Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtundfünfzigstes Kapitel

Wagen auf Wagen rollten durch das große Tor auf den Schloßplatz und hielten vor dem Portale still. Geputzte Damen und Herren stiegen aus und wurden von den Dienern vorläufig in die Garderobezimmer gewiesen, um einige Minuten später in der weitgeöffneten Flügeltür, die in die Gesellschaftsräume im Erdgeschoß führte, von dem alten Baron und Felix empfangen zu werden.

Nach und nach versammelte sich so ziemlich der gesamte Adel der Umgegend. Schon die glänzenden Equipagen, in denen man heute gekommen war – die meisten waren mit vier, einige sogar mit sechs herrlichen Pferden bespannt, Vorreiter in allen möglichen bunten Livreen nicht zu vergessen – noch mehr aber der gewählte Anzug der Herren, die glänzende Toilette der Damen bewiesen, daß man sich auf ein Fest im größesten Stil vorbereitet hatte. Man glaubte auch mit ziemlicher Gewißheit angeben zu können, um was es sich heute eigentlich handelte, hatten doch die Baronin und Felix es an Hindeutungen auf ein Ereignis, das möglicherweise in nicht allzu langer Zeit eintreten könnte, keineswegs fehlen lassen! Die Baronin und Felix hatten sich durch diese voreiligen Anspielungen, wie es schien, einen schlimmen Tag bereitet und sollten jetzt die Erfahrung machen, daß es viel leichter sei, den Mund der Fama zum Reden als zum Schweigen zu bringen. Sie hatten alle Mühe, die bedeutungsvollen Mienen der Bescheideneren, die zarten Andeutungen der Neugierigen, die direkten Fragen der Zudringlichen zu übersehen, zu überhören, ausweichend zu beantworten, und bei diesem Fegefeuer doch noch die offizielle gesellschaftliche Freundlichkeit und Höflichkeit zu bewahren. Die Gesellschaft schien im allgemeinen entschlossen, an dem Glauben einer Verlobung zwischen Felix und Helene festhalten zu wollen, und vertröstete sich auf die Abendtafel, wo man ja doch endlich mit der Wahrheit hervortreten werde. Nur einige Scharfsinnige wollten aus gewissen Anzeigen schließen, daß die Aussicht auf das bewußte Ende wohl nicht so ganz ungetrübt sei, wie die meisten anzunehmen schienen. Sie machten darauf aufmerksam, daß das Benehmen der Baronin heute um vieles förmlicher sei wie gewöhnlich, ja in manchen Augenblicken geradezu verlegen; daß der alte Baron außerordentlich zerstreut sei, und keineswegs den Eindruck eines glücklichen Familienvaters mache; und was das Brautpaar selbst betreffe, so sei es zum mindesten auffallend, daß Baron Felix sich unausgesetzt in großer Entfernung von seiner Cousine halte, und Fräulein Helene, obgleich sie sich nie durch große Lebhaftigkeit auszeichne, heute offenbar mehr wie eine schöne kalte Marmorstatue als ein junges Mädchen an ihrem Verlobungstage aussehe.

Die Aufmerksamkeit der Gesellschaft wurde für einige Zeit von diesem problematischen Brautpaare abgelenkt, als jetzt, nachdem die ganze Gesellschaft fast versammelt war, ein wirkliches Brautpaar erschien, dessen Verlobung in den letzten Tagen eine so ungemeine Sensation erregt hatte: Fräulein Emilie von Breesen an dem Arme Arthurs von Cloten. Das junge Paar hatte zwar schon die üblichen Visiten gemacht; aber die Nachbarschaft war groß. Zu einigen hatte man beim besten Willen noch nicht kommen können, andere hatte man zu seinem größten Bedauern nicht zu Hause getroffen – es gab noch eine Menge Gratulationen in Empfang zu nehmen und zu erwidern. Fräulein von Breesen, Herr von Cloten bildeten den Gegenstand und Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit hier im Kreise der Damen, dort im Kreise der Herren, Herr von Cloten schien überglücklich; er lachte und schwatzte unaufhörlich, und es schien ein halbes Wunder, daß von seinem blonden Schnurrbart auch nur ein einziges Härchen übriggeblieben war – so unausgesetzt wirbelte und drehte er ihn durch die Finger. Fräulein Emilie schien ihr Glück mit größerer Gelassenheit zu tragen; ja, jene Minorität der Scharfsichtigen wollte eine trübe Wolke auf ihrer Stirn bemerken, soviel Mühe sich auch ihr reizender Mund gab, freundlich zu lächeln; man behauptete, daß ihr Auge oft ruhelos über die Gesellschaft schweife, ohne auf ihrem glücklichen Bräutigam auch nur einen Moment zu verweilen.

