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Der Postbote, der am Abend den Brief Helenes nach der Stadt trug, war am Morgen desselben Tages schon einmal dagewesen. Er hatte Oswald ein Schreiben aus Grünwald von einem seiner dortigen Bekannten gebracht, der auch zugleich einer von den wenigen war, mit dem Professor Berger in einem intimeren Verhältnisse stand. Der Bekannte, ein Dozent an der Universität, schrieb Oswald, daß er ihm die schleunige Nachricht von einem Ereignisse schuldig zu sein glaube, das seit gestern nachmittag die ganze Stadt in die größte Bestürzung versetzt habe. Professor Berger sei ganz plötzlich, zum wenigsten ohne daß irgend jemand eine Ahnung von seiner Krankheit gehabt habe, wahnsinnig geworden. Er sei um vier Uhr, wie gewöhnlich, in seine Vorlesung über Logik gekommen, habe angefangen zu dozieren, scharfsinnig, geistreich, wie immer. Dann hätte seine Rede begonnen, verworren und immer verworrener zu werden, so daß ein Student nach dem andern die Feder niedergelegt und den Nachbar voll Verwunderung und Schrecken angestarrt habe. »Wissen Sie, meine Herren«, habe Berger gerufen, »was der Jüngling von Sais erblickte, als er den Schleier hob, der das große Geheimnis barg – das große Geheimnis, das der Schlüssel sein sollte zu den verworrenen Rätseln des Lebens? Sehen Sie, meine Herren, hier nehme ich meinen Kopf auseinander, die eine Hälfte in diese, die andere in jene Hand – was erblicken Sie in dem Kopfe des berühmten Professor Berger, zu dessen Füßen Sie sitzen, seinen weisen Worten zu lauschen, und sie mit abscheulich kritzelnden Federn in Ihre langweiligen Hefte zu schreiben? Was erblicken Sie? – Genau dasselbe, was der Jüngling von Sais erblickte, als er den Schleier von der Wahrheit hob: Nichts! Absolut nichts, nichts für sich, nichts an sich, an und für sich: Nichts! Und daß dieses hohle, öde Nichts des Pudels Kern sei, daß all unser bestes Streben nichts sei, wir unser Herzblut an nichts und wieder nichts setzen, sehen Sie, meine Herren, das hat den Jüngling von Sais toll gemacht, das hat mich verrückt gemacht, und wird auch Sie um den Verstand bringen, wenn Sie irgendwelchen aus Ihren Spatzenköpfen zu verlieren haben. Und nun, meine Herren, machen Sie Ihre dummen Hefte zu, damit das abscheuliche Kritzeln endlich einmal aufhört, und stimmen Sie mit mir in das tiefsinnige und erhebende Lied ein: Oh, da sitzt 'ne Flieg' an der Wand!« Berger habe darauf mit lauter Stimme, und das Katheder mit den Fäusten bearbeitend, angefangen zu singen, sei dann im Auditorium an den Wänden entlang gelaufen, nach imaginären Fliegen haschend, habe dann jedesmal die Hand geöffnet, hineingeschaut und triumphierend gerufen: »Nichts, meine Herren, sehen Sie, nichts und wieder nichts!«
Der Bekannte schloß den Brief mit der Mitteilung, daß Professor Berger sogleich am folgenden Tage auf den Rat seiner Ärzte nach Fichtenau in die berühmte Heilanstalt des Doktor Birkenhain transportiert sei; er habe alles gutwillig mit sich geschehen lassen, nachdem man ihm vorgeredet, man wolle ihm das große Ur-Nichts zeigen.
