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»Nur hier herein«, sagte Mutter Clausen, Oswald bei der Hand ergreifend und ihn von dem dunklen Flur in ein einfenstriges Stübchen ziehend, das der größeren Stube auf der andern Seite, in die Oswald mit dem Inspektor Wrampe den kranken Knecht an jenem Abend getragen hatte, gegenüberlag, während sie sich um Albert nicht weiter bekümmerte, als wüßte sie, daß dieser junge Mann das Talent hatte, seinen Weg auch im Dunkeln zu finden, »ich habe schon nach dir ausgeschaut, denn ich weiß von alters her, daß du nur zu gern in solchem Wetter umherläufst, das heiße junge Blut ein bißchen abzukühlen. Bist wohl wieder durchgeweicht, wie gewöhnlich? Nun, das geht ja heute noch. Da, setze dich in den großen Stuhl. Es hat niemand von euch darauf gesessen, seitdem Baron Oskar heute vor dreiundvierzig Jahren darin gestorben ist.«
»Für abergläubische Gemüter keine besondere Empfehlung«, sagte Albert, auf einer großen hölzernen Lade im Hintergrunde des Stübchens Platz nehmend, während die alte Frau Oswald in den Lehnstuhl drängte und sich zu seinen Füßen auf einen niedrigen Schemel setzte, »indessen Ehre, wem Ehre gebührt. Sie nehmen sich auf dem einzigen Prunkmöbel in diesem sonst äußerst prunklosen Gemach ganz famos aus, Dottore, besonders bei dieser Rembrandtschen Beleuchtung und mit der alten Frau à la Murillo zu ihren Füßen: wie ein vertriebener König, der bei einer alten Fee im Walde Schutz sucht und findet, während sein getreuer Eckart im Hintergrunde sitzt und nickt. Ich glaube wirklich, das Laufen hat mich müde gemacht, und ich könnte ein paar Minuten schlafen. Wecken Sie mich, Dottore, wenn es aufgehört hat zu regnen –« und Albert streckte sich der Länge nach auf der Lade aus, legte die Hände unter den Kopf und schien trotz der für jeden andern wenigstens höchst unbequemen Lage nach wenigen Minuten allen Ernstes eingeschlafen zu sein, währenddessen nur das monotone Ticktack der alten Schwarzwälderuhr in der Ecke und das Rauschen des noch immer in Strömen herabfallenden Regens die lautlose Stille in dem kleinen Gemache unterbrachen.
Mutter Clausen hatte ihr Strickzeug zur Hand genommen und strickte wieder wie neulich an einem winzigen Kinderstrümpfchen, emsig, emsig, emsig, daß die Nadeln klapperten. Nur von Zeit zu Zeit schaute sie zu Oswald empor und nickte ihm freundlich zu, als freute sie sich, daß er gar so bequem in dem alten, weichen Lehnstuhl säße, hier in der trocknen Stube, während es draußen so unbarmherzig regnete.
»Nicht wahr, Junker, es sitzt sich gut in dem Stuhl?« sagte sie, für einen Augenblick das Strickzeug in den Schoß und die rechte Hand auf Oswalds Knie legend. »Die gnädige Frau hat ihn mir geschenkt, als der Baron gestorben war. Sie konnte den Anblick nicht ertragen, sagte sie, denn sie müsse dabei stets an den Augenblick denken, wo die Leute ihn hereintrugen, als er mit dem Wodan gestürzt war, und hier in diesen Stuhl setzten; und Harald kam herbeigelaufen und schrie, als er den Vater so bleich und entstellt sah, und sie selbst lief im Zimmer umher und rang die Hände, und ich stand neben dem Baron und wischte ihm den Todesschweiß von der Stirn. Ich hatte damals keine Zeit zum Weinen, ich wußte es wohl, daß ich hernach Zeit genug dazu haben würde.«
»Und wie alt war Baron Harald, als sein Vater starb?« fragte Oswald.
»Zehn Jahre«, antwortete Mutter Clausen, »und ihm wäre besser gewesen, er wäre an dem Tage gestorben – ihm und manchem andern.«
Die Alte hatte das Strickzeug, das in ihrem Schoß müßig gelegen hatte, wieder zur Hand genommen und strickte emsiger wie zuvor, als müsse sie die verlorene Zeit einholen.
»Ja, ja«, sagte sie, »es wäre besser gewesen. Damals war er ein bildhübscher, unschuldiger Junge mit Augen, blau wie Veilchen, und rosenroten Wangen; und als er starb –«
Die Alte schwieg – die Nadeln klapperten, und der Regen klatschte gegen die Scheiben.
»Nun«, sagte Oswald, »und als er starb –«
»Da starb ein böser Mann, und es war ein böses, böses Sterben. Ich weiß es allein, denn ich war allein mit dem Unseligen, als der Tod ihn packte mit seiner eisernen Faust. Da rangen sie beide, der starke Harald und der starke Tod, und gräßlich genug war es anzusehen, so gräßlich, daß die andern davonliefen – aber ich wollte ihn nicht verlassen in seiner letzten Not, denn er war, böse wie er war, doch Oskars Sohn, und ich hatte ihn, als er ein unschuldig Kind war, auf meinen Armen getragen und auf meinen Knien gewiegt. So hielt ich aus und betete, während er sich und Gott verfluchte, bis der Tod ihm aufs Herz schlug, daß er laut aufschrie und auf sein Kissen zurückfiel. Da war es aus mit ihm, und seine arme Seele hatte Ruhe.«
»Und hatte der Baron keinen Freund, der ihm in seiner letzten Stunde hätte beistehen können?«
»Freunde genug, und es waren Männer dabei, die sich vor einem Sterbebette nicht fürchteten; aber vor Harald fürchteten sie sich; er hätte den erwürgt und zerrissen, der ihm in dieser Stunde vor die Augen getreten wäre. Ja, ich möchte, sie wären gekommen, einer nach dem andern; es verdiente jeder von ihnen, daß ihm der Hals wäre umgedreht worden.«
»Und wer waren diese schlimmen Freunde?«
»Zuerst Herr von Barnewitz, nicht der auf Süllitz, der noch lebt, der Vater von dem jungen Herrn von Barnewitz – das ist ein guter Mensch, dem keiner nichts Böses nachsagen kann –, sondern der auf Schmittow, der hernach all sein Geld an Herrn von Berkow verspielte und ihm dafür seine Tochter verkaufte.«
»Melitta!« stöhnte Oswald, und seine Hände griff en krampfig nach den Lehnen des Stuhls.
»Was hast du, Junker«, sagte die Alte.
»Nichts, nichts«! murmelte Oswald, mit übernatürlicher Anstrengung das aus Abscheu, Mitleid, Haß und Rachedurst grauenhaft gemischte Gefühl niederkämpfend, das in seiner Brust aufkochte, als er der Geliebten heiliges Bild so in den Schmutz gemeiner Leidenschaften geschleift sah. – Melitta verkauft, von ihrem eigenen Vater einem Manne verkauft, den sie nicht liebte, dem sie sich nur vermählte, ihren Vater von der Schande zu retten – Oswald fühlte, daß dieser Gedanke ihn wahnsinnig machen würde, wenn er ihn bis zu Ende verfolgte; und zugleich fürchtete er, der scharfsinnige Albert, von dessen festem Schlaf er keineswegs überzeugt war, obgleich ein gelegentliches leichtes Schnarchen von der Lade her ertönte, könne seine Aufregung bemerken.
So zwang er sich denn, sitzen zu bleiben und mit scheinbarer Ruhe zu fragen:
»Gehörte Herr von Berkow auch zu den Freunden des Barons? War er damals nicht noch zu jung?«
»Er war der jüngste«, sagte Mutter Clausen, »und auch der beste. Er tat, was er die andern tun sah, ohne weiter zu überlegen, ob es recht sei oder unrecht. Auch hatte er nicht die mächtige Natur der andern. Wo er eine Flasche trank, trank Harald drei, und dabei blieb Harald bei Besinnung und Berkow lag unter dem Tisch.«
»War es ein hübscher Mann?« fragte Oswald.
