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»Wer zum Teufel war denn das«, sagte die eine Stimme – es war die Stimme des Baron Oldenburg – »war das nicht die schlanke Emilie? Wonach hat denn die kleine Menschenfischerin hier im trüben geangelt? – Aber jetzt, Barnewitz, sage ich mit Hamlet: Wo führst du mich hin? Red, ich geh nicht weiter. Zweimal habe ich schon in dem verdammten Clairobscur, das in diesen Räumen herrscht, meine freiherrlichen Schienbeine mit einem groben Schemelbein in unangenehme Berührung gebracht. Gott sei Dank, hier ist eine Causeuse: Eh bien, mon ami, causons!«
»Ich bitte dich, Oldenburg, sei für einen Augenblick ernsthaft«, sagte Herr von Barnewitz, und seine Stimme klang seltsam gepreßt, »mir ist wahrhaftig nicht lächerlich zumute.«
»Ihr seid seltsame Menschen! Du und deinesgleichen. Ihr glaubt, ein ehrlicher Kerl könne kein ernsthaftes Wort vorbringen, ohne eine Leichenbittermiene dabei zu machen. Der Humor ist euch ein unbekannter Luxus. Nun wohl, mein ernsthafter Freund, was hast du?«
»Höre, Oldenburg –«
»Still, wir sind doch hier unbelauscht? Mir war, als hörte ich eine Ratte hinter den Tapeten!«
»Es war nichts.«
»Eh bien, so verkünde mir in möglichst verständlichen Worten deine Trauermär.«
Die Stimme der Redenden wurde leiser, aber nicht so sehr, daß Oswald nicht jedes Wort deutlich hörte. Er verwünschte seine Situation, die ihm die Rolle des Lauschers aufzwang; aber er sah keine Möglichkeit zu entrinnen. Da Oldenburg Fräulein von Breesen erkannt hatte, würde er die Ehre dieser jungen Dame preisgegeben haben, wäre er jetzt aus seinem Versteck hervorgekommen. Er versuchte, ob er nicht geräuschlos das Fenster öffnen könne, um mit einem kühnen Sprunge über die Stachelbeerhecke fort, die sich darunter hinzog, in den Garten, und von dort durch die offene Tür des Ballsaales in diesen zurückzugelangen, aber er stand von diesem Vorhaben, als zu gewagt, ab, und ergab sich, nicht ohne heimlich seinen Unstern zu verwünschen, in die halb lächerliche, halb ärgerliche Situation.
»Oldenburg«, sagte Barnewitz, »hat dich Cloten gebeten, ihn zu meiner Frau zu setzen, oder war es bloß ein Einfall von dir?«
»Wie kommst du auf diese seltsame Frage?«
»Gleichviel! Beantworte sie mir nur.«
»Nicht, bevor ich weiß, wo dies alles hinaus soll!«
»Ich will eine Antwort und keine Ausflucht«, sagte der wütende Edelmann.
»Euer Drohen hat keine Schrecken, Cassius«, antwortete Oldenburg mit einem Tone, dessen königliche Ruhe sonderbar mit dem heisern, leidenschaftlichen Ton der Stimme des andern kontrastierte. »Ich sage dir noch einmal, Barnewitz, entweder du sagst mir, was meine Aussage in dieser Sache für eine Bedeutung hat, oder ich verweigere, dir Rede zu stehen.«
»Nun wohl, die Sache ist kurz und bündig die: Cloten liebt Hortense!«
»Oh, und vice versa: Liebt deine Frau auch diesen liebenswürdigen Jüngling?«
»Der Teufel soll ihn holen.«
»Ein höchst christlicher Wunsch, dem ich mich von ganzem Herzen anschließe. Seit wann spielt dieses romantische Verhältnis?«
»Seit wir von unserer Reise zurück sind.«
»Und welche Beweise hast du?«
»Tausend!«
»Und was gedenkst du zu tun?«
»Herr Gott des Himmels, Oldenburg, du fragst, als ob es sich um eine Whistpartie handelte! Umbringen will ich den Schuft, mit der Hetzpeitsche will ich ihn von meinem Hofe jagen, ihn und seine Mätresse!«
»Bon! Und willst du mir einen dieser tausend Beweise nennen?«
»Nun, ich dächte, der heutige Abend wäre Beweis genug. Erst läßt sie sich von ihm zu Tische führen, hernach kokettiert sie mit ihm auf eine unverschämte Weise
»Halt, wer hat dir das gesagt?«
»Der junge Grieben.«
»Dann sage dem jungen Grieben, daß er sein Spatzengehirn zu etwas Besserem verwenden könnte, als so alberne Geschichten zu erfinden und sie dir zuzutragen. Ich habe näher gesessen als er und bin mindestens kein schlechterer Beobachter, und ich sage dir, daß deine Frau und Cloten sich über Tische so anständige benommen haben, wie – man es nur von einem Edelmann und einer Edelfrau erwarten kann. Und dann bedenke doch gefälligst, daß das ganze Arrangement nur ein Einfall, und, wie ich jetzt sehe, ein schlechter Einfall von mir war.«
»Ich kann mich darauf verlassen, Oldenburg?«
»Ich meine gewöhnlich, was ich sage.«
»Aber es ist doch wahr!« knirschte von Barnewitz.