Oswald war durch den Inhalt dieses Briefes tief erschüttert. Er hatte in Berger seinen Freund geliebt und geehrt; er hatte sich des wunderlichen Mannes Liebe in hohem Grade erworben; er hatte tiefere Blicke als wohl irgend jemand sonst in diesen reichen Geist getan. Wie oft hatte er dem Außerordentlichen mit entzücktem Schweigen zugehört, wenn dieser, von einem scharfsinnigen und genau formulierten Satze ausgehend, plötzlich aus dem Gebiete der Logik in eine Welt geriet, die sich ihm nur durch eine höhere Intuition erschließen konnte, und nun Traum an Traum und Gesicht an Gesicht reihte, so phantastisch, so märchenhaft, aber auch so schön und rein, daß Oswald alles andere darüber vergaß und leibhaftig in dieser Fata Morgana umherzuwandeln glaubte, bis der Magier mit einem Worte höhnenden Schmerzes und wilder Verzweiflung die köstliche Spiegelung versinken ließ. Und nun war dieser reiche Geist zerstört und diese hohe Intelligenz in des Wahnsinns öde Nacht versunken! – Oswald erschien dies so ungeheuer, so unfaßbar, daß ihm war, als sei die Welt aus den Fugen gegangen, als müsse jetzt, nachdem diese erhabene Säule gestürzt, alles in grause Trümmer zerfallen. Wenn dies geschehen konnte, was war dann noch unmöglich? Dann war ja auch wohl Freundschaft ein Märchen und Liebe eine Fabel – dann mochte ja auch wohl etwas mehr hinter dem Zufall zu suchen sein, der ihm heute morgen den augenblicklichen Aufenthaltsort Oldenburgs verriet. – Als Oswald nämlich einen Blick auf die Aufschriften der Briefe warf, die der Postbote aus seiner Tasche genommen hatte und durch die Hand laufen ließ, um den für Oswald bestimmten herauszusuchen, fiel ihm einer auf, auf dem die Adresse offenbar von Oldenburgs höchst eigentümlicher und schwer mit einer andern zu verwechselnder Handschrift war. Der Brief war an des Barons Verwalter in Cona adressiert. Weshalb sollte der Baron nicht an seinen Verwalter schreiben dürfen? Aber Oswald erfuhr zugleich durch den Poststempel den Ort, von welchem aus dieser Brief abgesandt war; dieser Ort war derselbe, wohin man Berger geschickt hatte, derselbe, wo Herr von Berkow seit sieben Jahren – und wo Melitta seit vierzehn Tagen war, das heißt, zwei Tage länger, als die geheimnisvolle Reise Oldenburgs gedauert hatte! In dem ausführlichen Briefe Melittas, den Oswald vor einigen Tagen durch Baumann erhielt, hatte sie des Barons Anwesenheit mit keinem Worte erwähnt; Baumann selbst aber mußte durch Bemperlein davon unterrichtet gewesen sein, denn er war in Verlegenheit geraten, als er die Personen nannte, die bei dem Besuche, welchen Melitta ihrem sterbenden Gemahl machte, zugegen gewesen waren. Warum dieses geheimnisvolle Wesen bei einem Manne, der die Gradheit und Offenheit selbst schien? War er dazu beauftragt, oder hatte er, der die Verhältnisse der Herrin so genau kannte, seine besonderen, gewichtigen Gründe, die Wahrheit zu verheimlichen?
Dies waren die schlimmen Gedanken, die durch Oswalds Hirn zogen, als er im heißen Nachmittagssonnenschein barhaupt an dem Brunnen der Najade stand und bewegungslos in das Wasser starrte, während Fräulein Helene an ihrem Schreibtisch Betrachtungen darüber anstellte, ob sie selbst vielleicht die Ursache dieser Verstimmung sei. Ehe sie indessen darüber zu einem Resultat gekommen war, klopfte es an ihre Tür. Das junge Mädchen schloß sofort ihre Schreibmappe und schien ganz in Lamartines Voyage en Orient vertieft, als sich auf ihr Herein die Tür öffnete und die Baronin ins Zimmer trat.
»Störe ich dich, liebe Helene?«
»Durchaus nicht, liebe Mama!« sagte das junge Mädchen aufstehend und ihrer Mutter entgegengehend.