»Nicht so hübsch wie Harald und lange nicht so hübsch wie du, Junker. Er war kleiner und schwächlicher wie Ihr, und Harald hätte es mit sechs solchen Männern zugleich aufnehmen können. Aber es war auch weit und breit niemand so stark und so kühn wie Harald. Er konnte das wildeste Pferd im Lauf aufhalten und zahm und folgsam machen wie einen Hund, und in den Sattel sprang er, ohne den Bügel zu berühren. Sie erzählten sich Wunderdinge von seiner Riesenkraft, aber es war just so, wie sie sagten. Wenn er zornig war, und er war es nur zu oft, zerbrach er einen schweren eichenen Stuhl oder Tisch, als wären sie von Glas. Dann schwollen ihm die Adern auf der Stirn an wie Äste, und er preßte die weißen Zähne knarrend aneinander, daß es greulich anzusehen und anzuhören war; aber wenn er lachte und freundlich tat, da mußte man ihn doch wieder liebhaben. Da konnte er so schöntun und so gute Worte geben, daß kein Mensch glauben konnte, wie böse er war. Denn böse war er bei alledem; was ihm gefiel, das mußte er haben, es mochte kosten, was es wollte, und wenn alles darüber zugrunde ging.«
»Waren Sie denn während dieser ganzen Zeit noch auf dem Schlosse?«
»Warum nennst du mich Sie, Junker? Du hast es ja sonst nie getan – jawohl war ich auf dem Schlosse. Mein Mann war ja gestorben, und die Jungen und die Dirnen waren gestorben, und ich war ja die einzige, die nach dem Tode der gnädigen Frau Mutter noch ein bißchen auf Ordnung sah. Ich war nicht gern da, das weiß der Himmel, denn im Schlosse ging es zu wie zu Sodom und Gomorrha. Alle Tage die saubern Freunde, und oft noch ein halb Dutzend dazu und dann gespielt und gezecht bis an den hellen Morgen.«
»Kamen denn nie Damen aufs Schloß?«
»Nein, selbst die frechsten und übermütigsten fürchteten sich vor diesen wilden Männern. Und es waren die meisten von ihnen auch noch nicht verheiratet wie Herr von Berkow; oder ihre Frauen waren gestorben wie dem Herrn von Barnewitz seine Frau; so konnten sie denn ihr böses Leben ungestört führen. Freilich, an Weibern fehlte es nie auf dem Schlosse, aber sie blieben niemals lange, und es waren immer nur solche, an denen nichts zu verderben war, bis auf eine, bis auf eine –«
»Und wer war diese eine?«
»Die letzte – ein schöner, unschuldiger Engel, der auch die Teufel hätte bekehren können, aber Harald und seine Gesellen waren schlimmer als die Teufel.«
»Wie hieß sie? Woher kam sie?«
»Wir nannten sie nur Fräulein Marie, woher sie kam, habe ich nie erfahren, und ebensowenig, wohin sie ging.«
»So hat sie sich das Leben nicht genommen, wie die Leute sagen?«
»Nein, denn dazu war sie zu fromm und gut; sie hätte ihr Kreuz bis Golgatha getragen. Oh, sie war so jung und schön und so sanft und so lieb, wie meine alten Augen nie, weder vorher noch nachher, etwas gesehen haben. Wenn ich gewußt hätte, daß sie gemeint war, als Baron Harald über dem Weine mit Herrn von Barnewitz um, ich weiß nicht wieviel tausend Taler, wettete: das Mädchen sollte ihm freiwillig nach Grenwitz folgen und freiwillig auf dem Schlosse bleiben – ich hätte sie alle, wie sie da saßen, mit Gift vergeben wie schnöde Ratten.«
»Und wie fing es der Baron Harald an, seine Wette zu gewinnen?«
»Es ist eine lange Geschichte, Junker, und ich will sie dir erzählen. Ich sage dir, wenn alle Tropfen, die draußen fallen, Tränen wären, und alle um das arme Kind geweint würden – ich würde sagen, es sind eben nur genug.«
»Als Harald mit Herrn von Barnewitz die schlimme Wette machte, war er vorher zwei oder drei Wochen mit ihm zusammen verreist gewesen, ich weiß nicht wohin, ich glaube in eine große Stadt, weit von hier, und da hatten sie, denke ich, das arme Kind gesehen. Bald darauf reiste er wieder fort, und diesmal blieb er zwei Monate aus. Endlich schrieb er, er komme zurück, aber nicht allein. Seine Tante Grenwitz komme mit; ich solle die Zimmer der verstorbenen gnädigen Frau auslüften und die Möbel gut ausklopfen lassen und alles zu ihrem Empfang herrichten. Nun wußte ich wohl, daß der Baron eine Großtante hatte, die Schwester seines Großvaters; aber sie mußte nach meiner Rechnung achtzig Jahre und drüber sein; sie war zu meinen Lebzeiten nie in Grenwitz gewesen, und hatte sich nie um Harald bekümmert, so wenig, wie er sich um sie. Deshalb war ich nicht wenig erstaunt über den sonderbaren Entschluß, noch in so hohen Jahren eine so weite Reise zu unternehmen, denn sie wohnte viele, viele Meilen von hier; aber ich tat; was mich der Baron geheißen hatte. Sie kamen auch an dem von ihm bestimmten Tage; ich empfing sie und wunderte mich, wie rüstig die alte Dame noch war; trotzdem sie an einem Stock ging und silbergraue Haare und Augenbrauen hatte. Harald war voller Respekt gegen sie; er führte sie an seinem Arm durch alle Zimmer des Schlosses und zeigte ihr alles ganz genau, besonders die Familienbilder im großen Saale, wo auch ihr eigenes hing, wie sie als achtzehnjähriges Mädchen gewesen war. Davor blieben sie stehen und wollten sich totlachen, und die Alte kriegte den Husten, und Harald klopfte sie derb auf den Rücken. Ich wußte nicht, weshalb sie so lachten – ich glaubte, weil aus dem schönen Mädchen ein so häßliches Weib geworden war, denn damals ahnte ich noch nichts von dem schändlichen Spiel.
Am Morgen des nächsten Tages ließ der Baron wieder anspannen, und die Tante setzte sich zu ihm in den Wagen. ›Wir kommen heute abend wieder‹, sagte er, ›wenn es auch spät werden sollte. Wir bringen noch eine junge Dame mit, die Gesellschafterin bei Tante Grenwitz ist. Sie muß das Zimmer nebenan haben! Hörst du, Alte?‹ ›Aber Herr‹, sagte ich, ›in der roten Stube ist die Baronin gestorben, und es liegt und steht noch alles so darin wie an ihrem Todestage.‹ ›So laß alles ausräumen‹, sagte er, ›hörst du, alles, und schaffe es in ein anderes Zimmer und setze dafür andere Möbel hinein. Die junge Dame muß in Tante Grenwitzs Nähe schlafen.‹ ›Was sagst du, lieber Harald?‹ fragte die Tante, die auf dem einen Ohre taub war und auf dem andern auch nicht besonders hörte, so daß sie mich durchaus nicht verstehen konnte, so laut ich auch schrie. ›Nichts, nichts, liebe Tante!‹ sagte der Baron. ›Fort, Jochen!‹
Es war spät in der Nacht, als sie wiederkamen. Ich hatte alle Leute zu Bett gehen lassen mit Ausnahme des neuen Kammerdieners, den der Herr von seiner Reise mitgebracht hatte. Die junge Dame war mit im Wagen. Als sie auf den Flur traten und der Schein des Lichtes, das der Baptiste, so hieß der Mensch, in der Hand trug, auf das rosige Gesichtchen der jungen Dame fiel, verzog sich sein Gesicht zu einem recht widerlichen Lachen. Aber ich sah, daß Harald die Stirn runzelte und mit den Augen winkte, da war Baptiste gleich wieder ganz Ernst und Diensteifer.
›Führe die Damen auf ihre Zimmer, Alte‹, sagte Harald zu mir, und dann verbeugte er sich stattlich vor den Frauen und wünschte ihnen wohl zu schlafen.