»Lieber Freund, ich kann darüber gar nicht urteilen, und du würdest mich also ausnehmend verbinden, wenn du mich aus dem Handel ließest. Willst du aber meinen freundschaftlichen Rat, so steht er dir gern zu Diensten.«
»Was soll ich tun?«
»Deine Hetzpeitsche an der Wand hängen lassen, und auf jede Weise einen Skandal vermeiden, in dem sich derjenige immer am meisten blamiert, auf dessen Kosten der ganze Spektakel schließlich aufgeführt wird, c'est à dire: der Ehemann. Sodann rate ich dir, zu bedenken, daß unsere chronique seandaleuse überreich ist an dergleichen Geschichten und daß, wenn alle gekrönten Häupter unter uns bei jedem neuen Ende, das ihrem Schmucke angesetzt wird, zur Hetzpeitsche greifen wollten, schließlich keine Seiler und Riemer im Lande mehr aufzutreiben sein würden. Drittens erlaube ich mir, dir den unmaßgeblichen Rat zu erteilen: Schaffe die Hälfte von deinen Jagdhunden und deine sämtlichen Mätressen ab. Lasse die Hasen ihren Kohl in Ruhe fressen und die Bauernbengel ihre Schätze in Frieden küssen; bekümmere dich mehr um Hortense, die wie alle Frauen nichts Besseres verlangt, als geliebt zu werden, und die eine viel zu kluge Dame ist, als daß ihr, wenn sie die Wahl zwischen dir und Cloten hat, deine Vorzüge nur einen Augenblick verborgen bleiben könnten. Und schließlich, laß uns wieder unter Menschen gehen, denn dieses philosophische Gespräch in dem mystischen Halbdunkel hat mich außerordentlich angegriffen, und mich verlangt herzinnig nach einem Glas Champagner.«
»Ja, das ist wahr«, sagte der halb betrunkene Barnewitz, »ich bin ein ganz anderer Kerl als dieser verdammte Hasenfuß, dieser Cloten. Und Hortense weiß das auch recht gut, ha, ha, ha! 's ist auch wahr: Ich habe in der letzten Zeit ein bißchen flott gelebt. Weißt du, unsere italienische Reise hat mich eigentlich so liederlich gemacht. Die verdammten Weibsen mit ihren schwarzen glänzenden Augen – Ja und à propos, glänzende Augen. Was ich dich immer fragen wollte: Ist es denn jetzt ganz vorbei mit dir und der Berkow?«
»Mit mir und Frau von Berkow? Welch tolle Blasen treibt denn dein Gehirn nun schon wieder? Was soll vorbei sein zwischen ihr und mir?«
»Aber Oldenburg, du wirst einem alten Fuchs wie mir doch nicht einreden wollen, daß du die süßen Trauben nur immer fein säuberlich aus der Ferne bewundert hast?«
»Höre, mein Schatz«, sagte Oldenburg, und seine Stimme klang scharf wie ein zweischneidiges Messer, »du weißt, ich verstehe Scherz wie einer; wer es aber wagt, Melittas Ehre zu begeifern, beim allmächtigen Gott, er stirbt von meiner Hand.«
»Nun sieh; wie heftig du gleich wieder wirst.«
