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Wer sich für Albert Timm spezieller interessierte, konnte bemerken, daß diesem Herrn in den letzten Tagen irgend etwas Besonderes zugestoßen sein mußte. Zwar ließen sich der schwarze Frack, den er jetzt ständig trug, die größere Sorgfalt, die er auf seine Toilette verwandte, und andere mit seinem äußeren Menschen geschehene Veränderungen füglich durch die Anwesenheit Fräulein Helenes und die gehobenere Stimmung, die durch sie in die Gesellschaft auf Schloß Grenwitz gekommen war, erklären, aber wie sollte man den Ernst deuten, der jetzt häufig auf seiner weißen Stirn und in seinen hellen blauen Augen lag, wie die Schweigsamkeit, zu der er, der sonst keine Minute still sein konnte, sich oft auf Stunden verurteilte, wie vor allen Dingen den rastlosen Fleiß, mit dem er jetzt halbe Tage lang über sein Reißbrett gebeugt stand und zeichnete und tuschte? Allerdings hatte Herr Timm während der kurzen Abwesenheit der Familie nur den harmlosen Freuden eines angenehmen ländlichen Aufenthaltes gelebt bis zu dem Augenblicke, wo er, von einer plötzlichen Anwandlung von Fleiß ergriffen, in die Registratur ging, die alten Flurkarten zu holen, und bei dieser Gelegenheit ein kleines, mit einem rotseidenen Faden zusammengebundenes Paket Briefe fand, in deren Lektüre er durch das Rollen des Wagens, der die Familie Grenwitz so unverhofft zurückbrachte, gestört wurde. Indessen, es war ganz gegen Alberts Natur, über einen Müßiggang, dem er sich längere oder kürzere Zeit hingegeben, Reue zu empfinden; und überdies arbeitete er so schnell und gewandt, daß es ihm ein kleines war, auch größere Versäumnisse in sehr kurzer Zeit nachzuholen. Die Flurkarten, die neuen oder die alten, waren es sicher nicht, über die er sich den Kopf zerbrach. Davon würde man sich überzeugt haben, wenn man an dem Nachmittage einen Blick in sein Zimmer geworfen hätte, das er, sehr gegen seine Gewohnheit, hinter sich abgeschlossen.
Herr Timm saß auf dem kleinen Sofa in seiner Stube, ein Bein untergeschlagen, den Kopf in die Hand gestützt, und aus seiner Zigarre mächtige Wolken blasend, offenbar in tiefes Nachdenken verloren. Neben ihm auf dem Sofa lagen die Briefe, die er in dem Repositorium der Registratur gefunden. Es waren ihrer nicht viele, alle von derselben zierlichen Hand auf ziemlich graues Papier geschrieben, wie man es noch vor einigen Jahrzehnten ganz allgemein selbst zu Briefen benutzte. Die Briefe mußten wohl dieses Alter haben, denn die Tinte war ganz vergilbt und konnte so einigermaßen das Datum ersetzen, das in sämtlichen Briefen fehlte.
»Es muß sich etwas mit diesen Briefen anfangen lassen«, sagte Albert, leise mit sich selbst redend, »ich weiß nur nicht gleich was. Wenn es mir gelänge, die Antworten dazu zu finden, so müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn ein so schlauer Kopf wie der meine dem großen Geheimnis nicht bis in seine verborgenste Höhle nachspürte. Auf der richtigen Spur, denke ich, bin ich schon jetzt. Daß Mutter und Kind gestorben sein sollten, ist so unwahrscheinlich wie möglich. Die Marie war allem Anschein nach ein wahres Kernmädel, und das bißchen Jammer und Kummer wird ihr das Herz schon nicht gebrochen haben. Das Kind aber aus dieser wilden Ehe hat sich jedenfalls des legitimen Vorrechts aller illegitimen Sprößlinge, weniger hoch- als wohlgeboren zu sein, zu erfreuen gehabt. Die Mutter also oder das Kind oder beide leben noch. Leben sie aber – und ich wünsche und hoffe es – so wissen sie entweder nichts von dem kostbaren Kodizill zum Testamente des seligen Bruder Lüderlich oder sie sind davon unterrichtet. In dem letzteren Fall, der nicht sehr wahrscheinlich ist – denn vor einer so fetten gebratenen Taube den Mund zu verschließen, überstiege doch alles, was ich von menschlicher Dummheit bis jetzt gehört und gesehen habe, und das will sehr viel sagen –, müßte man sie zu bestimmen suchen, von ihrem guten Rechte Gebrauch zu machen; in dem ersten Fall, dem bei weitem wahrscheinlicheren, müßte man ihrer erbarmungswürdigen Unwissenheit freundlichst zu Hilfe kommen; in jedem Falle – und da liegt der Hase im Pfeffer – müßte man erst