwieg; plötzlich sagte er in gedämpftem Ton, als fürchtete er, die dunklen Gebüsche neben ihnen könnten es hören:
»Sage mir, Oswald, wie ist das, wenn man jemand liebt?«
»Wie meinst du das, Bruno?« antwortete Oswald, den die Frage in nicht geringe Verlegenheit setzte.
»Ich meine: was ist das für eine Liebe, von der so oft in den Büchern die Rede ist? Ich habe dich lieb, sehr lieb; aber es ist mir, als müßte es noch eine andere Liebe geben. So habe ich immer nicht verstanden, warum der Marquis Posa so bestürzt ist, als Don Carlos sagt: Ich liebe meine Mutter. – Weshalb soll er seine Mutter nicht lieben? Ich habe meine Mutter nie gekannt, und so weiß ich gar nicht, wie man seine Mutter liebt, aber ich denke sie mir immer so jung und schön wie Tante Berkow. Für die könnte ich alles, alles tun! Ich wünschte manchmal, sie fiele vor meinen Augen ins Wasser, und ich könnte ihr nachspringen; oder wie neulich! Brownlock bäumte sich, und ich faßte ihm in den Zügel und kämpfte mit ihm und ließe nicht los, und wenn er mich auch mit seinen Hufen zerträte. – Warum kommen mir solche Wünsche nie, wenn ich in deiner Nähe bin, Oswald, oder wenn ich, von dir getrennt, an dich denke?«
»Weil ich ein Mann bin, Bruno, und du weißt, daß ich mir selbst helfen könnte und helfen würde. In die Liebe aber, die wir für eine Frau empfinden, mischt sich noch das Gefühl, daß wir sie, die sich selbst nicht schützen kann, mit unserer größeren Kraft und unserm kühneren Mute schützen müssen, und das macht unsere Liebe zärtlicher, inniger, mitleidiger; und dann noch ein Gefühl, von dem ich dir jetzt so viel sagen will, daß es ein Ausfluß der ewigen Kraft ist, die das Weltall schafft und trägt, ein Gefühl, das rein ist wie alle Natur, aber auch ebenso keusch, und das deshalb, vor der Zeit wachgerufen, dem Voreiligen so verderblich werden kann, wie seine Kühnheit dem Jüngling, den des Wissens Drang nach Sais und in den Tempel trieb, wo sie in dichtem Schleier verhüllt thronte, Isis, die heilige, keusche Göttin der Natur.«
»Ich verstehe dich nicht ganz, Oswald.«
»Die Welt und das Leben sind voller Rätsel, Bruno. Das Leben ist die Sphinx, und wir sind der Ödipus. Und es ist der Fluch des Ödipus, daß er das Rätsel lösen muß und ihn doch des Rätsels Lösung unglücklich macht.«
»Du bist mir nicht böse, Oswald?«
»Ich dir böse, liebes Herz? Weshalb?«
»Daß ich dir mit solchen wunderlichen Fragen komme.«
»Da sollst mich fragen, Bruno; nach allem fragen, was dich in Erstaunen und in Verwirrung setzt. Deine Seele muß offen vor mir liegen wie ein Buch, in dem ich blättern und immer wieder blättern kann. Wollte Gott, ich möchte nur Weises und Gutes auf die reinen Blätter schreiben.«
»Du bist stets so gut, so unendlich gut gegen mich, Oswald; und ich vergelte dir all deine Güte nur mit Undankbarkeit und Trotz.«
»Das tust du nicht – und dann: Sind wir nicht Brüder? Brüder müssen sich untereinander lieben und tragen und stützen, und dürfen nicht rechten um Mein und Dein. Sieh, Bruno, wenn der fromme Glaube, der die Geister der Verstorbenen die auf Erden zurückgelassenen Lieben umschweben läßt, der meine wäre, so würde ich sagen: dort oben, von dem leuchtenden Sternenhimmel, schauen unsere Mütter auf uns hernieder und freuen sich der Vereinigung und Liebe ihrer Kinder. Laß uns zusammenstehen in diesem wirren Kampfe des Lebens zu Schutz und Trutz. Wie lange wird es dauern und du bist ein Mann wie ich, und wollte Gott, ein besserer Mann. Dann wird auch der letzte Unterschied, der Unterschied der Jahre von uns nicht mehr empfunden werden, wie ich ihn denn jetzt kaum noch empfinde. Dann werde ich vielleicht zu dir aufschauen wie du jetzt zu mir; dann wirst du mir doppelt und dreifach das wenige bezahlen, das ich jetzt für dich tun kann; dann werde ich – und wie gern! – dein Schuldner sein.«
