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Fünfundfünfzigstes Kapitel

Oswald hatte vergeblich über die Stunde hinaus, in der Helene in dem Garten zu erscheinen pflegte, gewartet. Gerade heute kam sie nicht. Er ging mehrmals an ihrem Fenster vorüber, ohne sie zu sehen. Er kehrte endlich, da es im Hause lebhafter zu werden begann, zu Bruno zurück, der ihn mit der größten Ungeduld erwartete. Bruno war außer sich, daß dieser Versuch mißlungen war; Oswald versuchte ihn zu beruhigen, indem er hervorhob, wie aller Wahrscheinlichkeit nach die Baronin und Felix die Durchführung ihres Planes bis auf den letzten Augenblick verschieben würden, es also auch morgen früh noch immer Zeit sein würde, den Brief in Helenes Hände gelangen zu lassen.

»Und jetzt«, sagte Oswald, »muß ich Anstalten treffen, daß nach dem Doktor geschickt wird, denn die Ungewißheit über deinen Zustand ist mir unerträglich.«

Leider sollten Oswalds Bemühungen ohne Erfolg bleiben. Der Bediente, der ihm die Antwort der Baronin, »es werde im Laufe des Vormittags sowieso ein Wagen in die Stadt fahren«, überbringen sollte, hatte nicht gewagt, ihm diese Bestellung zu machen, sondern gesagt: Es solle sogleich ein Bote hingeschickt werden. So vertröstete er sich bis gegen Mittag. Da kam der alte Baron, sich persönlich nach Brunos Zustand zu erkundigen. Er sagte: Soviel er wisse, sei noch gar nicht in die Stadt geschickt; er wolle indessen sogleich dafür sorgen. Der alte Herr war ordentlich böse geworden über diese »unverzeihliche Saumseligkeit«; Oswald glaubte jetzt bestimmt, daß man sich beeilen werde, das Versäumte nachzuholen. Indessen verging Stunde auf Stunde, der Abend brach herein, und noch immer wollte sich kein Doktor Braun blicken lassen. Er ging selbst hinunter, sich zu erkundigen, was denn nun geschehen war? Der Wagen, der gegen Mittag in die Stadt gefahren war, war eben zurückgekommen; auch hatte der mit der Bestellung Beauftragte sie ausgerichtet; »aber der Herr Doktor sind auf vierundzwanzig Stunden verreist, und das Mädchen sagte: Sie solle alle, die kämen, an Dr. Balthasar – den Kollegen Brauns – weisen. Nun wußte ich aber nicht, ob ich dahin gehen sollte«, Oswald geriet in Zorn über diese abermalige Verzögerung. Er begab sich sofort zum Baron, den er bei der übrigen Gesellschaft im Garten fand; sagte ihm, was vorgefallen sei, und bat um die Erlaubnis, selbst in die Stadt reiten zu dürfen, damit endlich einmal etwas in dieser Sache geschehe.

»Ich verlasse Bruno ungern«, sagte er, »aber ich sehe kein anderes Mittel.«

»Die Krankheit wird ja so gefährlich nicht sein«, sagte Anna-Maria.

»Das zu beurteilen vermag ich so wenig wie Sie«, erwiderte Oswald scharf, »mir erscheint Brunos Zustand bedenklich, und ich halte es für meine Pflicht, diese meine Ansicht zur Geltung zu bringen, bis ich von jemand, der ein Urteil darüber hat, eines andern belehrt werde.«

»Kommen Sie«, sagte der alte Baron, »Wir wollen den Jochen fortschicken. Sie brauchen nicht von Bruno zu gehen. Jochen ist ein verständiger Mensch; man kann sich auf ihn verlassen.«

Oswald machte der Gesellschaft eine sehr förmliche Verbeugung und entfernte sich mit dem Baron.

»Es ist hübsch, wenn ein junger Mann ein so sicheres, festes Auftreten hat«, sagte Pastor Jäger ironisch.

»Der Apoll von Belvedere!« sagte Primula, man wußte nicht recht, ob ebenfalls ironisch oder in einem Anfall poetischer Ekstase.

»Ich denke, Seine Hoheit wird nächstens von dem Piedestal herabsteigen«, sagte Felix.

»Die gestrengen Herren regieren bekanntlich nicht lange«, sagte die Baronin mit einem bedeutungsvollen Blick nach dem Pastor, den dieser mit einem schlauen Zwinkern seines rechten Auges über das runde Brillenglas sofort beantwortete.

»Bruno fehlt auch alle Tage etwas anderes«, sagte Malte, sich Zucker über seine Erdbeeren streuend.