wissen, wo sie denn überhaupt zur Zeit sich befinden. Daß sie sich in allzugroßer Nähe einen Zufluchtsort gesucht haben sollten, ist nicht wohl anzunehmen. Denn einmal würde Harald, der jedenfalls kein Mittel unbenutzt ließ und das Geld nicht schonte, sie nach der Flucht gefunden haben, zweitens pflegen die Leute bei solchen Gelegenheiten so weit zu laufen, als es irgend möglich ist, und drittens scheint dieser Monsieur d'Estein ein viel zu schlauer Fuchs gewesen zu sein, um sich vor dem Löwen, der ihm auf der Fährte war, nicht sicher mit seinem Täubchen zu verstecken. Überhaupt ist dieser Monsieur eine sehr irrationale Größe, die sich in meiner Rechnung als ein äußerst störender Faktor erweist. Wenn er nicht bald nachher gestorben ist, so hat er jedenfalls noch viel Unsinn angerichtet, vielleicht gar die kleine Marie geheiratet, das Kind adoptiert und die beiden zurück nach Frankreich oder nach Amerika oder sonstwohin geführt, wo für mich die Welt mit Brettern zugenagelt ist, und mir so den ganzen Spaß verdorben. Das wäre schändlich, denn die Geschichte könnte wirklich über alle Begriffe spaßhaft werden. Ich möchte wohl die Gesichter von den beiden sehen, wenn ich vor sie träte und sagte: Meine armen Schelme, was gebt ihr mir, wenn ich euch zu einem hübschen Vermögen von einigen hunderttausend Tälerchen verhelfe? Oder auch – und das wäre nicht minder bequem, ja vielleicht ein gut Teil bequemer – wenn ich mich eines schönen Nachmittags bei der guten Anna-Maria introduzierte und sagte: Entschuldigen Sie, meine Gnädigste, wenn ich störe; aber ich habe – unter den Papieren meines Vaters, der, wie Sie wissen, mit Ihrem verstorbenen Vetter Harald in Geschäftsverbindung stand, gewisse Papiere aufgefunden, die mich in den Stand gesetzt haben, die rechtmäßigen Besitzer von Stantow und Bärwalde mit Gewißheit angeben zu können. Mein Rechtlichkeitsgefühl und die spezielle Verehrung, die ich für Sie und Ihr Fräulein Tochter empfinde, liegen sich nun sehr bedeutend in den Haaren. Das erstere befiehlt mir, von meiner Entdeckung den pflichtschuldigen Gebrauch zu machen, die letztere heißt mich, die Sache zu vertuschen. Wie wäre es, hochverehrte Frau, wenn Sie meiner vollkommen uneigennützigen Verehrung mit einigen tausend Talern, die ich, auf Ehre, sehr notwendig brauche, zu Hilfe kämen?«
Dieser Gedanke schien für Herrn Timm etwas Begeisterndes zu haben. Er sprang vom Sofa auf und ging mit raschen Schritten, lebhaft gestikulierend, in seinem Gemache auf und ab. »Das könnte eine wahre Schatzgrube für mich werden«, murmelte er, »ich wollte das stolze Weib ängstigen, daß ihre großen grauen Augen noch einmal so groß würden; ich wollte ihr Daumschrauben ansetzen und jedesmal, wenn ich Geld brauchte, die Schraube etwas fester anziehen. Sie würde alles und jedes tun, ehe sie es auf einen Prozeß ankommen ließe. Dann wäre ich so ein Stück von Herr im Hause, dann könnte ich die Narrenmaske fallenlassen und mich einmal in meiner wahren Gestalt zeigen. Dann könnte ich bestimmen, wen Fräulein Helene heiraten soll, ja könnte sie selber heiraten, wenn ich wollte, und jedenfalls der Ankunft meines guten Freundes Felix, die mir die gute Anna-Maria in allem Vertrauen mitteilte, mit aller Ruhe entgegensehen. Zwar bin ich auch so nicht besonders unruhig darüber, denn Freund Felix war der würdige Schüler seines Meisters und schlug die Volte nicht schlechter als ich, und wenn ihn sein alter Adel nicht geschützt hätte, so wäre es ihm wahrscheinlich nicht besser ergangen. So freilich kam der Fähnrich Baron Felix von Grenwitz mit einer Warnung davon, und der Fähnrich Albert Timm mußte springen. Ich bin doch neugierig auf unser Wiedersehen. Vielleicht kennt er mich nicht mehr; vielleicht wird er versuchen, den unbequemen Gast möglichst bald aus dem Hause und sich aus den Augen zu schaffen. Ha, wie sollte das Blatt sich wenden, wenn diese verdammten Briefe nicht so frauenzimmermäßig gerade über die wichtigsten Punkte flüchtig weghuschten!«
Albert setzte sich wieder auf das Sofa und begann die Briefe, obgleich er sie jetzt schon so ziemlich auswendig wußte, noch einmal der Reihe nach – er hatte sie sorgfältig numeriert – zu lesen.