»Oh, das wird nie geschehen«, sagte Bruno; »du wirst immer unerreichbar weit von mir vorauseilen. Ich werde nie auch nur das werden, was du jetzt schon bist.«
»Du Närrchen!« sagte Oswald und streichelte liebevoll Brunos Haar, »du sitzt jetzt im Parterre vor der Bühne des Lebens, und der Felsen von Pappe erscheint deinem begeisterten Auge ein Urgebirge und all die Trödelware echt. Wenn du erst selbst auf die Bühne trittst, wird dir der holde, rosige Schleier der Illusion von den Augen fallen und du wirst deinen Irrtum erkennen. Aber wenn auch! Du wirst, wenn du von deinem ersten schmerzlichen Erstaunen dich erholt hast, begreifen, daß es nicht anders sein kann, und deinen Bruder nicht verachten, weil du siehst, daß sein stolzer Rittermantel von verschossener Seide und arg geflickt ist, und seine Sporen eitel Messing – doch still! Da kommen uns Herr Timm und Mademoiselle entgegen. Es scheint, Herr Timm will die gute Gelegenheit, seine Aussprache des Französischen zu kultivieren, nicht unbenutzt lassen. Wir wollen ihn in diesem edlen Streben nicht stören. Laß uns in diesen Gang einbiegen.«
Herr Timm, der jetzt Arm in Arm mit Mademoiselle Marguerite, ohne Oswald und Bruno zu bemerken, eifrig sprechend und seine helle Stimme dabei sorgfältig dämpfend, vorüberstrich, hatte in der Tat »die gute Gelegenheit«, obgleich in etwas anderer, als in der von Oswald angedeuteten Weise, zu nutzen verstanden. Auf seine Aussprache des Französischen legte der junge Mann sehr wenig Gewicht, desto mehr aber auf den soliden Vorteil, den ihm die Gunst der jungen Dame, welche dem innern Hauswesen des Schlosses vorzustehen schien, während eines, voraussichtlich mehrere Wochen lang dauernden Aufenthalts in Grenwitz gewähren mußte; und sich diese Gunst, die auch vielleicht in anderer Weise die Monotonie des Landlebens in angemessener Weise mildern konnte, möglichst schnell zu erwerben, war Herr Albert Timm in dem allerliebsten verschwiegenen tête-à-tête mit der kleinen Französin eifrigst bedacht gewesen. Die Unterhaltung war von beiden Seiten, ohne einem gelegentlichen französischen Worte das Dasein zu verkümmern, deutsch geführt worden, da Mademoiselle das Deutsche ziemlich und Herr Timm das Französische sehr schlecht sprach, und dem jungen, aufrichtigen, wahrheitsliebenden Mann nichts verhaßter war als der Gedanke, nicht verstanden oder gar mißverstanden zu werden.
»Und sind Sie schon lange hier?« fragte er.
»Drei Jahre.«
»Der Tausend! Und Sie sind vor Langerweile noch nicht gestorben. Sie müssen eine famose Natur haben.«
»Plaît-il?«
»Ich meine, das muß doch zum Verzweifeln langweilig sein, jahraus jahrein in diesem öden Nest zu hocken, und noch dazu in so ausnehmend interessanter Gesellschaft. Aber Sie haben wohl viel zu tun?«
»Enormément! Ich muß arbeiten comme un forçat –‹
»Comme was?«
»Vous ne savez pas ce que c'est qu'un forçat?«
»Nein – schadet aber nichts. Wollen einmal sagen: wie ein Pferd; das wird auf dasselbe herauskommen. Also: Sie müssen arbeiten wie ein forçat?«
»Justement! Ich muß aufschließen und zuschließen alle Schlösser –«
»Hat auch sein Angenehmes!« bemerkte Herr Timm.