»Ich heftig? Ich bin so kühl wie Champagner in Eis. – Ja, was ich sagen wollte, versprich mir, Barnewitz, daß du weder heute, noch morgen, überhaupt nicht, bevor du mit mir Rücksprache genommen, etwas in dieser Angelegenheit tust; vor allem dir gegen deine Frau nicht das mindeste merken läßt; hörst du, Barnewitz, nicht das mindeste.«
»Ja, der gute Rat kommt nur zu spät«, sagte Barnewitz, »ich habe schon im Vorübergehen ein paar Worte gegen Hortense fallen lassen; ich sage dir: sie wurde bleich wie die Wand. Der verdammte Halunke!«
»Das war sehr unrecht und sehr unritterlich, mein Ritter von der traurigen Gestalt«, sagte Oldenburg, »alte Weiber schwatzen, Männer handeln; solche Szenen zwischen einem heulenden Weibe und einem polternden Ehemanne finde ich über alle Begriffe plebejisch und gemein, und das Bewußtsein, daß wir im Rechte, der andere im Unrechte ist, sollte uns doppelt mild, zartfühlend und nachsichtig machen. Im Unrecht sein, und es noch dazu eingestehen müssen, ist an sich schon Unglück genug.«
»Ach Oldenburg, das ist alles für mich zu hoch. Und dann, du kennst die Weiber nicht, wenn du glaubst, sie nehmen sich dergleichen so sehr zu Gemüt. Zum einen Ohr hinein, zum andern wieder heraus. Komm, Oldenburg, und überzeuge dich, ob du Hortense ansehen kannst, daß ich ihr vor zehn Minuten gesagt habe, ich würde Cloten die Knochen im Leibe entzweischlagen, wenn die verdammte Geschichte nicht sofort ein Ende nähme.«
»Ja, ja, du bist der wahre Othello! Und ich in meiner gutmütigen Dummheit versuche diesen brutalen Mohren zu einem zivilisierten Europäer zu waschen! Quelle bêtise!«
Als Oswald die Stimmen der Redenden nicht mehr vernahm, und die Musik, die aus dem Saale herübertönte, zeigte, daß der Tanz wieder begonnen hatte, kam er aus seinem Versteck hervor. Er vermutete, daß diese Flucht von Zimmern auf einem langen Korridor enden müsse, den er beim Hinaufgehen in den Speisesaal bemerkt hatte. Er hatte sich nicht getäuscht. Schon aus dem nächsten Zimmer führte eine Tür auf den Korridor. Aus ihm gelangte er auf den Hausflur und von dort, ohne irgend Aufsehen zu erregen, in den Empfangssaal und die Gesellschaftszimmer. Hier und da wurde noch gespielt, aber die meisten Herrschaften hatten sich nach dem Ballsaale begeben, wo demnächst der Kotillon getanzt werden sollte. Dahin begab sich denn auch Oswald. Sein Auge suchte und fand alsbald Emilie von Breesen. Er traute seinen Augen kaum, so ganz schien sie ihm verwandelt; aus dem wilden Mädchen von heute nachmittag war eine Jungfrau geworden. Sie erschien ihm größer und bedeutender; ihr vorher rosiges Antlitz war jetzt bleich, aber ihre Augen leuchteten mit einem ganz ungewöhnlichen Feuer, und für die Scherze ihres Tänzers hatte sie kein Lächeln mehr. Sobald sie Oswalds ansichtig wurde, zuckte ein Freudenblitz über ihr Gesicht. Eifrig wandte sie sich zu ihm, als er in ihre Nähe trat.