Nr. 1. Mein Herr! Ich kenne Sie nicht und wenn Sie derselbe sind, der sich vor einigen Wochen im Tiergarten so unaufgefordert in die Unterhaltung mischte, die ich mit meinem Begleiter führte und sich von dem letzteren eine so derbe Zurechtweisung zuzog; derselbe, der mich jetzt allabendlich, wenn ich aus dem Geschäft nach Hause gehe, verfolgt – so werden Sie es begreiflich finden, daß ich sehr wenig Lust verspüre, Sie kennenzulernen. Ich bitte, verschonen Sie mich mit Ihren Zudringlichkeiten, zu denen ich vor allem auch Ihre Briefe rechne. Ich würde diesen, wie die andern, unbeantwortet gelassen haben, wenn ich nicht fürchtete, durch fortgesetztes Schweigen Ihre Kühnheit zu begünstigen. Sollte es wirklich Männer geben, welche der direkten Bitte einer Frau, und noch dazu einer unbeschützten und schutzlosen Frau, widerstehen können?
Marie Montbert.
Nr. 2. Mein Herr! Sie scheinen allerdings die Wege zu kennen, durch die man sich die Verzeihung einer Frau, die man beleidigt hat, gewinnt. – Welches auch die Motive waren, von denen Sie bei Ihrer Handlung geleitet wurden, – Sie haben viel Tränen getrocknet, Sie haben eine ganze Familie von der Verzweiflung gerettet. Ich selbst konnte nichts mehr für meine armen Landsleute tun – als nur Gott bitten, ihnen einen Retter zu senden. Er hat Sie gesandt. Beweisen Sie sich dieser Gnade würdig! Bedenken Sie, daß, wer Lohn begehrt, seinen Lohn dahin hat, und lassen Sie nicht Ihre Linke wissen, was Ihre Rechte tat.
Ihre ergebene Dienerin
Marie Montbert.
Nr. 3. Was wissen Sie von dem Schicksal meines Vaters? Um Gottes willen, mein Herr, spielen Sie nicht mit dem Herzen eines Kindes! Sie wollen von einem Obrist der großen Armee, in dessen Regiment er den Feldzug nach Rußland mitmachte, ganz genaue Einzelheiten über ihn während der Kampagne und die näheren Umstände bei seinem Tode kurz vor dem Übergang über die Beresina erfahren haben. Es klingt dies alles so unwahrscheinlich – und doch, woher könnten Sie es wissen, wenn nicht aus sicherer Quelle? – Auch der Name des Obristen, wie ich aus Briefen meines Vaters an meine Mutter ersehe, stimmt. Ich weiß nicht, was ich glauben soll – aber weshalb mir diese Mitteilungen, die, ich gestehe es, von unendlichem Wert für mich sind, nicht in meiner Wohnung – ich will sagen: in der Wohnung der guten Frau, die bei mir seit langen Jahren Mutterstelle vertritt? Weshalb dieses geheimnisvolle Rendezvous? Weshalb ein Kind, das Nachricht von dem Tode seines Vaters erwartet, zwingen, einen Schritt zu tun, den dieser Vater, wenn er lebte, niemals billigen würde? Ich werde nicht umsonst an Ihr Herz appellieren; ich weiß, daß es der Großmut fähig ist.