Es gab heute überreichen Stoff zu pikanten Klatschereien.

Das Verhältnis von Clotens zu der ebenso liebenswürdigen wie gefährlichen Hortense von Barnewitz war in dieser Gesellschaft, in der es von Geschichtenträgern und Gebärdenspähern wimmelte, durchaus kein Geheimnis geblieben, und die letzte große Gesellschaft in Barnewitz, auf der es zwischen Cloten und dem Gemahl Hortenses zu einer so unerquicklichen Szene kam und Hortense die Unvorsichtigkeit beging, gerade in diesem Augenblick in Ohnmacht zu fallen, hatte den letzten dünnen Schleier von dem Verhältnis fortgezogen. Nun war man äußerst neugierig, zu beobachten, wie sich Hortense in ihren Verlust schicken werde, und vor allem, ausfindig zu machen, wen die blonde Menschenfischerin zum glücklichen Nachfolger ihres treulosen Galan erkoren habe. Die einen rieten auf den Grafen Grieben, die andern auf Adolf von Breesen. Beide bewarben sich eifrigst um die gefährliche Gunst der Circe. Für jenen sprach der Umstand, daß er ein verschmähter Bewerber der koketten Emilie, und als solcher ganz besonders zum Nachfolger Clotens sich zu qualifizieren schien: für diesen, daß er bei weitem der Hübscheste, Gewandteste und Kühnste der ganzen Schar war – lauter Eigenschaften, die die kluge Hortense sehr wohl zu schätzen wußte.

»Ich pariere auf Grieben«, sagte der junge Sylow, »zwölf Flaschen Champagner! Wer hält?«

»Ich«, rief von Nadelitz, »pah, da müßte ich Breesen nicht kennen!«

»Sechs Flaschen Reugeld bis zum Kotillon heute abend?«

»Ha, ha! Hört ihr's? Er verliert die Courage schon; aber angenommen; angenommen!«

»Wirklich ein famoses Weib, die Barnewitz!« sagte von Plüggen. »Ich wollte, ich stände auch auf der Kandidatenliste.«

»Nun, zu der Ehre ist leicht zu gelangen«, meinte ein anderer.

»Ich weiß nicht, was ihr an der Barnewitz findet«, sagte von Sylow. »Da ist doch die Berkow eine ganz andere Erscheinung. Ich wollte, die Berkow wäre hier.«

»Das wollten wohl noch mehrere!« sagte ein anderer. »Aber ihr wißt doch, daß Berkow tot und Melitta seit vorgestern zurück ist?«

»Eine alte Neuigkeit.«

»Auch daß sie sich in kurzem mit Oldenburg verloben wird?«

»Unsinn!«

»Ihr könnt euch drauf verlassen; ich habe es von der Barnewitz. Die wird es doch wohl wissen.«

»Kommt denn Oldenburg heute nicht?«

»Ich hörte von Felix, daß er zugesagt habe; aber Oldenburg hat ja seine besonderen Gewohnheiten.«

Melittas Rückkehr und der Tod Herrn von Berkows wurden nicht bloß im Kreise der Jüngeren lebhaft debattiert. Melitta war eine der gefeiertsten Damen der Gesellschaft und hatte trotzdem merkwürdigerweise wenig Neider und Feinde. Hin und wieder wurde ihr ein etwas exzentrisches Wesen, eine Neigung zum Besonderen, Ungewöhnlichen zum Vorwurf gemacht; dieser meinte, sie sei ihm zu gebildet; jener, sie kokettiere mit dem Liberalismus – aber im allgemeinen wurde ihre Liebenswürdigkeit, ihre Gutmütigkeit und Anspruchslosigkeit doch willig anerkannt; abgesehen davon, daß der Zauber ihrer Erscheinung über allen Widerspruch erhaben war. Man freute sich, daß sie endlich von dem Alp, der so lange auf ihrem Herzen gelastet, erlöst sei, und war äußerst begierig zu wissen, wen sie demnächst mit ihrer Hand beglücken werde. Denn daß eine so junge, lebenslustige Frau jetzt, da sie sich wieder frei fühlen durfte, nicht lange unvermählt bleiben könne, schien unzweifelhaft. In der allerletzten Zeit war, man wußte nicht recht durch wen, das Gerücht verbreitet worden, Baron Oldenburg habe bei weitem die meisten Aussichten; ja, ganz unter der Hand erzählte man sich, eine Intimität zwischen dem Baron und Melitta habe von jeher bestanden, und Herr von Berkow habe zu sehr gelegener Zeit den Verstand verloren. Man trug sich sogar mit gewissen Details aus der Geschichte dieses geheimnisvollen Verhältnisses, die, wenn sie begründet waren, den Ruf Melittas einigermaßen kompromittieren mußten. Man wußte nicht, von wem diese Gerüchte ausgegangen waren. Die scharfsichtigere Minorität meinte: von Hortense Barnewitz, und das Ganze sei eine Rache an Oldenburg für einen gewissen guten Rat, den er seinem Freunde Cloten vor einiger Zeit gegeben, und den Cloten so blindlings befolgt habe, daß er sich, als er die Augen auftat, zu den Füßen Emiliens von Breesen wiederfand.