»Du bleibst heut so außergewöhnlich lange auf deinem Zimmer, daß ich doch sehen wollte, was dich denn so fesselte. Lamartines Voyage? Nun, ein recht hübsches Buch, aber ein wenig überspannt, wie mir scheint. Freilich, in meinen Jahren bekommt man eine etwas andere Ansicht von dem Leben und so auch von den Büchern und Menschen. Aber ich freue mich, daß du nicht müßig bist, daß du das Talent hast, dich zweckmäßig zu beschäftigen. Ich fürchtete schon, die Monotonie unseres Lebens hier würde doch gar zu sehr von dem muntern Treiben in der Pension abstechen und du würdest diesen Unterschied schmerzlich empfinden. Wir können dir hier so wenig bieten! Das war immer mein Refrain, wenn der gute Vater darauf drang, dich endlich einmal aus der Pension zu nehmen.«
»Aber ich versichere dich, liebe Mama, du hast dir ganz unnötige Sorge meinethalben gemacht«, sagte Fräulein Helene, die dargebotene Hand der Mutter an die Lippen ziehend, »ich fühle mich hier sehr glücklich, und wie wäre das auch anders möglich! Bin ich nicht im elterlichen Hause, wo mir alle mit Liebe oder doch mit Freundlichkeit entgegenkommen? Habe ich nicht alles, was ich nur wünschen kann? Ich wäre wahrlich sehr, sehr undankbar, könnte ich das auch nur einen Augenblick vergessen.«
»Du bist ein gutes, verständiges Kind«, sagte die Baronin, ihre schöne Tochter auf die Stirn küssend, »ich werde noch recht viel Freude an dir erleben. Das ist meine sichere Hoffnung, wie es mein tägliches Gebet ist. Ach, meine liebe Tochter, glaube mir, ich bedarf gar sehr dieses Trostes, wenn ich nicht den vielen Sorgen, die auf mich einstürmen, unterliegen soll.«
Die Baronin hatte sich auf ein kleines Sofa gesetzt; sie schien sehr erregt und trocknete sich mit dem Taschentuche die nassen Augen.
»Was hast du, liebe Mama?« sagte Fräulein Helene mit wirklicher Teilnahme. »Ich bin nur ein unerfahrenes Mädchen, aber wenn du Vertrauen zu mir haben kannst, teile dich mir mit. Wenn ich dir auch nicht raten und helfen kann, so vermag ich doch vielleicht dich zu trösten, und das würde mir eine große Freude bereiten.«
»Liebes Kind«, sagte die Baronin, »du bist lange – komm, setze dich her zu mir und laß uns einmal recht vertraulich miteinander reden –, du bist so lange vom elterlichen Hause entfernt gewesen und warst noch so jung, als du es verließest, daß du notwendigerweise von unseren Verhältnissen so gut wie gänzlich ununterrichtet bist. Du glaubst, wir seien reich, sehr reich; aber es ist beinahe das Gegenteil der Fall, für uns Frauen wenigstens. Das ganze große Vermögen fällt nach des Vaters Tode – den der allgütige Gott in seiner Gnade noch recht lange verhüten möge – an deinen Bruder. Mir bleibt, außer einer sehr geringen Witwenpension, nichts – und du, mein armes Kind, gehst gänzlich leer aus.«
»Aber, Mama, ich hörte doch immer, daß Stantow und Bärwalde dem Vater gehörten und daß er darüber ganz frei verfügen könne?«
»Du irrst, mein Kind; die beiden Güter gehören nicht dem Vater. Sie werden ihm vielleicht einst gehören, wenn sich der eigentliche Erbe bis zu einer gewissen Zeit nicht meldet. Ich kann über diesen Punkt nicht ausführlich sein, liebes Kind, weil ich dabei gewisse Verhältnisse deines Onkels Harald berühren müßte, über die man mit einem jungen Mädchen lieber nicht spricht. Genug, auf die Güter können wir nicht mit Bestimmtheit rechnen. Alles, was uns bleibt, sind einige tausend Taler, die dein Vater und ich bis jetzt von unserer Rente haben erübrigen können.«
»Liebe Mama, mache dir meinethalben keine Sorge«, sagte Fräulein Helene, »ich bin in Hamburg nicht verwöhnt, und der Luxus, mit dem mich hier deine Liebe umgeben hat, ist mir etwas ganz Neues. Ich werde auch mit wenigem zufrieden und glücklich sein können – und dann, der gute Vater ist ja jetzt, Gott sei Dank, wieder so munter und rüstig, hat sich von dem Fieberanfall in Hamburg so auffallend schnell erholt, daß wir uns seiner Liebe und Fürsorge gewiß noch recht lange werden erfreuen können.«
»Das gebe Gott!« sagte die Baronin. »Aber ich fürchte, wir müssen uns auf das Schlimmste gefaßt machen. Der Vater ist keineswegs so rüstig, wie du glaubst. Er kränkelt fortwährend, obgleich er es uns so wenig wie möglich merken läßt. Der Hamburger Arzt schilderte mir des Vaters Zustand als sehr bedenklich. Sollte er uns entrissen werden, dann würdest du leider Gelegenheit erhalten, die Stichhaltigkeit deiner Grundsätze zu erproben. Aber, mein Kind, du kennst das Leben nicht. Es läßt sich leicht von Armut sprechen, wenn man sie nur vom Hörensagen kennt. Ich kenne sie aus Erfahrung; ich war ein armes Mädchen, als mich dein Vater heiratete; ich weiß, was es heißt, ein Kleid wenden und wieder wenden, weil man kein Geld hat, ein neues zu kaufen; ich weiß, welchen tausendfachen Demütigungen ein armes Mädchen von Adel ausgesetzt ist.«
»Es wird anders und besser kommen als du denkst, teuerste Mama. Ich weiß nicht, ist es meine Jugend oder ist es der schöne leuchtende Sommertag – ich kann unsere Lage nicht in dem trüben Lichte sehen. Ich werde –«
»Mich mit einem reichen und würdigen Mann verheiraten?« sagte die Baronin mit einem Lächeln, das ihr sehr sonderbar stand.