»Ich muß hören den ganzen Tag: Mademoiselle, tu Sie dies, Mademoiselle, tu Sie das! Und des Abends, wenn ich bin müde, daß ich nicht kann offen halte die Augen, ich muß lesen aus die alte dumme Bücher, bis Madame hat die Güte zu sagen: c'est assez! – Non, madame, ce n'est pas assez, c'est trop – mille fois trop«, sagte die lebhafte kleine Dame und stampfte mit dem Fuße.
»Sie scheinen in einer allerliebsten Stimmung«, sagte Herr Timm; »doch das ist recht, sprechen Sie sich aus – das erleichtert das Herz – aber, wenn die Baronin Ihnen ein solches Vertrauen schenkt, so müssen Sie doch auch in großer Gunst bei ihr stehen.«
»Au contraire! Sie mich braucht, weil sie muß. Sie würde mir heute geben mon congé lieber als morgen. Sie hat mich gern, weil ich nicht nötig habe viel Schlaf und weil ich esse wenig.«
»Na, da werde ich nie ihr Liebling werden«, sagte Herr Timm. »Aber Sie armes Kind, da sind Sie ja in einer schauderhaften Situation. Viel arbeiten und keinen Dank dafür; früh aufstehen und dafür spät zu Bette gehen; den ganzen Tag dreschen müssen wie das gutmütige Tier in der Bibel, ohne die demselben verstattete Freiheit – das halte ein anderer aus. Sie sollten sich verheiraten, Mademoiselle.«
Marguerite zuckte die Achseln; »Wer wird wollen mich 'eiraten? Je suis si pauvre et si laide!«
»Was ist das?«
»Ich sage: ich bin arm und ich bin 'äßlich.«
»Das erstere will ich zugeben«, sagte Herr Timm, »das zweite ist aber eine arge Verleumdung. Sie häßlich! Au contraire: Sie sind hübsch, mademoiselle, très hübsch, belle, sehr belle.«
»Vous plaisantez, Monsieur!«
»Ohne Spaß!« sagte Herr Timm, »Sie sind wirklich ein auffallend hübsches Mädchen. Erstens haben Sie eine reizende Gestalt –«
»Trop petite«, sagte Marguerite.
»Nicht die Spur«, versicherte Herr Timm, »zweitens haben Sie wunderhübsche braune Augen; eine reizende Hand, einen entzückend niedlichen Fuß
»Mais monsieur!«
»Was denn? Es ist ja wahr; was wahr ist, darf man sagen. Ich wette, daß Monsieur le docteur Stein vollkommen meiner Meinung ist. Lieben Sie den Doktor?«
»Ich ihn lieben?« sagte die kleine Französin mit großer Lebhaftigkeit. »Ich ihn lieben? Ich ihn 'asse!«
»Na, na«, sagte Herr Timm, »warum denn, er ist doch ein sehr schöner Mann.«
»C'est un bel homme, mais c'est un fat.«
»Un was?«
»Er ist ein Narr, oui ein Narr, qui est monstreusement amoureux de lui-même; mais avee toute sa fierté je me moque de lui, je me moque de sa fierté, oui, je m'en moque, moi!«
»Bitte, ereifern Sie sich nicht, und sprechen Sie vor allen Dingen deutsch, wenn Sie wünschen, daß ich Sie verstehen soll. Was hat Ihnen der Unglückliche getan?«
»Lui? Malheureux? Il n'est pas malheureux, ce monsieur-là. Tout le monde le flatte, le cajole –«
»Aber so sprechen Sie doch um Himmels willen deutsch«
»Glauben Sie, daß er hat gesprochen zehn Worte mit mir, seitdem daß er hier ist?«
»Das ist freilich abscheulich! Ah, da habe ich mir schon wieder den Fuß an eine so verdammte Baumwurzel gestoßen. Ich bin im Dunkeln so blind wie ein Maulwurf. Sie täten wirklich ein Werk der Barmherzigkeit, wenn Sie meinen Arm annehmen und mich ein wenig führen wollten.«
»Très volontiers, Monsieur!«