Meine Wohnung ist Marienstraße 21. Wenn Sie die drei engen Treppen nicht scheuen, so werde ich morgen, Sonntag, zwischen 10 und 12 Uhr zu Ihrem Empfang bereit sein.
Ihre ergebenste Dienerin
Marie Montbert.
Nr. 4. Sie bestehen auf dem Rendezvous, das, wie Sie sagen, durchaus kein geheimnisvolles sei, denn es fände auf offener Straße statt, an einem der lebhaftesten Punkte der Stadt und zu einer Zeit, wo die Straßen noch von Fußgängern schwärmten. Sie wollen mir die Gründe, die Sie bestimmen, meinen Wunsch, »so schmerzlich es Ihnen auch sei«, nicht zu erfüllen, selbst sagen, und Sie schwören mir, ich werde diese Gründe, wenn ich sie erfahre, billigen. Sind Sie dessen so gewiß? – Aber freilich, Sie sind der Geber – ich die Empfängerin – ich muß mich wohl Ihren Wünschen fügen; daß Sie mich täuschen wollten, will ich, kann ich nicht denken. Sie sind einmal so großmütig gegen Arme und Hilflose gewesen, Sie können das andere Mal gegen ein armes, hilfloses Mädchen nicht so ungroßmütig sein.
M. M.
Nr. 5. Herr Baron! Nochmals meinen innigsten, herzlichsten Dank! Dank auch für die Zartheit, mit der Sie alles eingeleitet hatten! Wie bitter Unrecht habe ich Ihnen getan! Aber konnte ich ahnen, daß Sie mich mit dem Herrn Obristen von St. Cyr selbst bekanntmachen würden? Daß ich aus dem Munde dieses Veteranen in meiner geliebten Muttersprache den Heldentod meines Vaters sollte erzählen hören? Sie wollten nicht, daß der Obrist die Tochter eines Helden, den letzten Sproß einer einst reichbegüterten, angesehenen Familie in so dürftigen Verhältnissen fände; Sie wollten mir die Verlegenheit ersparen, den Grafen von St. Cyr und den Baron von Grenwitz in einer Dachkammer zu empfangen. Sie zogen es vor, mich als Erzieherin in einer Ihnen nahe verwandten Familie vorzustellen – und es war am Ende recht sind billig, daß ich in Ihrer Gesellschaft den kranken und von der Reise angegriffenen alten Herrn in seinem Hotel aufsuchte. Nochmals vielen, vielen Dank! Auch dafür, daß Sie auf dem langen Rückweg vom Hotel bis zu meiner Wohnung den frischen Schmerz durch ein Schweigen ehrten, das Ihnen bei Ihrem lebhaften Naturell gewiß nicht leicht geworden ist. Wodurch habe ich denn nur das Interesse, welches Sie an meinem Schicksal nehmen, verdient? Ich bin doch wahrlich recht unartig und unfreundlich gegen Sie gewesen! Sie fragten mich zuletzt, ob ich jetzt glaube, daß Sie es gut mit mir meinen? Dieser Brief mag Ihnen darauf Antwort geben. Sie verlassen morgen die Stadt – reisen Sie glücklich, und lassen Sie sich durch die beifolgende kleine Arbeit – ich habe sie in dieser Nacht gefertigt – manchmal erinnern an
Ihre dankbare
Marie Montbert.
»Nun ist das Püppchen geknetet und zugerichtet«, sagte Albert, der mit einem gar seltsamen und unheimlichen Eifer – wie ein Beschwörer, der die Rezepte eines Nebenbuhlers in der schwarzen Kunst studiert – die schon mehrmals gelesenen Briefe wieder las. »Dieser Harald, das muß man ihm lassen – war der richtige Rattenfänger. Ich möchte nur wissen, was für eine Sorte von Obrist das gewesen sein mag, der dem dummen Ding das Märchen von der Beresina aufband. Vielleicht der Teufel Oberster, jedenfalls einer seiner Helfershelfer – die Sache muß dem braven Harald ein schmähliches Geld gekostet haben. Indessen, es wurde zweckmäßig vertan, denn in Nr. 6 hat er schon sehr bedeutende Progressen gemacht.«
Nr. 6. Kaum kann ich zu mir selbst kommen! Sie wieder hier um meinetwillen! Hier, weil die Sehnsucht nach mir Ihnen keine Ruhe ließ! Mein Gott, mein Gott, wohin soll dies führen! Sie sind ein reicher Edelmann – ich bin ein blutarmes Mädchen, das, mögen meine Ahnen gewesen sein, wer sie wollten – mit seiner Hände Arbeit sich das tägliche Brot verdient. Meine Vernunft sagt mir, daß aus dem allen für mich nur Unglück über Unglück erfolgen kann, daß ich Sie fliehen muß – ich weiß nicht, was ich Ihnen gestern gesagt, was ich Ihnen versprochen habe – geben Sie mir mein Wort zurück! Ich kann Sie heute – ich darf Sie nie, nie wiedersehen. Ich beschwöre Sie, reisen Sie wieder ab. Sie müssen es, wenn Sie mich wirklich lieben. Leben Sie wohl viel tausendmal!