»Aber Mama –«
»Ich weiß es wohl, daß du etwas anderes sagen wolltest, meine Tochter. Es ist ein Scherz von mir, aus dem hoffentlich ein recht erfreulicher Ernst wird. Du stehst in den Jahren, wo es einem jungen Mädchen wohl erlaubt ist, in Zucht und Ehren einem solchen Gedanken in ihrem Herzen Raum zu geben. Wohl ihr, wenn sie ihre Wahl auf einen Würdigen lenkt, besser noch, wenn sie dieselbe ihren Eltern überläßt, die nur ihr Glück wollen und durch die reiche Erfahrung eines langen Lebens in diesem Bemühen unterstützt werden.«
»Aber Mama, bis dahin hat's noch lange Zeit.«
»Sehr wahrscheinlich, mein Kind; indessen, man kann nicht wissen, was der Himmel über dich beschlossen hat, ihm muß man in diesen, wie freilich auch in den anderen Dingen des Lebens, alles anheimstellen. – Aber wer ist nur der Mann, der dort so lange unbeweglich am Brunnen steht; ich habe meine Lorgnette in meinem Zimmer gelassen.«
,.Es ist Herr Stein, Mama; er steht dort schon seit einer halben Stunde mindestens; ich glaube, er ist festgewachsen.«
»Ein wunderlicher Mensch, dieser Stein«, sagte die Baronin. »Er hat für mich geradezu etwas Unheimliches. Es ist schlechterdings unmöglich, aus ihm klug zu werden. Wie gefällt er dir, liebe Helene?«
»Aber, Mama, ich habe wirklich noch nicht darüber nachgedacht; und bei solchen Leuten kann eigentlich doch von Gefallen oder Mißfallen kaum die Rede sein. Ich dächte, sie wären sich alle gleich, oder wenigstens sind die Unterschiede so gering, daß man sie nicht wohl bemerken kann; – der eine heißt Stein, der andere Timm – das ist doch im Grunde alles.«
»Du hast recht, liebe Tochter«, sagte die Baronin. »Diese Leute sind Statisten, man sieht sie nur, wenn die handelnden Personen einmal abgetreten sind. Glücklicherweise kann ich dir in allernächster Zukunft eine andere und bessere Gesellschaft versprechen.«
»Und die wäre?«
»Dein Cousin Felix. Ich erhielt soeben einen Brief von ihm – der Postbote ist noch draußen in der Küche, du kannst ihm einen Brief mitgeben, wenn du vielleicht ein paar Zeilen nach Hamburg schreiben willst – er meldet uns seinen Besuch auf morgen oder übermorgen an. Aber war das nicht deines Vaters Stimme? Adieu, liebes Kind; mache dich zurecht, wir wollen etwas früher essen und dann noch eine Visite bei Plüggens machen.«
Die Baronin küßte ihre Tochter auf die Stirn und verließ das Zimmer. Fräulein Helene holte eilig den auf die Seite geschobenen Brief wieder hervor, um noch dazu zu schreiben: »Mama, die mich soeben verläßt, ist doch wirklich sehr gut und freundlich zu mir. Sie kündigte mir einen Besuch an: Cousin Felix (der Leutnant). Es wird wohl durch ihn etwas mehr Leben nach Grenwitz kommen, denn auf Herrn Stein scheint man nicht mehr rechnen zu können. Er stellt noch immer am Brunnen. Adieu, dearest, dearest Mary!«