»Also so ein eitler Herr ist dieser Doktor Stein«, sagte Herr Timm, den Arm der hübschen Marguerite in den seinen legend und dabei ziemlich fest an seine Brust drückend, »ei, wer hätte das gedacht! Na, wissen Sie was, liebe Marguerite – welch ein reizender Name das ist: Marguerite! – ich darf Sie doch Marguerite nennen? – Ja, was ich sagen wollte, ärgern Sie sich nicht über den albernen Menschen, liebe Marguerite! Wenn er nicht mit Ihnen sprechen will, so ist das sein eigener Schade, und wenn er Sie nicht hübsch findet, so finden Sie dafür andere Leute desto hübscher; ich zum Beispiel, obgleich ich sehr kurzsichtig bin, besonders hier in diesem Baumgange, wo es so dunkel ist, daß man wahrhaftig nicht die Hand vor den Augen sehen kann Fürchten Sie sich, kleine Marguerita? Nein? Warum klopft denn Ihr Herz so? Oder hätten Sie mich gar aus Versehen ein bißchen lieb? Haben Sie mich ein bißchen lieb, Marguerite? Genieren Sie sich gar nicht; mir kann man alles sagen. Oder sagen Sie lieber nichts und geben Sie mir einen Kuß! Sie wollen nicht – so? Das ist vernünftig! Ihr Franzosen und besonders ihr Französinnen seid eine charmante Nation. Aber warum weinst du denn, kleiner Narr? Ist es bei euch denn ein Staatsverbrechen, einem ehrlichen Kerl einen Kuß gegeben zu haben, und noch dazu im Dunkeln... Verdammt, da kommt der alberne Mensch, der Doktor, mit seinem Grasaffen... Bon soir, meine Herren, wir können hier Begegnen spielen.«
»Oder Blindekuh«, sagte Oswald, »und noch dazu ohne Binde. Ich dächte, wir gingen hinein. Wenn ich nicht irre, hat die Baronin schon nach Mademoiselle gerufen.«
Herr und Frau Pastor Jäger hatten sich unter vielen Danksagungen und Freundschafts- und Ergebenheitsversicherungen empfohlen, um auf dem Einspänner in die idyllische Ruhe von Faschwitz und unter »ihr niedriges Dach« zurückzukehren; Oswald und Herr Timm – Bruno hatte sich schon einige Minuten vorher entfernt – stiegen die Wendeltreppe des Turms hinauf, um sich auf ihr Zimmer zu begeben.
»Das ist Ihr Zimmer, soviel ich weiß, Herr Timm«, sagte Oswald, vor einer der vielen Türen stehenbleibend, die auf denselben Korridor gingen, der Stufen auf, Stufen ab, in vielfachen Biegungen durch den alten Teil des Schlosses führte, wo Oswald und die Knaben wohnten und mehrere der weniger stattlichen Gastzimmer lagen.
»Und wo ist denn Ihre Bude, Herr Doktor?«
»Ein paar Türen weiter.«
»Sind Sie sehr müde?«
»Nicht besonders.«
»So erlauben Sie mir, noch ein paar Minuten mit zu Ihnen zu kommen. Ich empfinde das sehr natürliche Bedürfnis, nach all dem Unsinn, den ich geschwatzt und habe schwatzen hören, in vernünftiger Gesellschaft eine gute Zigarre zu rauchen.«
»So kommen Sie«, sagte Oswald, der viel lieber allein geblieben wäre, aber eine zu hohe Meinung von der Pflicht der Gastfreundschaft hatte, um eine so indirekte Anrufung zurückzuweisen, »Ob Ihnen freilich meine Zigarren gut und meine Gesellschaft vernünftig genug –«
»Um Gottes willen, für heute nicht noch mehr Komplimente!« rief Herr Timm. »Ich bin mit dem bereits Genossenen vollkommen zufrieden. Bitte! Spazieren Sie voran –«
»Eine reizende Bude«, sagte Herr Timm, als sie in das Zimmer getreten waren und Oswald die Lampe auf dem runden Tisch vor dem Sofa entzündet und ein Kistchen mit Zigarren aus seinem Sekretär geholt hatte, »eine allerliebste Tonne für einen Zyniker, der gelegentlich bei den Sybariten in die Schule geht; wirklich famos behaglich, für meinen Geschmack fast zu behaglich. Der große Lehnstuhl in der tiefen Fensternische, von dem man auf der einen Seite so bequem in den Garten und auf der andern still und bewegt nach dem schönen Apollokopfe dort auf dem Schranke blicken kann, Natur und Kunst vis-à-vis, und man selbst mitten dazwischen, wie der Mann sagte, als er ans dem Luftballon fiel.