Helene sagte nichts. Sie saß da, den Blick fest auf die Erde geheftet.

Jetzt stand sie auf und ging, ohne ein Wort zu sagen aus der Laube dem Schlosse zu.

»Du kommst doch wieder, Helene?« rief ihr die Mutter nach.

»Ich glaube kaum«, antwortete Helene, sich umwendend, »es wird mir etwas zu kühl hier draußen.«

Sie setzte ihren Weg fort. Die Baronin und Felix warfen sich einen vielsagenden Blick zu.

Der in die Stadt geschickte Jochen war in der gehörigen Zeit zurück, um zu melden, daß er Dr. Balthasar nicht getroffen habe. Er sei auf ein entferntes Gut gefahren, wo sich ein Mann den Arm gebrochen. Man wolle ihm indessen, sobald er zurückkomme, was wohl vor Einbruch der Nacht nicht geschehen werde, die Bestellung ausrichten, und zweifle nicht, daß er ihr Folge leisten werde, wenn er selbst nicht zu angegriffen sei.

Dabei mußte sich denn also Oswald beruhigen, so gut er es vermochte. Brunos Zustand war so ziemlich derselbe geblieben. Die Schmerzen hatten vielleicht etwas nachgelassen, aber sich über eine größere Fläche verbreitet. Er gab sich die größte Mühe, Oswald, dessen Angst mit jeder Stunde wuchs, je später es wurde, ohne daß ärztliche Hilfe erschien, seine Befürchtungen auszureden. »Es ist nichts; es wird morgen schon wieder besser sein; daß der Brief noch immer in unseren Händen ist, macht mir viel größere Sorge als meine Krankheit. Könntest du nicht einen Versuch machen, Oswald, ihn, wie ich gestern wollte, durchs Fenster in ihr Zimmer zu werfen? Wenn dir Felix begegnet, sag ihm nur, er solle an gestern Nacht denken, dann wird er sich schon aus dem Staube machen; oder besser, sage nichts, und tu, was ich leider nicht getan habe, erwürge ihn auf der Stelle.«

Endlich, als Oswald die Hoffnung schon beinahe aufgegeben hatte, kam Dr. Balthasar. Es war ein alter Mann, den die vielen Geschäfte des Tages verdrießlich gemacht hatten und der etwas von »Lappalien, derentwegen man die Leute um ihre Ruhe bringe«, durch die Zähne murmelte. Er untersuchte Bruno kaum, sagte: Es würde sich schon von selbst geben, übrigens wolle er morgen wiederkommen und eine Einreibung mitbringen.

»Nun sind wir auch noch so klug wie vorher«, sagte Oswald, als der Doktor wieder fort war.

»Ich sagte dir ja gleich, es hat nichts zu bedeuten. Leg dich schlafen, Oswald, du brauchst es ebenso nötig wie ich.«

Indessen, die beiden fanden nicht viel Ruhe in dieser Nacht. Oswald hatte sein Sofa neben Brunos Bett stellen lassen und blieb angekleidet, um jeden Augenblick bereit zu sein. Brunos Zustand blieb derselbe, nur daß seine Unruhe immer größer wurde und er in immer kürzeren Zwischenräumen zu trinken verlangte. Gegen Morgen war Oswald eingeschlafen; Bruno weckte ihn, als die Sonne eine Stunde über dem Horizont war.

»Oswald, ich kann dich nicht länger schlafen lassen, so leid es mir tut, du mußt in den Garten, es ist die höchste Zeit. Wenn du Helene auch heute nicht triffst, so stehe ich auf und gehe zu ihr, und wenn ich darüber sterben sollte.«

»Wie geht es dir?«

»Besser.«

»Das sagst du stets.«

»Mache nur, daß du fortkommst.«

Oswald ging in den Garten und suchte die Wallpromenade auf, wo er nun schon manchen Morgen mit nicht leichtem Herzen dem schönen Mädchen begegnet war. Aber so schwer wie heute war ihm das Herz nie gewesen. Brunos Krankheit, die jetzt hereindrohende Katastrophe in dem Familiendrama, dessen Entwicklung er mit so schmerzlichem Interesse verfolgt hatte und in dem er jetzt die zweideutige Rolle eines Zwischenträgers zu spielen verdammt war – das alles lastete auf seiner Seele und machte, daß er von dem wonnigen Morgen nichts empfand, nichts bei dem warmen Sonnenschein und den bläulichen Morgenschatten, nichts bei dem Duft der unzähligen Blumen, nichts bei dem Schwirren und Tanzen der Myriaden von Insekten, nichts bei dem Jubilieren der Vögel in den Bäumen. Konnten ihm die Blumen seinen Liebling wieder gesundmachen? Konnten ihm die Vögel Helenen herbeisingen?