Unterdessen war die achte Stunde, in welcher der Ball beginnen sollte, herbeigekommen. Die Baronin eröffnete ihn an der Hand des Grafen Grieben. Graf Grieben hatte trotz des schmetternden Kreischens seiner Stimme alle Mühe, die Musik zu überschreien, die auf seinen speziellen Wunsch voranging, da er auf den geistreichen Einfall gekommen war, die lange Reihe der tanzenden Paare nicht nur durch die Säle des Schlosses, sondern auch um den großen Rasenplatz und weiter in die dichtesten Teile des Gartens hinein und aus ihm wieder zurück in den Ballsaal zu führen, wo er die Polonäse mit einem feierlich langsamen Walzer schloß. »Das ist so gute alte Sitte, gnä'ge Frau!« kreischte er vergnügt der Baronin ins Ohr. »Mein Vater selig hielt's so und mein Großvater selig. Die Alten kannten den Rummel. Jugend hat keine Tugend. Meinen Sie nicht auch, gnä'ge Frau?«

»Jawohl, jawohl!« sagte die Baronin.

Tanz reihte sich an Tanz. Die Geigen quinkelierten, der Baß brummte dazwischen. Die Gesichter der Tänzer fingen an, sich zu erhitzen; die Damen begannen ihre Fächer häufiger zu benutzen; die Diener, die in den Pausen mit Erfrischungen umhergingen, sahen die Präsentierbretter immer schneller geleert – aber die rechte Lust wollte sich doch nicht entzünden; es war, als ob ein Schleier über der Gesellschaft hing.

»Weiß der Teufel, was das heute ist«, sagte der junge Grieben, sich die Stirn wischend, als er in einer der Pausen an eine Gruppe von Herren, die mitten im Saal stand, herantrat, »man tanzt sich fast die Beine ab, aber es geht nicht; man kommt nicht in Zug.«

»Nun, Sie können lange tanzen, bis Sie Ihre Beine abgetanzt haben«, sagte von Sylow, »aber Sie haben recht; ich habe schon ein paar Flaschen getrunken; je mehr ich trinke, desto melancholischer werde ich.«

»Mir geht es ebenso«, sagte ein dritter, »ich weiß nicht, woran es liegt; der Ball in Barnewitz neulich war viel amüsanter.«

»Woran es liegt?« sagte von Breesen. »Nun, ich dächte, das wäre klar genug. Der alte Baron sieht aus wie ein Hahn, wenn's regnet; die Baronin wie eine entthronte Hekuba – heißt ja wohl Hekuba? – Felix fängt mit jedem Händel an, der in seine Nähe kommt, und Fräulein Helene hat, glaube ich, den ganzen Abend noch nicht drei Worte gesprochen. Und dabei soll ein Mensch vergnügt sein? Mir ist, als ob eine Leiche im Haus wäre.«

»Nun, einen Kranken zum wenigsten gibt's«, sagte von Plüggen. »Der alte Baron erzählte mir's eben: Bruno liegt schon seit gestern zu Bett.«

»Deshalb ist auch wohl Doktor Stein nicht unten«, sagte Graf Grieben, »ich glaubte, er habe noch ein Exerzitium zu korrigieren und werde später erscheinen, ha, ha, ha!«

»Seien Sie still, Grieben«, meinte Hans von Plüggen, »Sie haben neulich ganz anders über den Doktor gesprochen.«

»Ich habe gesagt, daß er ein verdammter Geck ist, dem ich bei nächster Gelegenheit seinen Standpunkt klarmachen würde, und das sage ich noch.«

»Das ist wörtlich, was auch Felix vorhin sagte – der Doktor scheint ja im allgemeinen recht hübsch bei den Herren angeschrieben zu sein.«

»In desto höherer Gunst steht er bei den Damen«, bemerkte von Nadelitz ironisch.

»Jawohl«, sagte von Breesen, »er soll neulich auf dem Balle drei Schwestern auf einmal unglücklich gemacht haben.«

»Wenigstens haben sie sich nicht die Augen ausgeweint, wie man sich von Fräulein von Breesen erzählt«, erwiderte Nadelitz, den die Anspielung Breesens auf seine drei Schwestern ärgerte.