Die Zigarre ist superb, wirklich Havanna und keine Stinkadores – Rauchen Sie nicht? Nein? Und halten sich für Ihre Freunde und Bekannten ein solches Blatt! – Edelster der Menschen! Der heilige Crispinus ist ja ein Straßenräuber im Vergleich mit Ihnen! Was haben Sie denn da in der höchst verdächtig aussehenden Flasche oben auf dem Bücherbrett? Ich glaube gar Kognak –«
»Und noch dazu alten, echten«, sagte Oswald, »wenigstens versichert es mein Freund, der Inspektor Wrampe, der mir diese, jedenfalls geschmuggelte Flasche aufgenötigt hat –«
»Und noch nicht einmal entkorkt – Me herculem! Da müssen wir doch einmal untersuchen, ob der Inspektor Sie nicht belogen hat. Trinken Sie auch ein Glas Grog?«
»Ich nicht, aber lassen Sie sich dadurch nicht abhalten«, sagte Oswald gutmütig, die Flasche herabnehmend und entkorkend, »ich will auf meiner Maschine Wasser heiß machen –«
»Bewahre! Wozu die Umstände! Kaltes Wasser tut dieselben Dienste, besonders in geringerer Quantität. – Das ist ja ein reizender Abend«, sagte Herr Timm, sich vergnügt die Hände reibend. »Nun setzen Sie sich gefälligst in die Sofaecke, damit ich die Überzeugung gewinne, daß Sie sich so behaglich fühlen, wie sich jemand, der nicht raucht und trinkt, überhaupt fühlen kann; ich werde mir den Lehnstuhl heranrücken – was der Kerl für eine Wucht hat! – und nun lassen Sie uns eins plaudern, wie es sich für zwei ehrliche Kerle geziemt, die dem ganzen Blödsinne der sogenannten guten Gesellschaft ein Schnippchen schlagen.«
So sprach Herr Timm, zog mit dem Fuße noch einen Rohrstuhl herbei, um seine Beine darauf zu legen, und streckte sich behaglich, den Kopf etwas hintenübergebogen, um dem Rauch seiner Zigarre bequemer und länger nachschauen zu können.
Der Schein der Lampe fiel ihm dabei voll ins Gesicht und Oswald bemerkte jetzt zum ersten Male, daß Herrn Timms Züge, besonders im Profil gesehen, wo die kecken, saubern Linien zur vollen Geltung kamen, wirklich überraschend hübsch und interessant waren. Diese Entdeckung war für Oswald durchaus nicht gleichgültig. Er ging noch einen Schritt weiter als Voltaire und hielt dafür, daß nicht nur von den Büchern, sondern auch von den Menschen das genre ennuyeux das schlimmste sei, und bei einem durchaus regen und durch Studien vielfach gebildeten Formensinn ließ er sich von seiner leidenschaftlichen Liebe für malerische und plastische Schönheit in einer Weise beherrschen, daß sein Gefühl des Wahren und Guten dabei Gefahr lief, nicht unterdrückt, aber doch getrübt zu werden. So war es in diesem Falle. Herrn Timms formenloses Wesen und nur dünn verschleierter derber Realismus hatten ihn im Laufe des Abends ein paarmal recht empfindlich beleidigt, und er war schon entschlossen gewesen, den Verkehr mit dem übermütigen Gesellen während dessen Verweilen in Grenwitz auf das Unvermeidliche zu beschränken; aber während er jetzt die Umrisse des hübschen Gesichtes im Geiste nachzeichnete, hatte er den kaum gefaßten Vorsatz schon halb und halb vergessen.
»Wollen Sie einmal ein paar Minuten so sitzen bleiben?« sagte er, unwillkürlich nach einem Bleistift greifend, und auf dem ersten Blatte, das ihm auf den mit Büchern und Papieren bedeckten Tische in die Hände fiel, anfangend, Alberts Profil zu skizzieren.
»Eine halbe Stunde, wenn Sie wollen«, sagte dieser, »ich liege vortrefflich; wenn ich nur dabei rauchen, sprechen und gelegentlich einen Schluck dieses irdischen Nektars nehmen darf.«
»Lassen Sie sich nicht stören«, sagte Oswald, eifrig zeichnend.