Doch da! Da schimmerte ihr Kleid zwischen den Bäumen des Walles herüber. Das mußte sie sein. Sie schritt rascher vorwärts, sobald sie ihn bemerkt hatte – es schien ihr selbst daran gelegen, ihn zu sprechen.

»Gott sei Dank, daß Sie kommen«, rief sie ihm schon von weitem entgegen, »ich habe fast die ganze Nacht vor Sorge und Angst nicht geschlafen. Es geht gut – nicht wahr? Sie würden ihn ja auch sonst nicht verlassen haben?«

»Es geht besser, wenigstens sagt Bruno so; aber ich fürchte, nichts weniger als gut. Sie wissen, er ist ein Held, auch im Ertragen von Schmerzen.«

»Ja, das ist er!« sagte Helene. »Ich liebe ihn wie einen Bruder; nein, viel, viel mehr als einen Bruder. Der Gedanke, ihn zu verlieren, ist für mich entsetzlich. Sie glauben nicht, wie ich mich seinetwegen quäle.«

»Gewiß nicht mehr als er sich Ihrethalben«, sagte Oswald.

»Wie das?« fragte Helene, ihre großen Augen forschend auf Oswalds Gesicht heftend.

»Ich will nicht durch eine lange Einleitung die kostbaren Augenblicke, in denen ich ungestört mit Ihnen sprechen kann, verlieren«, sagte Oswald. »Diesen Brief hier, dessen Aufschrift von Ihrer Hand ist, der Ihnen also ohne Zweifel gehört, hat Bruno vorgestern abend gefunden, an der Kapelle unmittelbar nach einer Unterredung, welche die Frau Baronin mit Baron Felix über Familienangelegenheiten auf derselben Stelle gehabt hatte und die Bruno, der sich zufällig in der Kapelle befand, mit anzuhören nicht umhin konnte. Er hat mich gebeten, Ihnen Ihr Eigentum wieder zuzustellen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß es von dem Augenblick an, wo es in Brunos Hände gelangte, heilig gehalten worden ist.«

Helenens Verwirrung war mit jedem Worte, das Oswald sprach, größer geworden. Purpurglut wechselte auf ihrem schönen Angesicht mit einer geisterhaften Blässe. Ihr Busen wogte; ihre Hand zitterte, als sie den Brief, den ihr der junge Mann überreichte und auf den sie nur einen Blick zu werfen brauchte, um ihn als denselben zu erkennen, den sie gestern morgen an Mary Burton geschrieben hatte, entgegennahm. Entsetzen über den schwarzen Verrat, den man an ihr geübt; jungfräuliche Scham, ihre innersten, geheimsten Gedanken schonungslos profaniert zu sehen; der Unwille, daß jemand, er sei, wer er sei, erfahren habe, wie sie von den Ihrigen, von ihrer eigenen Mutter schmachvoll behandelt worden sei – alles stürmte auf sie ein, wie ein Orkan, vor dessen Gewalt jeder Widerstand vergeblich ist.

Und dies letzte Gefühl des beleidigten Stolzes fand zuerst einen Ausdruck.

»Ich danke Ihnen«, sagte sie, sich zu ihrer ganzen stattlichen Höhe emporrichtend, »für Ihren Eifer, mir zu dienen. Indessen, Sie und Bruno haben der Sache, wie es scheint, ein weit größeres Gewicht beigelegt, als sie in der Tat verdient. Ich habe diesen Brief, weil einiges darin stand, was ich nach reiflicher Überlegung nicht gutheißen konnte, geflissentlich nicht abgehen lassen; ich werde ihn aus der Tasche verloren haben. Ich erinnere mich, daß ich gestern abend in der Nähe der Kapelle wir; ich –«

Weiter vermochte sie nicht zu sprechen die Tränen, die sie so lange zurückgehalten, brachen gewaltsam hervor, und rollten über ihre Wangen. Sie wandte sich ab, sie fühlte, daß sie sich nicht länger würde beherrschen können und winkte Oswald mit der Hand, sie allein zu lassen.