›Wollen Sie mir Ihren Arm geben, liebe Marie?‹ sagte die Tante, als ich mit dem Licht vor ihnen her die Treppe hinaufging. ›Meine alten Glieder sind doch etwas müde von der heutigen Fahrt.‹ ›Wie soll ich Ihnen Ihre Güte danken, gnädige Frau!‹ sagte das Mädchen mit einer so weichen, süßen Stimme, daß ich mich unwillkürlich umsehen mußte. Die Alte und das Mädchen standen auf dem Absatz der Treppe. Der Schein von den Kerzen auf dem Armleuchter, den ich trug, fiel hell auf die beiden, und ich werde den Anblick nie vergessen, und sollte ich noch einmal achtzig Jahre verleben. So widerlich häßlich war mir die Tante noch nie erschienen, und so etwas Holdes und Schönes wie die junge Dame hatte ich im Leben noch nicht gesehen. ›Sie wissen es am besten, liebes Kind‹, sagte die Alte, und dabei zog sie eine Fratze, die sie womöglich noch häßlicher machte. ›Ich habe nur noch einen Wunsch auf Erden; es steht bei Ihnen, ob mir dieser Wunsch erfüllt werden soll oder nicht.‹ Das Mädchen antwortete nicht, aber die hellen Tränen traten ihr in die Augen, und dann beugte sie die schlanke hohe Gestalt nieder und küßte der alten Hexe die Hand. ›Nun, nun‹, sagte die, ›Sie sind ein gutes Kind, wir werden uns schon verstehen, und mein Harald, mein Augapfel, wird noch glücklich werden. Lassen Sie sich den Leuchter geben, liebe Marie; ich kenne das Schloß meiner Ahnen noch recht gut, obgleich ich es nun seit sechzig Jahren nicht gesehen habe. Gehe Sie zu Bett, liebe Clausen; ich bemühe die Leute nicht gern unnötigerweise.‹
Und das mußte man der Tante lassen; wir bekamen nur sehr selten ihre Klingel zu hören. Sie zog sich selbst an und aus; freilich brauchte sie mehrere Stunden dazu, aber keiner von uns durfte ihr die geringste Hilfe leisten; ja, seitdem eins der Mädchen einmal, während sie sich anzog, in ihre Stube gekommen war, schloß sie stets hinter sich ab. Sie hatte sonderbare Gewohnheiten, die alte Frau. So konnte sie des Abends nicht müde werden, und ich sah sie manchmal noch bis zum hellen Morgen in ihrem Zimmer umherwandern, dafür schlief sie aber bis in den Nachmittag hinein. Bei Tische hatte sie nie Appetit, aber auf ihrem Zimmer konnte sie desto mehr essen und trinken, manchmal zwei, drei Flaschen alten Wein an einem Tage. Aber was das merkwürdigste war, sie schien heute fünfzig und morgen achtzig Jahre alt zu sein; sie konnte in dieser Minute das leiseste Wort hören und in der nächsten war sie stocktaub; sie schleppte sich das eine Mal nur so an ihrem Stocke fort, und das andere Mal kam sie die Treppen schneller hinab als ich, obgleich ich damals erst sechzig Jahre und noch vollkommen rüstig war. Mir war es ganz unheimlich bei der alten Frau, und ich war froh, wenn ich ihr möglichst weit aus dem Wege gehen konnte.«
»Und wie lebte Fräulein Marie unterdessen?«
»Sie war fast immer in Haralds Gesellschaft. Ich sah sie des Morgens zusammen zwischen den taufrischen Beeten des Gartens umherschweifen, Arm in Arm, sie, die Augen verschämt niederschlagend, und Harald, eifrig und leise zu ihr sprechend. Ich sah sie des Nachmittags in den kühlen Zimmern, die nach dem Park hinaus liegen, sitzen, sie, mit einer Arbeit beschäftigt, die aber oft müßig in ihrem Schoß lag; ihn, aus einem Buche vorlesend, noch öfter aber den Arm auf die Lehne ihres Stuhles gestützt, während sie selig lächelnd zu ihm emporschaute, sie mit glühenden Blicken verschlingend und ihr von Zeit zu Zeit das seidenweiche braune Haar aus der Stirn streichend. Ich sah sie des Abends wieder draußen herumschweifen oder in den hellerleuchteten Zimmern, Arm in Arm, langsam auf und ab wandelnd, während Tante Grenwitz auf dem Sofa saß und las, oder doch tat, als ob sie läse. – Ach, es war eine köstliche Zeit für das arme Kind; und sie sah stets so glücklich und selig aus, daß es einem angst und bange wurde, wie das enden solle; und wenn sie mich traf, hatte sie stets ein freundliches Wort für mich: ›wie geht's, liebe Frau Clausen?‹ oder: ›Kann ich Ihnen nicht helfen, liebe Frau Clausen? Sie lassen es sich gar so sauer werden. Ich schäme mich, daß ich hier so müßig gehe.‹
Eines Nachmittags begegnete sie mir im Garten. Es war ein sonniger, heißer Tag; sie hatte ein weißes Kleid an, und ein Strohhut mit breitem Rande hing an ihrem schönen runden Arm. Der Baron war ausgeritten, seit langer Zeit zum ersten Male, die Tante war noch nicht aufgestanden. Ich hatte mir schon lange vorgenommen, wenn es die Gelegenheit erlaubte, ein Wort mit dem Mädchen zu sprechen und ihr die Augen zu öffnen. So faßte ich mir denn ein Herz, als sie mit einem: ›Guten Tag, Mutter Clausen, wie gehts?‹ an mir vorüber wollte, und sagte: ›Schönen Dank, Fräulein Marie; haben Sie einen Augenblick Zeit? Ich möchte gern ein paar Worte mit Ihnen sprechen!‹ – ›Recht gern‹, sagte sie, und als sie in mein Gesicht sah, das wohl recht ernst und traurig sein mochte, rief sie: ›Um Gottes willen, es ist doch kein Unglück passiert?‹ – ›Nein, Fräulein Marie‹, sagte ich, ›aber es könnte leicht eins passieren, wenn Sie sich nicht besser vorsehen; und das sollte mir herzlich leid tun, denn Sie sind so jung und sehen so gut und rein und unschuldig aus.‹ – ›Was meinen Sie?‹ sagte das arme Kind und wurde dunkelrot. – ›Kommen Sie hierher, Fräulein Marie‹, sagte ich und zog sie in einen Buchengang, wo wir vom Schlosse aus nicht gesehen werden konnten, ›ich will Ihnen alles sagen, was ich auf dem Herzen habe. Ich bin eine alte Frau und Sie sind ein junges Ding, das viel weiß, wie's in der Welt aussieht und wie es hier in Grenwitz zugeht.‹ Und nun schilderte ich ihr das Leben auf dem Schlosse, wie es bis zu ihrer Ankunft gewesen war, und welch ein wilder, wüster Mensch Harald sei, und daß er falsch und grausam sei wie ein Tiger. Sie hörte mir ruhig zu, mit glühenden Wangen und die langen dunkeln Wimpern nicht von den schönen blauen Augen aufschlagend, ohne mich nur einmal zu unterbrechen, dann sagte sie leise: ›Ich danke Ihnen, liebe Frau Clausen – aber was Sie mir da sagen, das weiß ich alles schon.‹ – Ich war wie vom Donner gerührt. ›Sie wissen das‹, rief ich, ›und haben der gnädigen Tante hierher folgen können? Sie wissen das und sind noch hier? Sie wissen das und fürchten sich nicht, mit dem Baron stundenlang, halbe Tage lang allein zu sein? Oh, Kind, Kind, was soll ich von Ihnen denken!‹ – ›Denken Sie nichts Schlechtes von mir, gute Frau‹, sagte sie, mir die Hand auf die Schulter legend. ›Und denken Sie auch nicht so schlecht vom Baron. Er wird nie wieder so wild und bös sein, wie er vormals gewesen ist.‹ – ›Woher wissen Sie das, Fräulein?‹ sagte ich. – ›Weil er es mir versprochen hat.‹ – ›Und glauben Sie, daß er dies Versprechen hält?‹ – Oh, gewiß.‹ – ›Warum?‹ – ›Weil er mich liebt.‹ – ›Oh, Kind, Kind‹, rief ich, ›um Gottes willen, es ist die höchste Zeit. Fliehen Sie oder Sie sind rettungslos verloren. Unglückliche, daß Sie seinen Schwüren glauben! Er schießt das Pferd tot, das ihm nicht länger gefällt, und er bricht den Schwur, der ihm lästig wird. Was er Ihnen geschworen hat, ist ein altes Lied; er pfeift es, wie ein Star sein Stückchen pfeift, ohne etwas dabei zu denken. Was er Ihnen schwur, hat er schon hundert andern geschworen, von denen freilich die meisten nicht viel besser waren als er selbst und sich einen Treubruch schon gefallen ließen, wenn er nur gut bezahlt wurde.