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Zweiundfünfzigstes Kapitel

Die Behauptung von Felix' vielgewandtem Kammerdiener betreffs der Unwiderstehlichkeit seines Herrn in Liebesaffären war zwar als eine Beleidigung des schönen Geschlechts im allgemeinen und des in der Küche versammelten weiblichen Dienstpersonals im besonderen von diesem letzteren aufs heftigste bestritten worden, der Vielgewandte indessen hatte dazu nur geheimnisvoll gelächelt, sich, nach der Weise seines Herrn, in den Stuhl zurückgelehnt, die Beine von sich gestreckt und mit einem vielsagenden Zwinkern seines rechten Auges auf die geblickt, die in dem unerquicklichen Disput die höchste moralische Entrüstung und die größte Zungenfertigkeit zeigte. Die hübsche Luise war auf diesen Blick hin sehr rot geworden und so plötzlich verstummt, daß es selbst die Aufmerksamkeit des schweigsamen Kutschers erregte und ihn zu der Wiederholung seiner früheren Bemerkung veranlaßte, es sei nicht alles Gold, was glänze. Darauf hatte die hübsche Luise zu weinen angefangen, die alte, brave Köchin sich ihrer angenommen und gemeint, der Herr Kammerdiener solle sich schämen, durch gehässige »Insinuationen« und »mechante« Blicke ein armes Mädchen in schlechten Ruf zu bringen; der Vielgewandte, der bemerkte, daß er zu weit gegangen sei, sich sodann zu der Erwiderung genötigt gesehen: wie es ihm nicht eingefallen sei, auf irgendeine der anwesenden Damen direkt anzuspielen, und daß er mit seinem Zwinkern schlechterdings gar nichts habe sagen wollen. Diese Erklärung hatte denn schließlich den so freventlich gestörten Frieden der um den Küchenherd versammelten Gesellschaft wiederhergestellt. Indessen verhielt sich die Sache genauso, wie der Vielgewandte angedeutet hatte. Baron Felix war noch nicht vierundzwanzig Stunden auf dem Schlosse gewesen, als er schon Mademoiselle Marguerite und die hübsche Luise als diejenigen Personen herausgefunden hatte, die besonders gut geeignet sein dürften, ihm die Langeweile des Landlebens und die Unbequemlichkeit einer Brautwerbung tragen zu helfen. Er hatte Albert, den buon camerata so vieler ähnlicher Heldentaten in der Kadettenzeit, über Mademoiselle auszuholen versucht und seinem Jean den Auftrag erteilt, die Moralität der hübschen Luise gelegentlich auf die Probe zu stellen. Albert war einen Augenblick im Zweifel gewesen, ob er Felix' saubern Plan nicht wenigstens so weit begünstigen sollte, um einen Grund zu haben, auf den er sich stützen könnte, wenn es ihm später vielleicht einmal darauf ankäme, mit Marguerite zu brechen. Dann aber hatten die Eifersucht und der Haß, den er gegen seinen früheren Kameraden empfand, doch den Sieg davongetragen. Er hatte Felix erzählt, wie er ganz bestimmt – von Mademoiselle selbst – wisse, daß sie – »mit einem Kandidaten der Theologie, der Himmel weiß, wo? Ich glaube in Grünwald« – verlobt sei, daß er selbst versucht habe, sich die Gunst der schwarzäugigen Genferin zu erwerben, und also von der gänzlichen Hoffnungslosigkeit – »nach dieser Seite hin etwas auszurichten«, vollkommen überzeugt sei.

Felix, obgleich er sonst nicht der Mann war, sich durch dergleichen Mitteilungen einschüchtern zu lassen, tröstete sich um so leichter über das Fehlschlagen dieses seines Planes, als ihm der Vielgewandte gesagt hatte, daß eine sofort angestellte forcierte Rekognoszierung nach der andern Seite durchaus von dem günstigsten Erfolg gekrönt worden sei und daß er seinem Herrn schon im voraus zu dieser Akquisition gratulieren zu können glaube. Don Juan Felix hatte darauf unter Beistand des Vielgewandten nach allen Regeln langgeübter Kunst das Vögelchen in das Garn zu locken versucht und sich denn auch nicht weiter gewundert, als es schon nach wenigen Tagen in die kunstgerecht aufgestellten Netze flatterte.