Oswald war vielleicht nicht weniger außer sich als Helene. Seine Liebe zu dem schönen, stolzen Mädchen, für das er so freudig sein Leben hingegeben hätte und von dem er jetzt so verkannt zu werden fürchten mußte, wogte wie ein freigewordener Quell in ihm empor und erfüllte seine Brust bis zum Zersprin gen. Er hätte ihr zu Füßen stürzen, ihr alles, alles, was er so lange vor ihr verborgen, gestehen mögen; aber er bezwang sich und sagte so ruhig wie er vermochte:

»Ich versichere Sie, mein gnädiges Fräulein, daß diese Szene Ihnen kaum peinlicher sein kann als mir selbst und daß ich sie um keinen Preis herbeigeführt haben würde, wenn mir Brunos fieberhafte Ungeduld, die ich durch eine Weigerung zu steigern fürchten mußte, eine Wahl gelassen hätte. Es ist mir schmerzlich, sehr schmerzlich, von Ihnen verkannt zu werden; ich ahnte es gleich, daß es Ihnen unmöglich sein würde, den Boten von seiner Botschaft zu trennen.«

Er verbeugte sich vor dem noch immer weinenden Mädchen sind wandte sich zu gehen.

»Nein, nein!« rief sie, wie, um ihn zurückzuhalten, die Hand nach ihm ausstreckend. »Sie dürfen so nicht gehen. Mögen es die verantworten, die mich zum Äußersten getrieben haben, wenn ich die Ehre meiner Familie, die Ehre der Meinigen preisgeben muß. Ja, Sie haben mir einen Dienst geleistet, einen großen Dienst. Dieser Brief ist nur durch Verrat in die Hände derer gekommen, die ihren Raub so schlecht zu bewahren verstanden. Dieser Brief trennt mich auf immer von den Meinigen; er soll mich nicht auch von Bruno trennen, den ich so herzlich liebe, von Ihnen, der Sie stets so gut und freundlich zu mir gewesen sind. Ich habe Sie immer für einen Freund gehalten, Sie immer hoch geschätzt und geehrt – wie hoch, das möge Ihnen dieser Brief selbst beweisen. Lesen Sie ihn! Wenn alle Welt weiß, wie ich über Sie denke, so dürfen Sie es am Ende ja wohl auch wissen.« Und das junge Mädchen reichte Oswald den Brief hin. Ihr Antlitz glühte, aber nicht mehr vor Zorn und Scham. Ihre dunkeln Augen leuchteten, aber wie einer Heldin, die sich für eine heilige Sache zu opfern im Begriff steht.

»Lesen Sie nur!« sagte sie mit einem eigentümlichen Lächeln, als Oswald sie ungläubig anstarrte. »Fürchten Sie nicht, daß es mich hinterher reuen wird. Ich weiß, daß Ihr Herz einer andern gehört, die seit gestern wieder in unserer Nähe ist. Bruno, der alles weiß, hat es mir verraten. Ich will von Ihnen nichts, als was ich schon habe – Ihre Freundschaft. Lesen Sie den Brief, und wenn Sie ihn gelesen haben, verbrennen Sie ihn in Gottes Namen.«

Ehe Oswald sich von seinem grenzenlosen Erstaunen über diese wunderbare Rede nur so weit erholen konnte, ein einziges Wort über die Lippen zu bringen, war das junge Mädchen schon die Treppe, die von dieser Stelle in den Garten führte, hinab und eilte durch die blumenreichen Beete dem Schlosse zu.

»Was ist das?« fragte Oswald bebend. »Narrt mich denn ein Traum? Melitta zurück? Und jetzt zurück – gerade jetzt!«

Es war ein schauerliches Lachen. Oswald sah sich erschrocken um, ob ein anderer gelacht habe – ein schadenfroher Dämon, der sich an seiner Qual weidete.

Er hielt den Brief noch immer in seiner Hand. Es war ihm, als ob er erst, wenn er diesen Brief lese, Melitta ganz verlieren, erst jetzt das letzte Band, das ihn an Melitta fesselte, zerreißen würde. Für einen Augenblick erschien ihm Helene wie eine schöne Teufelin, die an ihn herangetreten sei, ihn zu versuchen. Wenn er diesen Brief ungelesen verbrannte? Konnte dann nicht alles gut werden? Konnte ihm Melitta nicht doch erhalten bleiben?

Und indem er so dachte, hatte er den Brief entfaltet und ihn zu lesen begonnen.

Er war mit der Lektüre zu Ende und saß nun, den Kopf in die Hand gestützt, in der Ecke der Bank, auf die er sich, ohne zu wissen, was er tat, gesetzt hatte. Vor ihm auf dem Erdboden spielten die Lichter mit den Schatten; in den dichten Laubkronen über ihm flüsterte der Morgenwind und sangen die Vögel, in dem Garten unten wiegten sich bunte Schmetterlinge über den Blumenwäldern der Beete; er sah das alles, er hörte das alles, aber er empfand nichts dabei, nichts, als das eine, daß, wenn es ein Paradies auf Erden für ihn gegeben hätte, er jetzt auf immerdar daraus vertrieben sei.


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