‹ – ›Hören Sie auf‹, rief Fräulein Marie heftig, ›ich kann und darf Sie nicht länger anhören.‹ Und dann setzte sie lächelnd hinzu: ›Sie werden bald einsehen, gute Frau, wie bitter Unrecht Sie meinem Harald – wie sehr Sie dem Baron Unrecht getan haben.‹ – ›Ihrem Harald?‹ sagte ich. ›Armes Kind, er wird nie Ihr Harald. Der nimmt, was ihm der Zufall in den Weg führt, und weil Sie nun einmal zufällig hier sind‹ – ›Und wenn ich nicht zufällig hier wäre?‹ sagte sie, schelmisch lachend. ›Wenn ich nun nicht der alten Baronin, sondern die alte Baronin meinethalben hier wäre? Und wenn ich nun gar nicht wieder fortginge und gar hierbliebe.‹ – In diesem Augenblick kam Harald plötzlich in den Baumgang, in welchem wir redend auf und ab gingen. Er stutzte, als er mich mit dem Mädchen allein sah. – ›Fräulein Marie‹, sagte er, ›ich glaube, die Tante wünscht Sie zu sprechen.‹ Und als das Mädchen fort war, trat er an mich heran und sagte leise durch die weißen Zähne: ›Was hast du ihr gesagt, Alte?‹ – ›Daß du sie an der Nase führst, Harald‹, antwortete ich. – ›Ich werde dir dafür den Hals umdrehen‹, sagte er und die Zornesader auf seiner Stirne schwoll. – ›Immer noch besser, als wenn du dem armen Dinge das Herz brichst‹, sagte ich. – ›Höre, Alte‹, sagte er, ›und wenn ich es diesmal nun wirklich ehrlich meinte; wenn ich das wüste Leben, bei dem man ja doch früher oder später zum Teufel gehen muß, herzlich satt hätte; wenn ich nun das Mädchen heiratete, wie dann?‹ – ›Ist sie von Adel?‹ sagte ich. – Harald lachte: ›Eines Schneiders Tochter ist sie. Ich werde die Schere und das Bügeleisen in unser Wappen zeichnen müssen.‹ – ›Wenn sie nicht von Adel ist‹, sagte ich, ›wirst du sie nie heiraten, und es wäre auch nur eine Grausamkeit mehr. Das arme Geschöpf würde unter deinem Spott und dem Hohn deiner Freunde verbluten wie ein gehetzter Hirsch unter den Zähnen der Hunde. Schicke das Mädchen fort; ich beschwöre dich, Harald, heute lieber als morgen. Und die alte Baronin auch‹, setzte ich hinzu. – Er sah mich groß an, und dann lachte er und sagte: ›Du bist noch dümmer, als ich gedacht habe, Alte.‹ – Damit wandte er mir den Rücken und ging trällernd in das Schloß.
Ich wußte nicht, was ich von dem allen denken sollte. Hatte Harald dem Mädchen die Ehe versprochen, glaubte sie allen Ernstes, daß er – von dem sie sagte, daß sie sein früheres Leben kenne – dies Versprechen halten würde? Sie schaute so klug und verständig aus ihren großen blauen Augen, wie konnte sie sich ein solches Märchen aufbinden lassen? Wie hatte es Harald angefangen, ihre Klugheit so ganz zu umnebeln? Was meinte das Mädchen damit, daß die Tante ihrethalben hier sei? Mir ging das Tag und Nacht im Kopf herum, daß ich fast krank darüber wurde. Ich hätte das arme, unschuldige Lamm so gern gerettet und dem Harald diese Sünde erspart – hatte er doch schon genug auf dem Gewissen! Aber ich wußte nicht, wie ich es anfangen sollte. Seit jener Unterredung im Garten wich Fräulein Marie mir überall aus, die Tante kam nur noch des Abends aus ihrem Zimmer und hatte trotz des heißen Wetters den Kopf stets dicht in Tücher eingewickelt. Harald hatte schon seit Tagen kein Wort mehr mit mir gesprochen. Er schien wirklich ein ganz anderer Mensch geworden zu sein. Er war, solange Fräulein Marie auf dem Schlosse war, nicht ein einziges Mal betrunken gewesen; hatte keinen der Leute geprügelt; kein Pferd zuschanden geritten, während doch sonst kein Tag hinging, wo er nicht diesen oder jenen verrückten Streich ausführte. Wenn er sonst bei der geringsten Veranlassung tobte und fluchte und sich wie ein Rasender gebärdete, so war er jetzt gegen alle mild und freundlich, nur nicht gegen mich, weil er wußte, daß er sich vor mir nicht verstecken konnte, die ihn von Kindesbeinen an kannte – und gegen den neuen Kammerdiener. Das war ein widerwärtiger Mensch, der beständig lächelte und immer hinter den Mädchen her war, die ihn alle nicht leiden konnten. Er hatte den ganzen Tag nichts zu tun, als mit den Händen in den Taschen umherzuschlendern und Grimassen zu schneiden. Für den Baron tat er gar nichts, im Gegenteil, seitdem Harald ihm einmal einen Fußtritt gegeben, daß er noch vierzehn Tage nachher hinkte, ging er ihm überall aus dem Wege. Kein Mensch konnte begreifen, weshalb ihn der Baron nicht wieder fortjagte. – Während dieser ganzen Zeit war keiner von den Herren, die sonst bei uns aus und ein gingen, zum Besuch auf dem Schlosse gewesen. Ich hatte immer gehofft, es sollten welche kommen, damit ich Gelegenheit bekäme, mit Fräulein Marie zu sprechen, der Harald jetzt gar nicht mehr von der Seite ging. Wenn sie vorher schön miteinander getan hatten, so war das jetzt noch viel schlimmer geworden. So wie sie sich unbeobachtet glaubten, lagen sie einander in den Armen, und das war ein Herzen und ein Küssen! – Du lieber Himmel, das ist unter Liebesleuten so der Brauch, und ich hatte es nicht besser gemacht, als ich ein so junges Ding war, und ich wußte am besten, wie die Grenwitzer Barone einem armen hübschen Mädchen schöntun und schmeicheln können; aber ich wußte auch, daß man jeden ihrer Küsse mit tausend Tränen bezahlen muß. – Und eines schönen Morgens, als ich Fräulein Marie wieder einmal begegnete und fragte: ›Wie geht's, Fräulein Marie? Gut geschlafen?‹ da wurde sie purpurrot und konnte vor Verlegenheit kein Wort hervorbringen und stand da und zitterte wie ein Espenblatt. Und als ich das sah, wußte ich auch, was geschehen war, und da wurde mir das Herz so zentnerschwer, daß ich mich auf eine Bank setzte und weinte. Als das Fräulein Marie sah, fing sie auch an zu weinen und setzte sich zu mir, schlang ihren Arm um meinen Hals und sagte schluchzend: ›Weinen Sie nicht, gute Mutter Clausen! Es wird noch alles gut werden!‹ – ›Das gebe Gott, Kind‹, sagte ich, ›aber ich glaube es nicht.‹ – ›Aber‹, sagte sie, ›Sie sehen ja selbst, wie gut und freundlich der Baron jetzt ist, und er ist doch nur so, weil er mich liebt, und wenn er mich nicht heiraten wollte, warum hätte er dann die Tante mitgebracht? Und wenn die Tante nichts dagegen hat, die so stolz und hoffärtig ist, wie Harald sagt, da können ja die andern Verwandten doch auch nicht nein sagen!‹ – ›So sind Sie nicht Gesellschafterin bei der alten Baronin?‹ fragte ich verwundert. – ›Nein‹, sagte sie, ›ich habe sie hier zum erstenmal gesehen.‹ – ›Aber um's Himmels willen, Kind‹, rief ich, ›wie kommen Sie denn hierher, wenn Sie nicht mit der Baronin gekommen sind?‹ – Die Kleine weinte noch stärker als zuvor. ›Ich darf es Ihnen nicht sagen‹, rief sie, ›ich habe dem Baron versprochen, gegen jedermann zu schweigen, bis wir uns öffentlich –‹ sie schwieg, als hätte sie schon zuviel gesagt. ›Ich darf nicht sprechen‹, wiederholte sie, ›aber glauben Sie mir, ich bin kein so schlechtes Mädchen, wie Sie denken.‹ – Damit küßte sie mich auf die Stirn und eilte von mir fort ins Schloß.