Die Einrichtung des Schlosses mit seinen labyrinthischen Korridoren, seinen vielen großen und kleinen Treppen, auf denen man unversehens in Etagen gelangte, in die man gar nicht wollte, mit seinen unzähligen Türen, von denen die eine aussah wie die andere, machte für jemand, der die Lokalität nicht ganz genau kannte, die Durchführung eines galanten Abenteuers zu einer äußerst schwierigen und bedenklichen Sache. Das hatte auch Felix erfahren, indem er sich einigemal auf seinen nächtlichen Wanderungen gründlich verirrte und nur mit der äußersten Mühe und nach stundenlangem, vorsichtigem Umhertappen sein Zimmer wiedergewann. Er zog es deshalb vor, in dem Garten, der sich mit seinen schattigen Gängen und stillverschwiegenen Lauben auch ganz vortrefflich dazu eignete und in den man sowohl aus der Leutewohnung wie aus dem Herrenhause ohne große Mühe gelangen konnte, den angesponnenen Roman weiterzuführen.

So hatte er sich denn auch in dieser Nacht aus dem Schlosse gestohlen und harrte in den dichten Bosketts, von denen aus man die Seitenfront des alten Schlosses und die Leutewohnung, die in einer Linie daran gebaut war, beobachten konnte, seines armen Opfers. Die Schloßuhr schlug zwölf – die Stunde, welche er zum Rendezvous bestimmt hatte. Der Mond schien hell, die Tautropfen auf den Blumen und Blättern glitzerten in seinen Strahlen; Felix konnte auf seiner Uhr sehen, daß die Schloßglocke eine Viertelstunde zu spät geschlagen hatte. Die Lichter im Schloß waren erloschen; nur in zwei der Fenster des hohen Parterres schimmerte durch die roten Vorhänge der Schein einer Lampe. Es war Helenes Zimmer. Felix sah in regelmäßigen Zwischenräumen die undeutlichen Umrisse ihrer Gestalt hinter dem Vorhang – offenbar schritt sie im Zimmer auf und ab. Dann mußte sie sich wieder an das Klavier gesetzt haben, denn einzelne Töne, den Lauten des Vogels gleich, der im hellen Mondschein träumend sein Lied zu singen versucht, irrten durch den stillen Garten; die Töne flossen zusammen zu Akkorden und endlich strömte in vollen rauschenden Wogen Beethovens herrliche Sonate pathétique, wie der Gesang eines Engels, der um Mitternacht mit ausgebreiteten Flügeln über die Erde schwebt, und alles Erdenleid und alle Erdenqual in seinem göttlichen Herzen sammelt und ausströmt in ein feierliches Lied voll unendlicher Schwermut und himmlischer Süßigkeit.

Felix empfand in diesem Augenblick, wo er, den Arm auf eine Urnensäule gelehnt, lauschend dastand, eine Art von Gewissensbiß darüber, daß er, der Wüstling, der Unreine, die Hand auszustrecken, die Augen zu erheben wagte zu ihr, der Keuschen, Reinen. Er nahm sich in diesem Augenblicke vor, ein anderes Leben zu beginnen, die Torheiten abzustreifen, und er glaubte allen Ernstes, daß er nur zu wollen brauche, um zu können. Er hörte mit einer gewissen Andacht der Musik zu. Er war Kenner genug, um zu fühlen, daß die Sonate nicht schöner, nicht seelenvoller gespielt werden konnte, er sagte bei einzelnen Passagen leise bravo! bravo! als ob er sich in einem Konzertsaale befände. Aber Helene und Beethoven, Tugend und Musik und was sonst alles in diesen Minuten durch sein Hirn gezogen sein mochte – alles war im Nu versunken wie eine Fata Morgana, als sein Ohr jetzt den leisen Schritt eines Menschen vernahm. Der Schritt kam von einer anderen Seite, als Felix erwartete. Indessen, die hübsche Luise mochte ja einen Umweg gemacht haben, um die breiteren, von dem Mondschein allzu hell beschienenen Gänge in der unmittelbaren Nähe des Schlosses zu vermeiden. Der Schritt kam näher und näher, und Felix, der auf den Einfall geriet, sich ein wenig suchen zu lassen, drückte sich dicht in die Gebüsche. Wie groß war aber sein Erstaunen, als er statt der hübschen Luise Bruno an sich vorüberschleichen sah. Im ersten Augenblick mußte Felix über diese Enttäuschung lachen; im nächsten aber schon fiel ihm ein, daß durch diese Dazwischenkunft sein Rendezvous mehr wie bedenklich werde und daß es unter diesen Umständen wohl das geratenste sein könnte, sich in das Schloß zurückzustehlen. Wer weiß, wie lange sich der Junge hier herumtreiben wird; am Ende ist er gar verliebt oder er ist verrückt oder beides, denn es sieht nach beidem aus; oder er ist mondsüchtig und geht so ein paar Stunden hier spazieren. Der verdammte Bengel! Überall steht er im Wege; ich hätte große Lust, ihm nächstens einige fühlbare Beweise meiner freundschaftlichen Gesinnung zu geben. Auf jeden Fall will ich ihm das Feld räumen. Jetzt kann man noch als verspäteter Liebhaber eines Mondscheinabends auftreten; später geht das nicht mehr gut. Aber der Tante wollen wir doch von diesen nächtlichen Exkursionen der Zöglinge des Herrn Stein erzählen.