»Es ist doch ein merkwürdiger, alter Kasten, dies Schloß«, phantasierte Albert, »ich glaube, ich habe verdammt wenig Sinn für Romantik; aber ich brauche nur den Fuß auf die Wendeltreppe zu setzen, die in diesen Flügel führt und mich umwehen Schauer des Mittelalters. Selbst meine Sprache wird eine andere, wie Sie hören, und kriegt einen Beigeschmack von van der Velde und Tromlitz. Welche Mauern! Man würde jetzt ein Dutzend daraus machen. Wenn es damals, wie zu vermuten steht, auch Leute gegeben hat, mit denen man Türme und Wände einrennen konnte, welche dicken Schädel müssen die gehabt haben!«
»Wollen Sie gefälligst einmal die Brille abnehmen?« sagte Oswald.
»Mit Vergnügen. Hätte ich im Mittelalter gelebt, würde ich mir nicht an der Lektüre schlecht gedruckter Schmöker die Augen verdorben haben. Wenn das Mittelalter überhaupt einen Vorzug vor unserer Zeit hatte, so ist es der, daß die Leute nichts zu lernen brauchten. Denken Sie sich: keine Schulen, keinen Cornelius Nepos, keine Geschichte des Mittelalters, keine Examina; bloß ein paar Fechtstunden bei einem allen Haudegen von Knappen, der, wie der Klosterbruder im Nathan, der Herren gar viel gehabt und von dem einen noch immer ein hübscheres Schelmenstückchen zu erzählen weiß als von dem andern; und dann etwa, wenn man Anspruch auf höhere Bildung machte, ein paar Lektionen auf der Laute bei einem lustigen, fahrenden Gesellen, der voller hübscher Lieder und toller Schwänke steckt, der vor tausend Türen gesungen und ebensoviel schöne Mädchen geküßt hat – das muß doch ein famoses Leben gewesen sein! Und vor allem diese Leichtigkeit der Ortsveränderung, diese unbedingte, aber höchstens durch ein paar handfeste Burschen, die einem in dem ersten besten Hohlweg den Schädel ein ganz klein wenig einschlagen, bedingte Freizügigkeit! George Sand hat einmal ein hübsches Wort gesagt, das einzige, das ich aus allen ihren vielen Romanen behalten habe, wahrscheinlich weil es mir aus der Seele geschrieben war: Was gibt es Schöneres als eine Landstraße? Ist das nicht prächtig? Ist das nicht die ganze Poesie, zum wenigsten die Poesie des Abenteuerlichen, in einem Worte? Ich könnte die Frau küssen für das Wort, obgleich sie ein Blaustrumpf ist, und ich die blauen Strümpfe hasse wie den Teufel, oder vielmehr ärger als den Teufel, der doch im Grunde nur ein verkanntes Genie ist und als solches auf die Sympathie jedes Gebildeten Anspruch machen kann. Aber wenn einen in unserer Zeit der Teufel und seine Helfershelfer und Diener auf Erden, die Gläubiger, plagen, wo soll man hinfliehen vor ihrem Angesicht? Damals, in der guten alten Zeit, packte man eines schönen Morgens vor Sonnenaufgang sein Ränzel, oder in Ermangelung dessen, sich selbst, marschierte zum Tor hinaus und war, wenn man nach einer Stunde das Weichbild der Stadt hinter sich hatte, in Sicherheit, und, ehe der Abend kam, mußte einem schon so viel Abenteuerliches begegnet sein, daß man die alte Stadt und das hübsche braune Mädchen darin, für die man gestern noch leben und sterben wollte, bis auf die Erinnerung vergessen hatte. – Sind Sie fertig? Na, lassen Sie einmal sehen. Hm! Sie zeichnen, wie der Maler Conti in der Emilia Galotti, nicht, was die Natur geschaffen hat, sondern was sie hätte schaffen sollen, wenn sie in dem betreffenden Augenblicke nicht unglücklicherweise blind gewesen wäre. Sehr hübsch in der Tat, aber das Original ist mir doch lieber. Und Dichter sind Sie auch, wie ich sehe.«
»Wieso?«
»Nun, die andere Seite ist ja von oben bis unten mit Versen beschrieben. Und noch dazu Sonette, die ich über alles liebe. Ich darf sie doch lesen?«
»Es ist nicht des Lesens wert«, sagte Oswald, den Alberts Frage sichtbar verlegen machte. – Die Verse waren an Melitta, waren in der Erinnerung an die erste köstliche Zusammenkunft im Waldhäuschen geschrieben! Er glaubte das Blatt sicher in seinem Pult verwahrt, und bereute bitter seine Unvorsichtigkeit, die es jetzt seinem übermütigen und, wie er fürchten mußte, keinesweg sehr diskreten Gast in die Hände gespielt hatte. Glücklicherweise war Melittas Name nicht genannt.