Seit diesem Tage sah ich Fräulein Marie oft mit verweinten Augen; und wohl mochte sie Ursache zum Weinen haben, das arme Kind. Harald tat, was ich schon längst gefürchtet hatte: Er fing sein altes Leben wieder an; freilich nur allmählich. Die Freunde kamen noch immer nicht aufs Schloß, aber er selbst ritt aus und blieb halbe und manchmal ganze Tage lang fort. Wenn er wiederkam, war er oft in seiner bösen Weinlaune, in der er die Diener mit Fußtritten und Stockschlägen traktierte und die armen unschuldigen Möbel zerschlug. Doch war es noch immer golden im Vergleich mit sonst, und er war auch noch immer zärtlich gegen Fräulein Marie, besonders wenn er sah, daß seine wütende Heftigkeit sie bis zum Tode erschreckt hatte. Mit der Tante verkehrte er beinahe gar nicht mehr, seitdem sie sich des Abends, wenn Fräulein Marie zu Bett gegangen war, ein paarmal im Salon gezankt hatten, daß wir es draußen hörten. Ich glaubte, die Alte setze ihm den Kopf zurecht, und da schickte ich ihr gern so viel Braten und Wein auf ihr Zimmer, wie sie haben wollte, obgleich es unglaublich war, was sie verzehren konnte.
Da geschah es, daß, als ich einmal in der Nacht, nachdem alle zu Bett waren, die Runde durchs Haus machte, wie ich es immer tat, um zu sehen, ob die Lichter überall ausgelöscht waren, mir auf einmal auf dem Korridor, der von dem Turm aus in das alte Schloß führt, wo die Damen logierten, ein heller Schein entgegenleuchtete. In dem ersten Schrecken und ohne noch zu wissen, ob die Gefahr groß oder klein war, schrie ich Feuer! Feuer! so laut ich konnte. Zugleich lief ich in dem Korridor entlang nach der Stelle zu, wo es brannte. Auf einmal war Harald an meiner Seite. Ich wußte nur zu gut, aus welcher Tür er gekommen war, obgleich ich ihn nicht hatte kommen sehen. – ›Still, Alte‹, rief er, ›du siehst ja, es brennt nur die Gardine vor dem Fenster.‹ Und damit fing er an, die brennenden Fetzen herabzureißen und mit den Füßen auszutreten. Plötzlich öffnete sich die Tür, die zu dem Zimmer der Baronin führte und die dem brennenden Fenster gerade gegenüberlag, und heraus stürzte die alte Hexe mit einen, großen Bündel unter dem Arm, und der Kammerdiener mit einem noch größeren Bündel auf der Schulter, kam hinterher. Sie hätten uns beinahe umgerannt, aber Harald packte den Kammerdiener und schleuderte ihn so gewaltig zurück, daß der Mensch samt seinem Paket zu Boden stürzte. ›Steckt ihr wieder einmal beieinander, Lumpenpack?‹ herrschte er die Alte an, die, als sie den Baron so wütend sah, am ganzen Leibe zitternd stehengeblieben war. ›Schert euch in die Stube zurück oder ich will euch auf den Marsch bringen.‹ Auf einmal fing er laut zu lachen an, denn er sah, und ich bemerkte es auch erst jetzt, daß die Alte in der Eile vergessen hatte, sich die Perücke aufzusetzen, und ihr eigenes rotes Haar in nicht allzu kurzen Zöpfen aus der schmutzigen Haube herabhing. Den Stock hatte sie natürlich auch stehenlassen, und sah überhaupt so verändert aus, daß ich meinen Augen kaum traute. – ›Scher dich zum Teufel, alte Hexe‹, rief Harald, noch immer aus vollem Halse lachend, ›und laß dich erst wieder anstreichen, sonst sieht man doch gar zu deutlich, woher du stammst.‹ Die Alte murmelte etwas, das ich nicht verstand, und ging in das Zimmer zurück; der Kammerdiener hatte sich unterdessen wieder aufgerafft und war die kleine Treppe, die von dem Korridor in den Garten führte, hinab davongeschlichen. – ›Geh zu Bett, Alte‹, sagte der Baron zu mir, ›und denke, du hast dies alles geträumt, oder denke auch, was du willst, mir gilt es gleich. Die Komödie kann ja doch nicht ewig dauern.‹
Und die Komödie war denn nun auch vorbei. Am nächsten Morgen waren die Alte und der Kammerdiener verschwunden, und niemand von uns hat je wieder etwas von ihnen gesehen oder gehört; keiner jemals erfahren, woher sie kamen. Nur das eine war sicher, daß die Alte so wenig des Barons Tante gewesen war wie ich seine Mutter. Die Leute lachten, und der Baron lachte, trotzdem die beiden an Silberzeug und Kostbarkeiten mitgenommen hatten, was sie forttragen konnten, aber ich lachte nicht, und da war noch eine andere, die auch nicht lachte. Das arme herzige Kind! Sie wollte es zuerst gar nicht glauben, daß der Baron sie so schändlich habe betrügen können. Sie ging mit weiten, starren, tränenlosen Augen umher, und wenn sie mir begegnete, sah sie mich an, so angstvoll, so kummervoll, daß es mir ins Herz schnitt. Ach, ich konnte ihr ja nicht helfen; ich konnte nur mit ihr weinen, und das tat ich denn redlich, als das arme Kind sich von ihrem ersten Entsetzen erholt und wieder Tränen gefunden hatte. Wir waren jetzt oft beisammen, denn seit jener Nacht kümmerte sich Harald nicht mehr viel um Fräulein Marie. Er ritt alle Tage aus, und nun kamen auch die Herren wieder aufs Schloß wie sonst, und das alte Leben fing wieder an. Ob Harald seine Gewissensbisse zum Schweigen bringen, ob er die verlorene Zeit nachholen wollte; er war jetzt wilder und unbändiger, als ich ihn je gesehen hatte, und die Leute gingen ihm aus dem Wege, wo sie konnten.
Eines Abends, als die Herren wieder einmal zu Besuch auf dem Schlosse waren – es war gegen sieben und sie hatten seit drei Uhr bei Tische gesessen – Fräulein Marie war bei mir auf dem Zimmer, wo sie jetzt die meiste Zeit zubrachte –, kam Harald plötzlich zur Tür herein. Ich sah auf den ersten Blick, daß er betrunken war. Sein Gesicht glühte und seine Augen funkelten wie die einer wilden Katze. Als er Marie erblickte, die im Fenster gesessen hatte und bei seinem Eintritt voller Schrecken aufgesprungen war, lachte er und sagte: ›Treffe ich dich hier? Ich habe das ganze Schloß nach dir durchgesucht. Komm, Schatz, ich will dich den Herren vorstellen; einen davon kennst du schon – du mußt aber hübsch artig und freundlich sein, hörst du?‹
Marie war bei diesen Worten bleich wie der Tod geworden und zitterte an allen Gliedern; ich sah, wie sie die Lippen bewegte, um etwas zu erwidern, aber sie brachte keinen Laut hervor. Ich konnte es nicht länger mit ansehen.