Ihre Marie.
»Was so ein acht Tage Abwesenheit nicht alles bewirken können«, sagte Albert, sich die Zigarre, die ihm in dem Eifer des Lesens ausgegangen war, wieder anzündend, »Ihre Marie! Ausgezeichnet! Wie sich der biedere Harald wohl ins Fäustchen gelacht haben mag, als er diese larmoyante Epistel las. Aber weiter!«
Nr. 7. Nehmen Sie den köstlichen Schmuck, den heute ein unbekannter Mann für mich abgegeben hat, wieder. Womit habe ich es verdient, daß Sie so niedrig von mir denken? Daß ich Sie liebe, liebe, trotzdem meine Vernunft mir deshalb die entsetzlichsten Vorwürfe macht, Sie wissen es, ich habe es nicht länger vor Ihnen verbergen können, verbergen wollen; aber weshalb mir nicht wenigstens den Trost lassen, daß diese meine Liebe rein von jedem unedlen Nehengedanken ist! Diese kostbaren Rubinen, dieses rote Gold – es brennt in meiner Hand wie glühende Kohlen – lassen Sie mich, wie Sie mich fanden! Wenn das arme schmucklose Mädchen Ihre Liebe gewinnen konnte, so sehen Sie ja selbst, daß Armut und Dürftigkeit sich recht gut mit Liebe verträgt.
»Sehr hübsch gesagt«, äußerte Albert, diesen Brief zu den andern legend, »aber doch sehr dumm! Armut und Liebe vertragen sich gerade so gut wie Wasser und Feuer. Ich möchte die feurige Liebe kennen, die nicht ausginge, wenn ihr ein Eimer Armut über den Kopf geschüttet wird! Pah, das muß ich besser wissen! Ich glaube, ich wäre albern genug, die kleine Marguerite zu heiraten, wenn ich ein Mann in Amt und Würden mit vom Staat garantierter guter Beköstigung wäre, aber da ich weiter nichts bin als ein armer Teufel mit einem famosen Appetit und wahrem Patentmagen, so wäre es doch reiner Selbstmord, wollte ich die schon knapp genug zugemessene tägliche Ration noch mit einem andern teilen! Liebe! Unsinn! Liebe ist höchstens ein ganz wünschenswertes Dessert zum Diner des Lebens. Ein gutes Diner ohne Dessert – bon! Ein Diner mit Dessert – noch besser, aber ein Dessert ohne Diner! – Nun, für Frauenzimmer mag auch das genügen; aber mit meiner Konstitution verträgt es sich nicht. Ob die gute Marie, wenn sie noch lebt, wie ich sehr stark hoffe, jetzt nicht doch manchmal beklagt, daß sie die kostbaren Rubinen und das rote Gold anderen jungen Damen, die es weniger verdienten, zugewandt hat? Im nächsten Brief wird die tugendhafte kleine Person sogar ganz übermütig.«
Nr. 8. Sieh, sieh, mein Lieber; also auch eifersüchtig können Sie sein! Wer hätte dem Baron Harald von Grenwitz solche bürgerliche Schwäche zugetraut! Ich soll eine andere Wohnung beziehen; weshalb? Damit ich im Winter nicht vor Frost und im Sommer vor Hitze umkomme; nicht alle Tage ein paarmal Gefahr laufe, mir auf den engen, steilen Treppen den Hals zu brechen? Bewahre! Nur weil die Madame Schwarz, bei der ich wohne, dem gnädigen Herrn nicht gefällt und weil der gnädige Herr in Erfahrung gebracht hat, daß ein junger Franzose, ein Monsieur d'Estein, mit mir auf demselben Flur wohnt, daß ich mit besagtem Monsieur auf einem sehr vertrauten Fuß stehe, ja mit ihm, selbst des Abends spät, Arm in Arm, auf der Straße gesehen worden bin! Entsetzlich! Aber im Ernst, teuerster Harald, Sie haben wahrlich keine Ursache, sich zu beklagen. Die Madame Schwarz ist eine sehr ehrbare, ausgezeichnete Frau, der ich unsäglich viel verdanke und die, solange ich denken kann, eine Mutter für mich gewesen ist; und was Monsieur d'Estein anbetrifft, so wird Ihre Eifersucht sich wohl wieder schlafen legen, wenn ich Ihnen sage, daß es derselbe kleine, ältliche Herr ist, an dessen