»Auf ein Wort, Herr Doktor!« – und dann im leisen Ton: »Ich tanze den Kotillon mit Ihnen, ich weiß, Sie sind noch nicht engagiert; ich habe den Grafen Grieben so zur Verzweiflung gebracht, daß er soeben mit seinen Eltern fortgefahren ist. Er vermutet wahrscheinlich, das werde großen Eindruck auf mich machen, der Narr! Entschuldigen Sie, Herr von Sylow, ich bin noch zu angegriffen. Tanzen Sie eine Extratour mit meiner Cousine. Sie schmachtet nach Ihnen. – Gott sei Dank, daß er fort ist! – Oswald, liebst du mich? Liebst du mich wirklich? Ich kann es kaum glauben. Mir schwindelt der Kopf; ich möchte laut aufjauchzen vor Wonne. Oh, bitte, bitte, sieh mich nicht so an, ich muß – muß dir sonst um den Hals fallen und dich küssen wie vorhin. Bist du mir bös, Oswald? Es war wohl recht schlecht von mir. Aber sieh, ich konnte nicht anders. Warum sprichst du nicht, Oswald?«
»Weil es so süß ist, Ihrem Geplauder zuzuhören.«
»Ich hin wohl ein rechtes Kind, nicht wahr? Aber warum nennen Sie mich nicht du?«
»Glaubst du denn, Holde, daß man nur die liebt, die man du nennt?«
»Nein, aber daß man die du nennt, die man liebt. Oh, ich finde dies du so himmlisch. Gott sei Dank, der Tanz ist zu Ende. Komm, wir wollen uns einen guten Platz suchen, den dort in der Ecke am Fenster.«
Die Herren waren eifrig beschäftigt, nach den vorher mit ihren Damen eingeholten Instruktionen die Stühle zu arrangieren; schon war der Kreis fast geschlossen, als plötzlich durch das Plaudern und Lachen der übermütigen Jugend, und das Quinquilieren der armen gequälten Musiker auf ihren seit einiger Zeit sehr widerspenstigen Instrumenten, und das Klappern der Gläser und Tassen auf Präsentiertellern und in den Händen der Durstenden – Stimmen aus dem Nebenzimmer ertönten, die nichts weniger als festlich klangen – laute, von Wein und Wut heisere Stimmen, drohende Worte hinüber und herüber – nur ein paar Worte, aber gerade genug, um wenigstens alle, die sich auf dieser Seite des Saales befanden, für einen Moment aus ihrem Freudentaumel aufzuschrecken. Freilich auch nur für einen Moment, denn ein mit unfeinen Worten geführter Streit war der hier versammelten Gesellschaft nichts Unerhörtes und dauerte nicht immer so kurze Zeit wie diesmal. Auch dieser Vorfall würde, wie so viele andere ähnliche, kein weiteres Aufsehen erregt haben, wenn nicht ein zweiter Vorfall, der sich in dem Ballsaale ereignete, dem ersteren eine eigentümliche und für die Scharfsinnigeren wenigstens keineswegs rätselhafte Bedeutung gegeben hätte. Kaum waren nämlich die drohenden, heiseren Stimmen nebenan von einer dritten, die eine große Autorität über die trunkenen Lapithen ausüben mußte, zum Schweigen gebracht, als Hortense von Barnewitz, die mit dem jungen Herrn von Süllitz den Kotillon tanzen sollte, den Arm dieses Herrn faßte, der, ihre Blässe bemerkend, schnell einen Stuhl herbeizog, auf dem sie ohnmächtig niedersank. Die Bestürzung der Gesellschaft war natürlich sehr groß. Trotzdem, daß ein Dutzend Riechfläschchen sofort zur Hand waren, und mit ihrem Inhalt die Stirn, die Augen, die Schläfe der schönen Ohnmächtigen reichlich benetzt wurden, dauerte es noch einige Minuten, bis Hortense nur so weit zu sich kam, um mit blassen Lippen den sie umgebenden Damen ihren Dank zuzulächeln, und sie mehr mit Blicken als mit Worten zu bitten, sie aus dem Ballsaale zu führen, was denn auch alsbald geschah. Die Zurückbleibenden sahen einander an, als wenn sie fragen wollten, was hatte denn das zu bedeuten?
»Mit dem Balle ist es nun wohl vorbei?« fragte Adolf von Breesen, der mit seiner jungen Cousine Lisbeth, die er anbetete, zum Kotillon engagiert war, kleinlaut Oswald, der neben ihm stand.
»Ich fürchte, ja«, antwortete dieser.
»Wir tanzen doch weiter?« fragte eine dritte Stimme.