›Schämst du dich nicht, Harald‹, sagte ich, ›das arme, unschuldige Lamm so zu quälen. Pfui, Harald – daß du schlecht warst, habe ich immer gewußt, aber für so schlecht hätte ich dich nicht gehalten!‹ – Er sprang mit einem Satze auf mich zu und packte mich mit seinen Eisenhänden an der Kehle. – ›Sprich noch ein Wort‹, knirschte er zwischen den Zähnen, ›und ich breche dir das Genick, verdammte Hexe!‹ – Ich wußte, daß er seine Drohung ausführen könnte, aber ich fürchtete mich nicht vor dem Tode. – ›Tu, was du willst‹, sagte ich ruhig, ›aber so lange ich noch einen Atemzug habe, will ich es dir ins Gesicht sagen, du bist ein Elender.‹ – Ich sah ihm fest ins Auge; ich sah, wie der Zorn immer wütender in ihm aufkochte und fühlte, daß seine Finger sich wie eiserne Klammern um meine Kehle schlossen. Ich glaubte meine letzte Stunde gekommen. – Da stand Marie plötzlich neben uns, sie legte ihre Hand auf Haralds Arm und sagte ganz leise: ›Laß sie los, Harald; ich will mit dir gehen.‹ – Weiter sagte sie nichts, aber es war genug, selbst ein so wildes Herz wie Haralds zu rühren. Er ließ die Arme sinken und starrte Marie an, als ob er aus einem schweren Traum erwachte. Plötzlich fiel er vor ihr auf die Knie, verbarg sein glühendes Gesicht in den Falten ihres Kleides und schluchzte: ›Vergib mir, Marie; vergib mir!‹ Dann sprang er auf, und als er sah, daß sie durch Tränen ihn anlächelte, hob er sie in seinen Armen empor wie ein Kind, trug sie in der Stube auf und ab und herzte und küßte sie. Endlich setzte er sie hier in den Lehnstuhl, auf dem du jetzt sitzt, und kniete vor ihr nieder, ihre Hände und ihre Kleider küssend, und wandte sich zu mir und rief: ›Geh, Alte, und sage dem Karl, er solle die Pferde satteln lassen. Ich sei krank geworden oder was sie wollen, aber ich könnte sie heute nicht mehr sehen und morgen auch nicht. Ist es so gut, lieb Herz? Nicht wahr, ich bin nicht so schlecht, wie die Alte sagt?‹ – Ich ging vor Freude laut weinend aus der Stube und dachte, es kann doch vielleicht noch alles gut werden.
Aber das wurde es nicht. Schon nach wenigen Tagen war alles wieder beim alten. Ähnliche Szenen kamen noch manchmal vor, aber Haralds gute Vorsätze hielten immer nur wenige Tage stand, und wir mußten jede Spottrede der Herren mit bitteren Tränen bezahlen. Ich sage: wir, denn ich hatte die süße Dirne so lieb, als ob sie mein eigen Kind gewesen wäre. Und jetzt hatte die Ärmste Trost und Liebe nötiger als je. Sie wußte schon seit Monaten, daß sie die Frucht ihrer Liebe zu Harald unter dem Herzen trüge, und das Schicksal dieses Kindes, ihres und seines Kindes, bekümmerte sie tausendmal mehr als ihr eigenes. – ›Was aus mir werden soll‹, sagte sie, ›was ist mir daran gelegen? Ich stürbe lieber heute als morgen; aber meines Kindes halber muß ich leben und will ich leben. Und ich will auch gar nicht mehr weinen und klagen; es hilft ja doch zu nichts, und Harald sagt ja, daß ihm nichts so verhaßt sei als verweinte Augen.‹ – Ich fragte sie, ob sie keine Eltern, keine Verwandte, keine Freunde hätte, zu denen sie ihre Zuflucht nehmen könnte. – Sie schüttelte traurig den Kopf: ›Ich habe niemand auf der weiten Welt, niemand als Sie, liebe Mutter Clausen, und noch einen, der alles für mich tun würde, wenn er wüßte, wo ich wäre; aber er weiß es nicht und soll es auch nie erfahren.‹ – Über ihr früheres Leben sprach sie nie. ›Ich habe dem Baron versprochen, darüber zu schweigen, bis er sich öffentlich mit mir verlobe; und‹, setzte sie wehmütig lächelnd hinzu, ›da sehen Sie selbst, daß ich wohl ewig werde schweigen müssen.‹
Sie kam fast nicht mehr von meiner Seite, und was Harald betrifft, so schien er in der letzten Zeit ganz vergessen zu haben, daß Marie noch auf dem Schlosse war. Nur manchmal, wenn ich mit ihm allein war, erkundigte er sich in kurzen, abgerissenen Fragen nach ihr, aus denen ich sah, daß er über ihren Zustand vollkommen unterrichtet war.
So standen die Sachen. Der Sommer war zu Ende; der Herbst kam mit Sturm und Regen, und die dürren Blätter wehten von den Bäumen. Es war an einem Nachmittage, Harald war ein paar Tage verreist gewesen; ich war mit Marie im Garten und suchte ihr Trost zuzusprechen, da sie heute ganz besonders traurig war. Da schaute plötzlich ein Schacherjude über das Staket und schrie, als er uns erblickte, in den Garten hinein: ›Nichts zu handeln? Nichts zu handeln?‹ Ich rief ihn. Er kam. Es war ein alter, schmutziger, schlottriger Mensch, mit einem weißen Bart und einer Brille von blauen Gläsern über den Augen. Er kramte seine Waren aus, und weil die Sachen hübscher waren, wie sie diese Leute sonst wohl führen, so kauften Marie und ich ihm Verschiedenes ab. Er forderte einen mäßigen Preis, aber es war doch mehr, als wir bei uns hatten, und so ging ich ins Schloß. das übrige zu holen. Zufällig konnte ich den Schlüssel zu meiner Kommode nicht gleich finden, und als ich ihn gefunden hatte, fiel mir ein, daß ich in der Küche notwendig etwas besorgen mußte. So verging wohl eine halbe Stunde, bis ich wieder in den Garten kam.
Ich traf Marie allein. ›Wo ist der Jude?‹ sagte ich. – ›Er will morgen wiederkommen‹, antwortete sie. – ›Was haben Sie, Kind?‹ sagte ich, denn ich sah, daß sie rotgeweinte Augen hatte und ganz verstört aussah. – Da fiel sie mir um den Hals und weinte, aber so sehr ich sie auch bat, mir zu sagen, was vorgefallen sei, ich konnte nichts aus ihr herausbringen.
Der Jude kam am nächsten Tage nicht, aber Baron Harald kam. Er brachte ein paar Herren mit. Sie waren auf der Jagd gewesen und tüchtig müde geworden. So gingen sie heute früher zu Bett, nachdem sie ein paar Flaschen Wein getrunken hatten.
Ich mochte wohl schon ein paar Stunden im Bett gelegen haben, ohne einschlafen zu können, denn es regnete und stürmte in dieser Nacht gar heftig, und die Laden klappten und die Jagdhunde heulten. – Da hörte ich einen leisen Schritt auf dem Gange vor meiner Stube, eine Hand suchte nach dem Drücker der Tür, und als ich mich erschreckt im Bett emporrichtete, ging die Tür auf; es trat jemand herein und kam auf mein Bett zu. – ›Wer ist da?‹ rief ich. – ›Ich bin's, Mutter Clausen‹, sagte eine leise Stimme. Es war Marie. – ›Sind Sie krank geworden, Kind?‹ sagte ich. – ›Nein‹, sagte sie, sich zu mir aufs Bett setzend, ›ich wollte nur Abschied nehmen und Ihnen für all die Liebe sind Güte danken, die Sie an mir getan haben.‹ – Ich glaubte, sie wollte sich das Leben nehmen, und sagte voller Entsetzen: ›Um Gottes willen, Kind, was hast du vor?‹ – ›Fürchten Sie nichts, Mutter Clausen‹, sagte sie, und dabei umarmte und küßte sie mich unter vielen heißen Tränen; ›ich will fort, aber nur fort von hier. Ich habe es schon längst gewollt und jetzt ist die Stunde gekommen.‹ – ›Warum jetzt?‹ sagte ich. ›Wo willst du hin mitten in der Nacht? Und noch dazu in solcher Nacht! Hörst du nicht, wie Wind und Regen mit den Hunden um die Wette heulen? Und du kennst weder Weg noch Steg – du rennst ja gerade ins Verderben, und wenn du nicht an dich denkst, so denke wenigstens an das Kind, das du unter dem Herzen trägst.‹ – ›An das eben denke ich‹, sagte sie. ›Es soll nicht hier, wo seine Mutter so grenzenlos elend gewesen ist, das Licht erblicken. Es soll nie erfahren, wer sein Vater war. Leben Sie wohl, liebe Mutter! Möge der allgütige Gott Sie behüten! Und fürchten Sie nichts für mich! Ich gehe nicht allein; es ist jemand bei mir, der mich beschützen und über mich wachen wird und der sein Leben für mich lassen würde.‹ – ›Weißt du das auch gewiß, Kind?‹ sagte ich. ›Ich dächte, du hättest jetzt gelernt, was den Männern ihre Schwüre wert sind. Wer ist es?‹ – ›Ich darf es nicht sagen‹, antwortete sie, ›und jetzt muß ich fort, es ist die höchste Zeit.‹ – Sie hatte sich von dem Bett erhoben. ›Warte‹, sagte ich, ›ich will dir wenigstens das Geleit aus dem Schlosse geben.‹
Sie bat mich inständig zu bleiben; aber ich kehrte mich nicht daran.