»Nicht des Lesens wert?« sagte Albert. »Das wollen wir gleich einmal sehen. Dichter haben kein objektives Urteil über ihre Produkte. Denken Sie einmal, ich hätte die Verse gemacht und fühlte mich gedrungen, sie Ihnen vorzulesen. Hören Sie zu!
Sie liebt mich!
Der Anfang ist weniger originell als wahr. Aber Sie werden mir zugeben, daß man ein so uraltes Thema nicht immer wieder neu behandeln kann. Also:
Sie liebt mich! Herz, hör auf so wild zu schlagen!
Halt aus, mein Herz! Du darfst nicht auch zerpringen, Weil er zersprang, der erste von den Ringen, Die du so lange Jahre hast getragen. Sie liebt mich! Wie die Wolken eilend jagen
Sie liebt mich! Oh, noch schwebt auf meinem Munde
Noch fühl' ich ihre Brust an meiner beben –
|
Wie finden Sie das? Ich dächte, ich hätte das erste, stürmische Entzücken eines Liebenden in dem Augenblicke, wo er sich der Gegenliebe des angebeteten Wesens versichert hat, gar nicht so übel gezeichnet. Aber hören Sie weiter, wie das Allegro in ein Adagio verklingt:
O sterngeschmückte, milde, heil'ge Nacht!
Du grabesstiller, tiefer Gottesfrieden! Du heilst die Kranken und erquickst die Müden Nach ihrer wirren, tollen Lebensjagd. Und du hast mich so überreich bedacht,
O Mutter Nacht, die du uns hast geboren,
Oh, ginge einst mein holdes Glück verloren,
|
Albert hatte die Verse ohne alle Affektion klar und verständig, ja mit einem gewissen Anflug von Wärme vorgetragen. Oswald wußte ihm Dank dafür. Er hatte schon gefürchtet, die Gedichte, auf die er freilich nur insofern Wert legte, als sie ein treuer Ausdruck seiner Empfindungen waren, von dem frechen Spötter ihm gegenüber schonungslos profaniert zu sehen. Er war froh, so leichten Kaufs davongekommen zu sein.
»Machen Sie nie Verse?« fragte er, indem er das Blatt nahm und in ein Heft legte, das noch andere Poesien zu enthalten schien.
»Ich?« sagte Herr Timm, einen tiefen Schluck aus seinem Glase tuend. »Bewahre! Dazu bin ich viel zu praktisch. Die praktische Weltanschauung und die poetische vertragen sich wie Hund und Katze. Wenn das Kätzchen Poesie gerade am zärtlichsten miaut, bellt der Hund Prosa mit seiner groben Stimme dazwischen und die kleine Schwärmerin verstummt. Warum wollen Sie zum Beispiel Knall und Fall sterben, wenn Ihnen das ›holde Glück‹, wie Sie es nennen, verlorengeht? Das ist doch so unpraktisch wie möglich. Warum sagen Sie nicht statt: ›Dann laß zurück in deinen Schoß mich sinken‹ – ›Dann laß mich schnell in andere Arme sinken‹ – oder dergleichen, wodurch das Gemüt des Hörers beruhigt oder vor seinem Auge eine höchst angenehme Perspektive aufgetan würde. Was habt ihr Poeten denn überhaupt davon, einem das bißchen Vergnügen, das man sich noch allenfalls auf diesem melancholischen Planeten verschaffen kann, geflissentlich zu verkümmern! Aber freilich, ich spreche davon wie ein Blinder von der Farbe. Vielleicht befindet ihr euch dort oben in Wolkenkuckucksheim, alles in allem, doch besser als wir auf der höckrigen Erde, wo man von Hühneraugenschmerzen und anderen irdischen Empfindungen, die euch lustigen Gesellen erspart sind, gar viel zu leiden hat. Ich habe mir schon manchmal gewünscht, ich hätte ein bestimmt ausgesprochenes Talent für diese oder jene Kunst: Poesie, Musik, Hühneraugenoperieren, Malerei, Grimassenschneiden, Plastik, Gliederverrenken – gleichviel, nur irgendeinen Sparren, an dem man sich halten kann, wenn einem die Wellen