»Ich verbitte mir dergleichen!« sagte von Breesen auffahrend.

»Was einem recht ist, ist dem andern billig.«

»Ich habe keine Namen genannt.«

»Weil ohnehin jeder wußte, wen Sie meinten.«

»Aber, ihr Herren, tant de bruit pour une omelette!« sagte von Plüggen. »Ich glaube, ihr werdet euch noch dieses Menschen wegen in die Haare fahren, damit die, welche behaupten, daß er Fortune bei unseren Damen mache, doch ja recht behalten.«

»Wißt ihr schon das Allerneueste?« sagte von Cloten, plötzlich seinen blonden Schnurrbart in die Gruppe steckend.

»Nun?«

»Denkt euch, dieser Stein – doch st, da kommt Grenwitz – kein Wort, wenn ich bitten darf.«

»Nun, meine Herren«, sagte Felix, »wollen Sie nicht die Güte haben, zum Kontertanz anzutreten; ich habe schon zweimal das Zeichen geben lassen.« Felix sagte das in einem beinahe gereizten Tone. Sein sonst nicht gerade blühendes Gesicht war stark gerötet. Augenscheinlich hatte er der Flasche schon mehr als rätlich zugesprochen. Als der Tanz zu Ende war, fanden sich die Herren, die vorhin durch Felix' Dazwischenkunft in ihrer Unterhaltung gestört waren, wie auf Verabredung wieder zusammen.

»Nun, wo ist Cloten mit dem Allerneuesten?« fragte von Sylow.

»Hier!« sagte Cloten herantretend. »Denkt euch, dieser Stein – wir sind doch entre nous?«

»Ja, ja, nur weiter!«

»Hat die Frechheit, – nun ratet einmal mit wem? – ein Verhältnis anzuknüpfen –«

»Aber, Cloten, Sie sind unerträglich! Werden Sie endlich einmal mit Ihrer Neuigkeit zu Platz kommen?«

»Mit Helene Grenwitz«, sagte von Cloten in einem hohlen Geisterton.

»Nun, das wäre nicht übel«, sagte von Sylow.

»Das sieht dem Burschen ähnlich«, meinte von Grieben.

»Hinc illae lacrimae!« sagte Breesen.

»Und was das schönste ist«, fuhr Cloten fort, »Fräulein Helene hat gar nichts dagegen; au contraire, ist bis über die Ohren in ihn verschossen. Ist das nicht allerliebst?«

»Von wem hast du denn diese Mordgeschichte, Cloten?« fragte Adolf von Breesen.

»Aus sehr guter Quelle«, erwiderte Cloten mit einem bedeutungsvollen Zwinkern nach der Gegend des Saales, wo eben Emilie von Breesen, mit Helene sprechend, stand.

»Hm, hm!« sagte Breesen.

»Die Geschichte ist nicht unwahrscheinlich«, meinte von Sylow. »Nun erklärt sich die Leichenbittermiene, die Grenwitzens heut ohne Ausnahme machen.«

»Ich sagte ja gleich, daß hier irgend etwas los sei«, meinte von Breesen. »Es ist mir übrigens sehr lieb, daß ich mich mit dem Burschen nicht tiefer eingelassen habe, wozu ich anfänglich – ich gestehe es offen – wirklich einige Lust hatte. Der Mensch hat wahrlich etwas ungemein Bestechendes.«

»Er schießt famos«, sagte Sylow nachdenklich.

»Famos oder nicht«, sagte Cloten, »ich glaube gar, ihr Herren, wir lassen uns so viel von dem Menschen gefallen, weil er nicht schlecht schießt. Nein, ihr Herren, das geht nicht, geht wahrhaftig nicht! Ich schlage vor, wir suchen unsere Fehler wiedergutzumachen und behandeln den Menschen, wenn er sich wieder unter uns blicken läßt, mit der insignesten Geringschätzung – wahrhaftig!«

»Auf Ehre«, sagte Graf Grieben, »Cloten hat recht. Ich werde den Burschen das nächste Mal mit der Reitpeitsche traktieren.«

»Schade, daß er nicht hier ist, damit Sie Ihre Drohung gleich in Ausführung bringen können«, sagte von Breesen ironisch.

»Quand on parle du loup –« sagte von Sylow, »da kommt er ja! Und sein Pylades Oldenburg natürlich bei ihm.«

Wirklich zeigten sich in diesem Augenblick durch die weitgeöffnete Flügeltür Oswald und Oldenburg in dem Nebenzimmer. Sie sprachen einige Minuten miteinander; dann trat Oldenburg in den Saal, während Oswald von dem alten Baron draußen festgehalten wurde.


 << zurück weiter >>