Schnell hatte ich ein paar Kleider übergeworfen; ich war fest entschlossen, sie nicht eher fortzulassen, bis ich mich überzeugt hatte, daß sie wußte, was sie tat. Ich fürchtete noch immer, sie wolle sich das Leben nehmen.
Als sie sah, daß ich von meinem Vorsatz nicht abzubringen war, half sie mir, mich vollends ankleiden und sagte: ›So kommen Sie, Mutter Clausen; er sieht dann doch, daß ich auch hier nicht ganz verlassen gewesen.‹
Wir gingen, uns an den Händen haltend, auf den Zehen durch die Korridore, dann die Treppe hinab, die aus dem alten Schlosse in den Garten führt. Es hatte aufgehört zu regnen, und der Mond schien auf Augenblicke durch die schwarzen, treibenden Wolken. Ich hatte noch immer Mariens Hand in der meinigen; sie eilte, mich mit sich ziehend, durch die wohlbekannten Wege. Als wir vor einer Bank vorüberkamen in einem der dichteren Baumgänge, wo ich sie oft mit Harald hatte sitzen sehen, blieb sie einen Augenblick stehen, und ich fühlte, wie ihre Hand zuckte. Aber sogleich raffte sie sich wieder auf: ›Nein, nein‹, murmelte sie, ›er hat recht; Harald hat mich nie geliebt, und darum darf ich auch nicht länger bleiben.‹
Wir gingen aus dem Garten in den Hof, aus dem Hof durch das große Tor in den Wald hinein, die Straße nach Berkow. Als wir ein paar hundert Schritte gegangen waren, kam uns ein Mann entgegen. ›Er ist es‹, sagte Marie, ›Sie müssen mich jetzt verlassen, Mutter Clausen; ich habe ihm versprochen, allein zu kommen und keinem zu sagen, daß ich fortgehe.‹ – ›Du hättest das nicht versprechen sollen, Kind‹, sagte ich, ›ich glaube, ich habe das Recht zu wissen, wo du bleibst.‹ –
Unterdessen war der Mann herangekommen. ›Bist du's, Marie?‹ sagte er. ›Warum kommst du nicht allein?‹ – ›Weil ich sie nicht losgelassen habe‹, sagte ich, ›und sie auch nicht loslassen will, bis ich weiß, wo sie bleibt.‹ – ›In Gottes Hut und unter dem Schutz eines Freundes‹, sagte der Mann. Das klang so treu und gut, daß all meine Angst und Sorge in einem Augenblick verschwunden war.
Der Mond trat aus den Wolken hervor, und ich konnte den Mann, der jetzt neben uns herging, etwas deutlicher sehen. Er war klein und nicht mehr jung; und hatte eine Brille auf der Habichtsnase, wie der Jude von gestern morgen. Er hatte einen langen Überrock an, und als der Wind denselben auseinander wehte, sah ich beim Schein des Mondes den Lauf einer Pistole blinken, die in einem Gürtel steckte, den er um den Leib geschnallt trug.
Einige Schritte weiter hielt eine mit zwei Pferden bespannte Kutsche. ›Es ist die höchste Zeit‹, sagte der Mann auf dem Bocke. Er sprach plattdeutsch, und mir war, als ob ich die Stimme kannte. ›Schnell, schnell‹, sagte der kleine Mann mit der Brille und drängte Marie nach dem herabgelassenen Wagentritt. ›Adieu, adieu‹, schluchzte Marie, mich noch einmal umarmend, und als ihr Kopf für einen Augenblick auf meiner Schulter lag, flüsterte sie mir ins Ohr: ›Sagen Sie ihm, daß ich ihm alles, alles vergeben habe!‹ ›Schnell, schnell, Marie‹, rief der Mann und stampfte ungeduldig mit dem Fuß. Er hing ihr einen weiten Mantel um und half ihr in den Wagen; dann wandte er sich zu mir: ›Wenn Sie das unglückliche Mädchen wirklich so lieb haben‹, sagte er, ›schweigen Sie zweimal vierundzwanzig Stunden. Ich bin freilich auf alles gefaßt, aber ich möchte um Mariens willen gern, daß es ohne diese hier abginge.‹ Er schlug mit der Hand an die Pistole. – ›Verlassen Sie sich auf mich‹, sagte ich, ›und ich will mich auf Sie verlassen.‹ – ›Tun Sie das‹, sagte er, ›es sind ja nicht alle Menschen Schurken!‹
Er sprang in den Wagen und schlug die Tür zu. Die Pferde zogen im Galopp an, und schon nach wenigen Minuten hörte ich nur noch das Sausen des Windes in den Tannen.
Ich ging langsam in das Schloß zurück und gelangte auf mein Zimmer, ohne von jemand gesehen zu werden. Ich schloß hinter mir ab; dann warf ich mich auf mein Bett und weinte, als ob mir ein liebes Kind gestorben wäre; und doch war ich glücklich und dankte Gott, daß er sich des armen Kindes erbarmt und sie aus dieser Hölle erlöst hatte.
Als ich am andern Morgen erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Es war ein heller, kühler Morgen, und Harald ging mit seinen Gästen auf die Jagd. Ich war froh darüber; so konnte ihm doch Mariens Flucht bis zum Abend wenigstens verschwiegen werden. Den Leuten freilich mußte ich schon gegen Mittag sagen, daß Fräulein Marie nirgends zu finden sei und ob sie sie nicht gesehen hätten? Die waren nicht wenig erschrocken, denn da war keiner, der das sanfte, schöne Mädchen nicht gern gehabt hätte. Sie durchsuchten das Haus, die umliegende Gegend, den Wald bis zum Strande und selbst den Wallgraben, denn daß sich die Ärmste das Leben genommen habe, darüber waren sie alle einig.
Spät am Abend kam Harald zurück. Er war allein. Als er in das Haus trat, sah er auf den ersten Blick an den verstörten Gesichtern der Leute, daß etwas vorgefallen sein müsse. Sein böses Gewissen sagte ihm gleich, was. ›Ist sie tot?‹ fragte er und wurde weiß wie Kalk. ›Wir wissen es nicht, Herr‹, sagte der alte Jochen, ›wir haben den ganzen Tag gesucht, aber haben sie noch nicht gefunden.‹
Er ging, ohne ein Wort zu erwidern, an den Leuten vorbei nach seinem Zimmer. Als er in der Tür war, drehte er sich um, und winkte mir, ihm zu folgen.
Er schritt in dem Gemach auf und ab, endlich blieb er vor mir stehen und sagte mit dumpfer Stimme: ›Hat dir Marie je gesagt, sie wolle sich das Leben nehmen?‹ – ›Nein‹, sagte ich. ›War sie in der letzten Zeit besonders traurig?‹ – ›Ja.‹
Wieder ging er im Zimmer hin und her, mit ungleichmäßigen Schritten und unverständliche Worte durch die Zähne murmelnd. Dann blieb er abermals vor mir stehen. ›Und wenn sie sich das Leben genommen hätte, so wäre ich ihr Mörder‹, murmelte er. – ›Wer sonst?‹ antwortete ich.
Er zuckte zusammen, als ob ihm ein Messer in die Brust gestoßen wäre. ›Es kann nicht sein‹, sagte er mit bleichen Lippen, ›es wäre zu gräßlich.‹
Ich wußte, welche Qualen er in diesem Augenblicke ausstand, aber ich wußte auch, daß der stolze Mann sie doch noch lieber dem Tod als einem andern gönnte, und überdies hatte ich zu schweigen versprochen. So blieb ich still und wartete ab, was er beginnen würde.