des Lebens über dem Kopf zusammenschlagen. Ich erinnere mich, einmal in einer Tierbude an einem Dachs gesehen zu haben, welcher Segen im Unglück ein solches Talent ist. Die übrigen talentlosen Bestien liefen wie verrückt in ihren Käfigen umher oder brüllten vor Wut und Hunger oder ergaben sich im besten Falle einer stummen Verzweiflung. Meister Dachs dagegen, seinem angeborenen künstlerischen Triebe folgend, arbeitete unverdrossen an einer imaginären Höhle in dem Boden seines Käfigs, kratzend, kratzend, immer kratzend, vom Morgen bis zum Abend. Er vergaß dabei augenscheinlich Hunger und Kälte, vergaß, daß er gefangen war; in der Ausübung seines Talents, selbst unter so verzweifelt ungünstigen Verhältnissen, seine Seligkeit findend. Ich wollte, ich wäre so ein Dachs! – Der Kognak ist wirklich superb, Sie sollten auch ein Glas trinken, Doktor, um die Wolken von Ihrer Apollostirn zu verscheuchen. – Aber ich habe zu allem Talent, das heißt zu nichts. In meiner Jugend war ich weit und breit als ein Wunderkind verschrien, weil ich wie ein Starmatz alles nachpfiff, was mir die andern vorpfiffen. Der Junge wird's einmal weit bringen, sagten die albernen Menschen, wenn ich wieder einmal so eine erstaunliche Probe meines Gedächtnisses, in dem alles Dumme und Kluge gleich fest haftete, zum besten gab. Ich wollte, ich hätte sitzen und schwitzen müssen wie die andern armen Jungen, denen ich damals die Exerzitien machte und die dafür jetzt gemachte Leute sind, während ich nicht viel Besseres bin wie ein Vagabund. Aber, vive la joie et vive la bagatelle! Es muß auch Vagabunden geben, aus dem einfachen Grunde, weil es sonst keine soliden Leute gäbe. Die Vagabunden sind das Salz der Erde oder wenigstens der fliegende Same, der die sonst fest am Boden klebende und am Boden verrottende Kultur über die ganze Erde verbreitet. Vagabunden gründeten Karthago. Vagabunden gründeten Rom. Was soll ein ehrlicher Kerl, der in Europa nicht mit einer echten Havanna-Zigarre im Munde geboren ist, anders tun, als nach Amerika auswandern, wenn er das sehr natürliche Bedürfnis empfindet, einmal eine echte Zigarre zu rauchen, und sie nicht gerade stehlen will, oder nicht das Glück hat, einen so liebenswürdigen Menschen aufzutreiben wie Sie, der Sie sich echten Kognak und echte Zigarren für Ihre Bekannten halten und dabei noch die Gutmütigkeit haben, dem Geschwätze dieser Bekannten zuzuhören, obgleich Ihnen die Augen beinahe vor Müdigkeit zufallen. Der Tausend! Der Inhalt der Flasche hat sich fast um den dritten Teil seines Volumens verringert. Wie vergänglich doch alles Irdische ist! Buona notte, Don Oswaldo! Dormite bene und träumen Sie dolce von den bei occhi della donna bella, amata, immaculata Ihrer Sonette. Ich für mein Teil will, wie Hamlet, beten gehen, denn nicht einmal zum Schlafen habe ich Unglücklicher Talent, geschweige denn zum Träumen. Gute Nacht, Dottore!«
»Gute Nacht!« sagte Oswald, sich schlaftrunken aus seiner Sofaecke erhebend und Albert bis zur Tür begleitend.
»Keinen Schritt weiter, Dottore!« sagte dieser. »Alles hat seine Grenzen!« Und als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, blieb er noch einen Augenblick stehen, legte den Daumen seiner rechten Hand an die Nase, die übrigen vier Finger schnell bewegend – eine Geste, die für Oswald weniger schmeichelhaft als für das kindlich-harmlose Gemüt des Herrn Timm bezeichnend war.