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Es war drei Tage nach den Ereignissen dieser Nacht.
In der Frühe des Morgens hatte es geregnet; jetzt in den Vormittagsstunden blickte die Sonne auf Augenblicke aus den schweren Wolken, die sich lang und langsam vor einem feuchten Westwinde nach Osten ihr entgegenwälzten.
Auf dem Kirchhofe zu Faschwitz gingen in der Lindenallee, die von dem einen Ende bis zum andern führt sind die Gräber der Adeligen von denen der gewöhnlichen Sterblichen trennt, zwei Personen in ernsten Gesprächen auf und ab. Vor der einen Tür des Kirchhofs, aus der man unmittelbar auf die Landstraße gelangt, hielt eine mit zwei Pferden bespannte elegante Kutsche. Neben der Kutsche hin und her führte ein Reitknecht zwei schöne Pferde am Zügel. Kutscher und Reitknecht unterhielten sich nur im halblauten Ton, als ob sie den alten Mann mit dem langen eisgrauen Schnurrbart, der auf einem der Prellsteine an der Kirchhofstür saß und von Zeit zu Zeit die tiefliegenden ernsten Augen durch das Gitter der Tür auf die in dem Lindengange Auf- und Abwandelnden wandte, in seinen Betrachtungen nicht stören wollten.
Die Auf- und Abwandelnden waren Melitta und Oldenburg. Melitta war nicht in Trauer, aber ihr liebes schönes Gesicht hatte einen Ausdruck von Schwermut, den man wohl früher nicht darin gesehen hatte. Selbst das Lächeln, mit welchem sie manche Bemerkung ihres Begleiters beantwortete, war nicht das alte, freudige – es war wie die Sonnenblicke heute aus den trüben melancholischen Wolken.
»Und Sie wollen wirklich fort?« fragte sie, eine Pause, die in dem Gespräche eingetreten war, unterbrechend.
»Ich ritt nach Berkow hinüber, Ihnen meinen Abschiedsbesuch zu machen und Sie zu fragen, ob Sie noch irgend Befehle für mich hätten. Daß dies keine leere Form war, können Sie daraus sehen, daß ich Ihnen, als ich Sie nicht fand, hierher auf den Kirchhof gefolgt bin, obgleich Kirchen und Kirchhöfe, wie Sie wissen, durchaus nicht den Orten angehören, die ich mit Vorliebe aufsuche.«
»Und wohin wollen Sie diesmal Ihre Schritte lenken?«
»Ich weiß es noch nicht. Was soll ich hier? Da ich für die nicht leben kann, für die ich leben möchte, und da es in unserer engbrüstigen Zeit an jedem großen Zweck gebricht, an dessen Erreichung ein Mann sein Leben setzen könnte, so will ich denn auch, ein anderer Peter Schlemihl, meinen eigenen Schatten suchen gehen. Ich fürchte nur, daß ich ihn niemals wiederfinde, oder daß, wenn ich ihn finde, er sich wieder von mir trennt wie das letzte Mal.«
»Haben Sie Xenobis Spur nicht verfolgt?«
»Nein. Es würde mir auch nichts geholfen haben. Wandernde Zigeuner hinterlassen keine Spuren, so wenig wie ein Schiff, das durch die Wogen streicht. Wenn ich nicht wiederkommen sollte, Melitta, lassen Sie sich ihre Büste geben, die ich in Rom von dem jungen Goldoni anfertigen ließ und die jetzt in Cona in meinem Arbeitszimmer steht. Oder wollen Sie sie sogleich haben?«
»Nein«, sagte Melitta, »behalten Sie sie immerhin. Ihre unendliche Güte verdiente wohl einen besseren Lohn als kalten Marmor.«
»Oder Marmorkälte!« sagte Oldenburg lächelnd.