Er hieß mich klingeln und die Leute hereinrufen. Sie kamen.
›Wer von euch zu müde ist, mag zu Bette gehen‹, sagte er, ›wer noch weiter mit mir suchen will, soll dafür haben, was er verlangt.‹ Es meldeten sich alle, nicht des Lohnes wegen, sondern weil doch keiner vor Angst und Aufregung hätte schlafen können.
Er ließ so viel Lichter anzünden, als nur aufzutreiben waren, und nun fing das Suchen von neuem an, unten in den Kellern, durch alle Zimmer, Trepp auf, Trepp ab, auf den Böden, bis hinauf auf den Turm – Harald immer voran, jeden Winkel durchspähend, überall die Augen habend, mit fester Stimme Befehle erteilend, unermüdlich, bis der Morgen kam.
Nun mußten sich die Frauen zu Bett legen, aber von den Männern nahm er, was sich noch auf den Beinen halten konnte. Mit denen durchsuchte er jedes Gebüsch im Garten, und den Wallgraben von der Zugbrücke an bis wieder zur Zugbrücke. Es regnete an dem Tage, was nur vom Himmel wollte, und die Leute fielen beinahe um vor Müdigkeit, aber Harald gab ihnen – wohl zum ersten Male in seinem Leben – gute Worte und bat und beschwor sie, nicht nachzulassen und versprach ihnen Geld, soviel sie wollten. So hielten sie bis gegen Mittag aus; da konnten sie nicht mehr. Nun nahm Harald die anderen, die sich ausgeruht hatten, und mit denen ging er auf das Moor von Faschwitz und in den Wald nach Berkow und bis an den Strand.
Gegen Abend kamen sie wieder, triefend von Regen und dem Moorwasser, worin sie stundenlang herumgewatet hatten. Die Männer waren so müde, daß sie im Gehen schliefen, aber Haralds Kraft war noch nicht gebrochen. Er hieß mich ein paar Flaschen Wein holen, und während er sie hinuntergoß, sagte er zu mir: ›Höre, Alte, ich glaube nicht, daß sie sich ertränkt hat. Es wäre zu gräßlich, ich müßte verrückt werden über dem Gedanken. So grausam hat sie sich nicht an mir rächen können; dazu war sie viel zu gut und hatte mich viel zu lieb. Hat sie nie gesagt, sie wolle mich verlassen? Hat sie nie von einem Manne gesprochen, der allezeit bereit sei, sie bei sich aufzunehmen?‹
Ich dachte, daß ich Harald einen Funken Hoffnung lassen müsse, und sagte, ja, Marie hätte öfter und besonders in der letzten Zeit so geredet.
›Siehst du?‹ sagte er und stieß das Glas, aus dem er getrunken hatte, auf den Tisch, daß es zerbrach. ›Jetzt kommt die Meute endlich auf die Spur. Nun wollen wir eine richtige Hetzjagd machen.‹
Er riß an der Klingel, daß ihm der Griff in der Hand blieb. ›Anspannen lassen‹, schrie er dem alten Jochen, der eintrat, entgegen, ›sofort!‹
Ich bat ihn, ein paar Stunden wenigstens zu schlafen, denn ich sah, daß seine Augen im Fieber glühten und seine Glieder flogen. ›Pah‹, sagte er, ›schlafen? Ich habe mehr zu tun, als zu schlafen. Ich weiß nicht, wie lange ich fortbleibe, Alte; aber ich komme entweder mit ihr zurück oder – wird's bald?‹ schrie er auf den Flur hinaus. ›Ich will euch Beine machen, ihr verdammten Halunken!‹
So fuhr er ab, ohne auch nur die Kleider gewechselt zu haben. Er blieb vier Wochen fort; keiner wußte, wo er geblieben war. Eines Abends spät kam er wieder. Die erste Frage, die er an mich richtete, war: ›Hast du Nachricht von ihr?‹ – Er sah so bleich und verfallen aus, daß ich ihn kaum wiedererkannte. Seine Augen waren tief in den Kopf gesunken und hatten das alte Feuer verloren und blitzten dann wieder manchmal auf wie glühende Kohlen. ›Ich habe sie nicht gefunden‹, sagte er, als wir beide in seinem Zimmer allein waren, ›gib mir Wein, Alte; ich muß das höllische Feuer, das in mir brennt, ersäufen!‹
Mich jammerte des unglücklichen Mannes, denn jetzt erst fühlte ich, wie sehr ich ihn liebte. Ich sagte ihm alles, was ich von der Flucht Mariens wußte. Gegen mein Erwarten blieb er ruhig: ›Es kommt auf eins heraus‹, sagte er, ›ob sie gestorben ist oder nicht; für mich ist sie doch tot; sie konnte nicht anders, als mich verlassen; sie war zu stolz, um sich wie einen Hund behandeln zu lassen. Ich habe sie behandelt wie einen Hund, schlimmer wie einen Hund, ich Elender!‹
Er schlug sich mit der geballten Faust vor die Stirn; dann warf er sich in einen Lehnsessel, legte den Kopf in die Hände und schluchzte: ›Und doch habe ich sie geliebt! Und doch liebe ich sie! Oh, mein Gott, mein Gott!‹
Es war schrecklich, den wilden Harald weinen zu sehen. Ich hob seinen Kopf in die Höhe, er legte ihn an meine Brust und weinte, wie er oft als Knabe in meinen Armen geweint hatte. Ich bat ihn, sich zu beruhigen, ich sagte ihm, daß Mariens letzte Worte gewesen seien: Ich vergebe ihm alles.
›Und wenn sie mir auch vergeben hat, ich werde mir nie vergeben‹, rief er. ›Geh zu Bett, Alte. Wir wollen morgen weiter darüber sprechen.‹
Aber als der alte Jochen am nächsten Morgen zu ihm kam, lag Harald in hitzigem Fieber. Das währte neun Tage, neun fürchterliche Tage und Nächte. Da war es aus mit Harald von Grenwitz.«
Die alte Frau schwieg; strich den Strumpf, an dem sie gestrickt hatte, über den Knien glatt, legte ihn zusammen und sagte: »So, Junker, nun mach, daß du nach Hause kommst. Ich muß nach den Kindern sehen, die drüben auf dem Jochen seinem Bette schlafen. Es hat eben aufgehört zu regnen, aber es wird bald stärker anfangen. Deshalb halte dich nicht auf unterwegs. Adjies.«
»Kommen Sie«, sagte Oswald zu Albert, der sich soeben gähnend und sich reckend, von seinem harten Lager erhoben hatte. »Es ist die höchste Zeit, wenn wir noch zum Abendessen auf dem Schlosse sein wollen. Adieu, Mutter Clausen.«
»Adjies, adjies, Junker!« sagte die Alte, schon in der Tür.
Als die beiden jungen Männer auf der schmutzigen Dorfgasse standen, deutete Albert mit dem Daumen über die Schulter nach dem Häuschen, das sie soeben verlassen, und sagte:
»Schnurrige alte Dame das! War die Geschichte nicht famos, Dottore?«
»Haben Sie denn nicht geschlafen?«
»Nicht die Spur. Ich wollte anfänglich, aber ihr ließet einen ja nicht dazu kommen und hernach, als die Geschichte von Baron Harald anfing, war so an Schlafen nicht mehr zu denken. Aber ich blieb ruhig liegen, und schnarchte von Zeit zu Zeit, um die Alte sicher zu machen, die die Geschichte jedenfalls nur ihrem ›Junker‹ erzählen wollte. Weshalb nennt die alte Dame Sie Junker, Dottore, und du?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Oswald.
»Oder wollen es nicht wissen«, erwiderte Albert, »na, schadet nicht. Man darf auch nicht alles wissen wollen. Warum wollte Baron Harald wissen, wo das hübsche Ding, die Marie, geblieben war? Ohne diese überflüssige Neugierde könnte er noch heute seinen Burgunder trinken. Merkwürdig, daß ein so vernünftiger Mann solche verrückte romantische Grillen im Kopf haben konnte! Können Sie das begreifen, Dottore?«
»So ziemlich«, sagte Oswald, »aber sprechen wir von etwas anderem.«
»Wie Sie wollen, Teuerster. Was halten Sie zum Beispiel von der Unsterblichkeit!«