»Unmöglich«, sagte Herr von Langen, »ich habe schon anspannen lassen.«
»Was war denn das eigentlich vorhin für eine Geschichte zwischen Barnewitz und Cloten?« fragte ein anderer.
»Was wird's sein? Sie haben beide ein Glas über den Durst getrunken. Das ist alles«, sagte von Langen.
»Es sollte mich sehr freuen, wenn das alles wäre«, sagte von Breesen, »aber ich fürchte, dahinter steckt mehr. Ich hörte, daß Cloten über Hals und Kopf davongefahren ist.«
Herr von Barnewitz erschien an Oldenburgs Seite in dem Ballsaal. Das Gesicht des Barons war so ruhig wie immer, aber das des andern Edelmanns war von Aufregung, Zorn und allzureichlich genossenem Wein purpurrot; seine Augen schwammen, und seine Stimme war etwas lallend, als er jetzt den Herren, die ihm in den Weg kamen, zuredete, den Ball fortzusetzen.
»Aufhören, nach Hause fahren – dummes Zeug – lasse keinen Menschen vom Hofe – Heda! Champagner hierher! – Nach Hause? Warum? Meine Frau wird alle Augenblicke ohnmächtig, mit und ohne Grund – da könnte ich gar keine Gesellschaft geben. Musik anfangen!«
Aber trotz dieser gastfreundlichen Worte, deren Wirkung durch das allzusichtlich aufgeregte Wesen des Sprechenden wesentlich beeinträchtigt wurde, und trotz der ersten Töne der Instrumente, die mit einem schauerlichen Akkord einsetzten, waren nur sehr wenige bereit, den unterbrochenen Ball wieder aufzunehmen. Alle übrigen fanden plötzlich, daß es schon sehr spät sei, daß man zu lange bei Tisch gesessen habe, daß es unverantwortlich wäre, ein Fest nicht zu beenden, an dem die Wirtin selbst nicht mehr teilnehmen könnte – und was dergleichen Phrasen denn mehr sind, durch die eine Gesellschaft, die einmal aufbrechen will, ihren Rückzug zu motivieren sucht. Schon hörte man einen Wagen nach dem andern vorfahren. Mütter suchten ihre Töchter, diese ihre Schals und Tücher – überall ein Aufbrechen, Abschiednehmen, hier ein übermütiger Scherz, dort eine böswillige Bemerkung, hier ein verstohlenes Liebeswort. – Oswald sah nicht viel anderes als die Gestalt des hübschen, leidenschaftlichen Kindes, das ihm so schnell so teuer geworden war.
Hatte er doch noch vor wenigen Minuten ihre Lippen geküßt, sah er doch ihre jungen, strahlenden Augen voller Seligkeit zu sich aufgeschlagen, vernahm er doch ihre leise, liebedurchglühte Rede. Was Wunder, wenn er in der kurzen Frist, die ihm mit dem süßen Kinde noch beisammen zu sein vergönnt war, Liebe für Liebe gab; wenn er dem Augenblicke, der sie trennen würde, mit kaum geringerer Angst entgegensah als das Mädchen selbst, das bei der Ankündigung, der Wagen sei vorgefahren, fast in Tränen ausbrach. Emilie hatte den Augenblick, wo Oswald sie nach dem Tanze zu ihrer Tante zurückführte, wahrgenommen, ihn dieser Dame, die bei ihr Mutterstelle vertrat, vorzustellen. Ein paar gewandte, witzige Worte hatten ihn schnell bei der Matrone, die mit dem besten Herzen von der Welt gern auf Kosten anderer lachte, in Gunst gesetzt. Auch sie lud Oswald ein, doch ja recht bald einmal nach Candelin (dem Gute von Emiliens Vater, der Vater litt für den Augenblick an der Gicht und hatte deshalb zu Hause bleiben müssen) herüber zu kommen.
»Ja, und dann wollen wir etwas nach der Scheibe schießen«, sagte Adolf von Breesen, der herantrat, um den Damen anzukündigen, daß der Wagen da sei. »Ich lade noch ein paar Herren dazu, damit Sie sich nicht allzusehr bei uns langweilen.«
»Ich besitze das Talent, mich zu langweilen, nur in einem sehr bescheidenen Maße, und überdies glaube ich, daß die Gegenwart dieser Damen, und Ihre eigene, Herr von Breesen, ein besseres Präservativ gegen diese Krankheit ist als eine Gesellschaft von hundert Personen«, sagte Oswald mit höflicher Verbeugung.