»Die empfinde ich nicht gegen Sie, Oldenburg«, sagte Melitta mit Wärme, »wahrhaftig nicht. Ich liebe Sie wie einen um ein paar Jahre älteren Bruder, der halb und halb Vaterstelle an uns vertreten hat und zu dem wir mit freudiger Verehrung und Dankbarkeit emporblicken. Es ist unser Schicksal, daß Sie mich mit einer anderen Liebe lieben müssen, daß ich Sie mit keiner anderen Liebe lieben kann.«
»Es ist unser Schicksal, Melitta, jawohl! Und nun lassen Sie uns nicht weiter davon sprechen. Gegen das Schicksal läßt sich nichts tun. Wir können nur das Haupt beugen und die Lorbeerkrone oder den Todesstreich schweigend entgegennehmen. Das habe ich in den letzten Tagen lernen können, wenn ich es sonst noch nicht gewußt hätte. Und nun, Melitta, da du mich selbst deinen Bruder genannt hast, laß mich auch wie ein Bruder mit dir sprechen. Darf ich?«
»Ja«, sagte Melitta, die den Kopf bei diesen letzten Worten Oldenburgs gesenkt hatte, leise nach einer kleinen Pause.
»Bekämpfe deine Liebe zu Oswald! Ich kann dir nicht raten, den Pfeil mit einem Ruck aus der Wunde zu ziehen, denn ich fürchte, dein Leben würde mit deinem Blute entströmen; aber sträube dich auch nicht gegen die Wirkungen der Zeit, die fast so allmächtig ist wie das ewige Schicksal. Du wirst nach einigen Wochen, einigen Monaten, gleichviel, aber du wirst in kurzem ruhiger über das alles denken; willst du mir, deinem Bruder, versprechen, diese ruhigeren und weiseren Gedanken nicht wie eine Versündigung an deiner Liebe von dir zu weisen?«
»Ja.«
»Denn, Melitta, er ist dir doch verloren, auch wenn er diese seine neueste Leidenschaft überwinden sollte. Er wird sich auf seiner tollen Jagd nach dem Ideal, das er nie auf Erden außer sich finden kann, weil es nur in seinem Hirn lebt, in eine andere und wieder in eine andere Liebe stürzen; immer wähnen: dies ist, wonach du bis jetzt vergeblich gesucht, und immer wieder das Trügerische dieser Illusion erkennen, bis er zuletzt in der Verzweiflung über sein Schlemihltum irgendeinen Schritt tut, der ihn aller weiteren Sorgen um die konfuse Welt überhebt. Die letzten Tage haben ihn diesem unvermeidlichen Ziele um ebenso viele Jahre näher gebracht.
»Wie steht es auf Grenwitz?«
»Felix ist jetzt außer Gefahr, obgleich man ihn in den ersten Stunden aufgegeben hatte. Er wird aber wohl sein Leben lang ein Invalide bleiben – eine schwere Strafe für jemand, der, wie er »geschwelgt in der Blumen Süßigkeit und jede Blume brach«. Oswalds Kugel hat nur um eines Haares Breite ihr Ziel verfehlt. Felix wird Brunos Tod sein Leben zu danken haben. Oswald hat während des Duells kein Wort gesprochen, seine Miene blieb unbeweglich; nur als Felix stürzte, flog eine Art von Lächeln über sein blasses Gesicht; er schien das Bild der vollkommensten Ruhe, und nur, wer ihn genauer betrachtete, sah, wie es in ihm wühlte, und bemerkte, daß von Zeit zu Zeit ein Fieberschauer durch seinen Körper zuckte. Er hatte sich bei der ganzen Affäre mit einem Takt benommen, der selbst der Schar seiner Gegner Achtung abnötigte. Sogar Cloten fühlte sich gedrungen, in die bewundernden Worte auszubrechen: ›Es ist wahrhaftig schade. daß der Mensch nicht von Adel ist.‹«
»Und Helene?«