Felix hatte den Weg nach dem Schlosse fast zurückgelegt, ohne Bruno zu sehen, und schon hoffte er, daß der Knabe sich aus dem Garten entfernt habe und sein Rendezvous doch noch zustande kommen könne, als er, über einen kleinen offenen Platz schreitend, der halb vom Mondschein erhellt und halb im Schatten lag, Bruno auf einer Bank sitzen sah, die Augen nach Helenes Fenster gerichtet, aus denen noch immer die Tonwellen rauschten. Der Knabe schien so in andächtiges Zuhören verloren, daß er Felix erst bemerkte, als dieser schon ganz nahe war.

»Weshalb treibst du dich denn hier noch so spät umher?« sagte Felix, dessen Ärger sich mindestens in einigen unfreundlichen Worten Luft machen mußte. »Ich werde es der Tante sagen.«

»Bekümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten,« sagte Bruno, der in der ersten Überraschung aufgesprungen war und ein paar Schritte auf den Platz getan hatte, trotzig stehenbleibend, als er in dem Herankommenden den verhaßten Felix erkannte.

»Du bist ein naseweiser Bursche«, sagte Felix.

»Und du ein gemeiner Schurke«, erwiderte Bruno.

»Der dich für deine Unverschämtheit züchtigen wird«, sagte Felix, dem mit untereinandergeschlagenen Armen vor ihm stehenden Knaben einen Backenstreich versetzend.

Bruno taumelte ein paar Schritte zurück; Felix sah, nicht ohne leichten Schauer zu empfinden, wie die Augen des Knaben buchstäblich glühten; dann brach ein dumpfer, röchelnder Schrei aus seiner Kehle – ein mächtiger Sprung, wie eines Leoparden, der sich auf seine Beute stürzt – und im nächsten Moment lag Felix am Boden und die starken Hände Brunos schlossen sich wie eiserne Klammern um seine Kehle. Er rang wie ein Verzweifelter, den Knaben von sich abzuschütteln und wieder in die Höhe zu kommen, aber vergebens. Sooft er sich auch mit dem Körper emporbäumte, sooft er Bruno von sich fortzudrücken versuchte, jedesmal fühlte er seine Anstrengungen von einer unwiderstehlichen Kraft paralysiert, und fester und fester schlossen sich die schlanken Finger um seinen Hals.

»Laß mich los, Bruno«, stöhnte er.

»Befiehl deine Seele Gott, denn du mußt sterben«, knirschte Bruno.

Felix fühlte, wie seine Kräfte ihn verließen, während die seines Gegners mit jedem Augenblick zu wachsen schienen. Todesangst ergriff ihn. Er wollte um Hilfe rufen, aber kein Laut entrang sich seinen bebenden Lippen; er fühlte ein dumpfes Sausen in den Ohren, das immer lauter und lauter wurde; vor seinen Augen wurde es Nacht, durch die Millionen kleiner Sterne schossen – wüste Gedanken jagten wie vor dem Sturmwind treibende Wolken durch sein Gehirn – plötzlich, als ihn der letzte Schimmer von Bewußtsein zu verlassen drohte, fühlte er, wie die entsetzliche Last von seiner Brust verschwand – und als er endlich die Kraft fand, sich vom Boden zu erheben und um sich zu blicken, war er allein. Der Mond schien hell vom tiefblauen Himmel; das Licht in Helenens Zimmer war erloschen; die Musik war verstummt. Felix hätte glauben können, den Kampf mit Bruno geträumt zu haben, wenn nicht die heftigen Schmerzen, die er an mehr als einer Stelle des Körpers fühlte, seine über und über mit Sand bedeckten Kleider und der ringsumher aufgewühlte Boden ihm zur Genüge bewiesen hätten, daß dies alles nur zu wirklich gewesen war.

Mit einem von Wut erfüllten Herzen schleppte er sich in das Schloß, wie ein Wolf, der die Hürde beschleichen wollte, aber von einer edlen Dogge zerzaust und zerrissen in den Wald zurückhinkt.


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