Arm Sie mich zum erstenmal im Tiergarten sahen. Monsieur d'Estein könnte den Jahren nach mein Vater sein, wie er denn auch der Freund meines Vaters war. Er stammt wie wir aus einer Familie französischer Refugiés und wäre wohl schon längst in das geliebte Land seiner Väter zurückgekehrt, da er hier gar keine Verwandte, ja nicht einmal Freunde hat, wenn er nicht fürchten müßte, dort, wo alle Welt die Sprache spricht, in der er hier Unterricht erteilt, Hungers zu sterben. Er ist sehr wunderlich, aber das bravste Herz von der Welt. Er würde für mich durchs Feuer gehen und au désespoir sein, wenn er nur die leiseste Ahnung von unserem Verhältnisse hätte. – Dies alles würde ich Ihnen schon gestern abend gesagt haben; aber ich wollte einmal sehen, ob Sie auch Widerspruch vertragen könnten. Sind Sie jetzt zufrieden? Au revoir, monsieur le Baron.
Votre très-méchante Marie M.
»Dies ist die einzige Notiz über diesen Monsieur d'Estein«, sagte Albert, den Brief auf den Schoß sinken lassend und nachdenkliche Wolken aus seiner Zigarre blasend, »ohne Zweifel derselbe, welcher in der Erzählung der Alten als Schacherjude wieder auftritt, um das Terrain vorläufig zu rekognoszieren, und hernach die Entführung der bedrängten Unschuld bewerkstelligt. Ich fürchte, es sind hier einige Briefe verlorengegangen, denn, als der nächstfolgende geschrieben wurde, waren die Affären schon sehr weit gediehen.
Nr. 9. Soeben erhalte ich den – was soll ich es verschweigen! – längst erwarteten Brief Ihrer Frau Tante. Sie schreibt mir mit zitternder, aber doch leserlicher Hand, daß sie das Lebensglück ihres geliebten Großneffen höher stelle als die Ruhe der wenigen Tage, die sie noch zu leben habe; ja, daß sie sich freue, eine so dringende Veranlassung zu haben, nach dem Stammsitz ihrer Väter, dem Orte ihrer Geburt, wo sie denn nun auch zu sterben gedenke, eine Reise, die letzte vor der großen Reise, anzutreten. Sie werde am 13. von St. abreisen und bereits vor mir in Grenwitz angekommen sein, »da Sie ein tête-à-tête mit meinem wilden Neffen so sehr fürchten, liebes Kind«. – Ich kann nicht sagen, wie unaussprechlich mich so viel Güte und Liebe rührt! Wie dankbar ich der alten herrlichen Dame bin, wie ich mich freue, ihr die welken, lieben Hände zu küssen! Ja, Harald, wenn sie, die Greisin, die Älteste Deines ritterlichen Geschlechts, mich Deiner würdig gefunden hat, wenn sie unsere Liebe segnet, dann will ich mit tausend Freuden die Deine sein. Nur eins schmerzt mich, daß ich bei Nacht und Nebel wie ein Dieb von hier, von der Frau, die ich wie eine Mutter liebe, von dem Manne, der mir Vater und Bruder gewesen ist, fortschleichen soll. Und doch – es geht nicht anders. Du hast recht: sie würden das Ganze ein romantisches Abenteuer schelten. Sie kennen Dich ja nicht, sie wissen ja nicht, wie treu und gut Du bist. Aber Lebewohl darf ich ihnen doch wenigstens schriftlich sagen! Ihnen in ein paar Worten für alle Güte und Liebe danken und sie über den Schmerz, den ich ihnen jetzt bereiten muß, auf eine fröhliche Zukunft vertrösten. Ach, wäre diese Zukunft doch erst Gegenwart! Ihr neuer Kammerdiener, der mir übrigens viel weniger gefällt als der alte mit dem treuen, ehrlichen Gesicht, meldete mir gestern abend, daß alle Vorbereitungen auf übermorgen früh getroffen seien. Es ist mir lieb, daß ich in Ihrer Equipage und in Begleitung Ihrer Leute fahren soll; der Gedanke einer so weiten Reise hat so viel weniger Peinliches für mich. Auf baldiges, köstliches Wiedersehen, Du Vielgeliebter!