»Sie reiste ein paar Stunden vor dem Duell mit ihrem Vater nach Sundin. Ich glaube, man will das Mädchen dort in einer Art anständiger Verbannung lassen, bis eine Aussöhnung mit der Mutter zustande gebracht werden kann. Die gute Frau ist vorläufig ganz außer sich, und nur die Vorstellungen Clotens und anderer, daß Felix durchaus der Beleidiger gewesen ist und durch sein Betragen das Duell unvermeidlich gemacht hat, haben sie verhindert, Himmel und Hölle und die ganze Polizei gegen Oswald in Bewegung zu setzen.«
»Und – Oswald?«
»Ich denke, er hat dir geschrieben.«
»Nichts über seine Pläne für die Zukunft.«
»Von denen weiß ich auch nichts. Wir haben kaum drei Worte miteinander gewechselt. Ich weiß nur, daß er, um den Ausgang des Duells abzuwarten, sich während dieser letzten Tage in Bergen beim Doktor Braun aufgehalten hat. Ich freue mich über diese Wahl seines neuen Freundes. Braun scheint ein ebenso liebenswürdiger wie geistreicher und verständiger Mann zu sein. Gebe der Himmel, daß er unserem Telemach ein weiserer Mentor ist, als ich ihm bei dem besten Willen zu sein vermochte. – Aber ich muß jetzt scheiden, Melitta. Mein Almansor schlägt sich sonst die Hufeisen ab. Hast du noch etwas hier zu tun?«
»Nein«, sagte Melitta, »wir können gehen.«
»Wirst du oft hierher zurückkehren?«
»Schwerlich. Ich habe nur sehen wollen, ob meinen Anordnungen Folge geleistet ist. Sie wissen am besten, daß der Tote hier schon seit langen Jahren nicht, ja daß er eigentlich nie für mich gelebt hat.«
»Dann laß uns gehen, Melitta.«
Der Baron nahm den Arm der jungen Frau und führte sie die Allee hinauf. Sie sprachen weiter kein Wort. Der alte Baumann öffnete den Schlag der Kutsche. Oldenburg hob Melitta hinein und stand einen Augenblick, den Hut in der Hand, an dem offenen Fenster. Als die Pferde anzogen, reichte ihm Melitta die Hand, die er an seine Lippen drückte. Er verweilte noch ein paar Minuten und sah dem davonrollenden Wagen nach. Dann winkte er dem Reitknecht, bestieg seinen Almansor und ritt im Galopp nach der entgegengesetzten Richtung.
Diese letzte Szene hatten zwei Männer beobachtet, die in demselben Momente, als Melitta und Oldenburg den Kirchhof verließen, durch die zweite Tür, die auf die Dorfstraße führte, eingetreten waren und auf ein frisches Grab, in der Nähe der Tür, auf der adeligen Seite, und auf ein etwas älteres auf der andern Seite, Kränze gelegt hatten. Es waren Oswald und Doktor Braun; beide in Reisekleidern. Sie standen Arm in Arm auf der Treppe der Kirche und sahen der Abschiedsszene zwischen Oldenburg und Melitta zu. Als der Baron Melittas Hand küßte, flog ein ironisches Lächeln über Oswalds bleiches, verfallenes Gesicht.
»Lassen Sie uns machen, daß wir fortkommen«, sagte er. »Mir ist, als brennte mir der Boden unter den Füßen.«
»Ich bin bereit«, sagte der Doktor. »Wenn es nach meinem Willen gegangen wäre, hätten Sie diese Gegend schon längst verlassen, und wenn es nach meinem Willen geht, kommen Sie nie wieder hierher zurück. Die Reise, die wir vorhaben, wird Sie wieder zu sich selbst bringen. Sie haben viel verloren, aber nichts, was sich nicht wieder gewinnen ließe. Sie haben Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft, verachtet; und doch ist für Sie nur Rettung zu hoffen von eben dieser Kraft, denn – Sie erinnern sich der Worte Ihres Lieblingsdichters:
– was Amor uns entwendet,
Kann Apoll nur wiedergeben:
Ruhe, Lust und Harmonien
Und ein kräftig rein Bestreben –
Kommen Sie! Lassen Sie die Toten ihre Toten begraben! Für Sie muß jetzt ein neues Leben beginnen.«
*