M. M.
»Nun ist das Vögelchen ins Garn gegangen«, sagte Albert, diesen Brief, den letzten, zu den andern legend, und alle wieder sorgfältig mit dem rotseidenen Bande zusammenbindend, »das übrige könnte man sich zur Not denken, wenn man es nicht aus der langen Geschichte der alten Hexe, der guten Freundin meines ausgezeichneten Freundes Stein, wüßte. Ich glaube, die Alte könnte noch mehr erzählen, wenn sie wollte. Ich muß mir ihre Gunst zu erwerben suchen und mir freien Zutritt in ihre Salons verschaffen. Sollte sie nicht noch manches aus dem Nachlasse von Fräulein Unschuld in ihrem Besitz haben, das zu weiteren Entdeckungen führen könnte? Die Kleine hat jedenfalls bei der eiligen nächtlichen Flucht ihre Kisten und Kasten nicht sorgfältig ausgekramt, und die Alte eine gute Nachlese an Bändern, Strümpfen, Schuhen und warum nicht auch Briefen gehalten. Das alles mag in sicherer Ruhe in der großen, hölzernen Lade, auf der ich mir an jenem Nachmittag die Rippen wund gelegen habe, seiner Auferstehung entgegensehen. Das ist ein Gedanke!«
Albert war aufgestanden und hatte sich vor den Spiegel gestellt, um zu sehen, wie sich ein so geistreicher Kopf denn eigentlich ausnehme. »Das ist ein Gedanke«, und er warf seinem Spiegelbilde eine Kußhand zu, das dieses in Anbetracht der Vortrefflichkeit des Originals freundlich erwiderte – »ein ganz famoser Gedanke, den ich ausführen muß, es koste, was es wolle. Vielleicht war der Schacherjude ein wirklicher rechter Israeliter und Abgesandter des Monsieur d'Estein; vielleicht hat er der Kleinen nur einen Brief überbracht, in dem der Plan der Flucht entworfen war, und dieser Brief fände sich, und mit dem Briefe in der Hand könnte man der Flüchtigen auf die Spur kommen.«
Herr Timm hielt plötzlich in seinem Monologe inne, und sein Gesicht verdüsterte sich: »Verdammt«, murmelte er, »nun fehlt es wieder am Besten, an dem nervus rerum, an der Wünschelrute, mit der ich den Schatz heben könnte. Offenbar werde ich zur Erreichung meines Zweckes einige Reisen machen müssen, zum mindesten nach Berlin, um Marienstraße Nr. 21 drei Treppen hoch im Hofe gewisse Erkundigungen anzustellen; aber Reisen kosten Geld, und mein aktives Vermögen besteht jetzt aus 5 Silbergroschen, von denen einer, glaube ich, nicht einmal echt ist. Ich muß eine Zwangsanleihe bei der kleinen Marguerite machen. Es geht wahrlich nicht anders. Ich wollte es ja auch neulich schon, als plötzlich die interessante Familie wieder einrückte und unserem idyllischen Leben ein Ende machte. Freilich, diese verdammten Karten müssen erst fertig sein; sonst läßt mich Anna-Maria nicht aus ihren Klauen. Ich muß schon in den sauren Apfel beißen.«
Und Herr Timm zündete sich eine frische Zigarre an, entriegelte die Tür, beugte sich über sein Reißbrett und zeichnete mit einem Eifer, als ob er in der Welt keine anderen Pläne kenne als die, mit denen sich ein tüchtiger Geometer von Berufs wegen abgeben muß.