»Siehst du, Adolf«, rief die lebhafte alte Dame, »Herr Stein sagt dasselbe, was ich dir schon tausendmal gesagt habe: nur langweilige Menschen langweilen sich; zum Beispiel du und deine Schwester, die ihr jeden Tag hundertmal vor Langerweile sterben wollt.«
»Ich langweile mich nie, Tante«, rief Fräulein Emilie eifrig.
»Kind, du beginnst irre zu reden, es ist die höchste Zeit, daß wir nach Hause kommen. Also au revoir, Monsieur.«
»Ich bitte um die Gnade, Sie bis zum Wagen begleiten zu dürfen«, sagte Oswald, der alten Dame den Arm bietend.
»Vous êtes bien aimable, Monsieur«, erwiderte sie, den dargebotenen Arm nehmend. »Sind Sie überzeugt, Herr Stein, daß Sie nicht von Adel sind?«
»Wie von meinem Dasein, gnädige Frau. Weshalb?«
»Hm; Sie haben in Ihrem ganzen Wesen etwas Chevalereskes, das man heutzutage nur selten und nur bei unsern jungen Leuten aus den besten Familien findet. Adolf kann in dieser Hinsicht noch sehr viel lernen. Hörst du, Adolf?«
»Ich höre stets auf das, was Sie sagen, liebe Tante«, antwortete der junge Mann, der mit seiner Schwester folgte, »auch wenn ich, was Sie sagen, schon ein oder das andere Mal von Ihnen gehört haben sollte. Emilie, Kind, wo hast du denn die Augen, du wärst um ein Haar unter das Rad gekommen!«
Die Damen waren eingestiegen, Adolf von Breesen gab dem Kutscher auf dem Bocke noch eine Instruktion über den einzuschlagenden Weg. Oswald stand an der geöffneten Tür, die Tante hatte sich schon bequem in ihrer dunkeln Ecke zurechtgesetzt, Emilie hatte sich etwas nach vorn gebeugt. Das Licht von den Laternen auf dem Bocke und vor der Haustür fiel auf ihr Gesicht. Ihre Blicke hingen unverwandt an Oswald; aber sie sah ihn wohl kaum, denn ihre großen Augen waren von Tränen verschleiert; sie wagte nicht zu sprechen, aber ihr leise zuckender Mund war beredt genug. Ihr Bruder sprang in den Wagen und zog die Tür hinter sich zu. Fort! Die Pferde zogen an. Eine kleine Hand in weißem Handschuh winkte aus dem Fenster. Das war das letzte Liebeszeichen. Im nächsten Augenblick stand ein anderer auf dem Platze.
Oswald kehrte in das Haus zurück. Die Gesellschaft war schon sehr zusammengeschmolzen; unter den wenigen, die noch da waren, und, in Mäntel und Schals gehüllt, auf ihre Equipagen warteten, war niemand von denen, die Oswald im Lauf des Tages näher kennengelernt hatte. Herr von Langen war der erste gewesen, der aufgebrochen war, nachdem er seinen neuen Freund auf das dringendste wiederholt zu einem Besuche aufgefordert hatte. Oswald hatte sich draußen erkundigt, ob der Wagen von Grenwitz wieder da sei, aber eine verneinende Antwort erhalten. Je mehr die Gesellschaft sich lichtete, desto unangenehmer wurde ihm dies ganz unbegreifliche Ausbleiben. Er sah schon im Geiste, wie er der letzte von allen sein würde, und hatte schon beschlossen, lieber vorher zu Fuß aufzubrechen, als schließlich auf die Gastfreundschaft des Herrn von Barnewitz angewiesen zu sein. Da kam der Baron Oldenburg aus dem Nebenzimmer und schien jemand mit den Augen zu suchen. Sobald er Oswald bemerkte, lenkte er seine Schritte auf diesen zu.
»Wie ist es, Herr Doktor«, sagte er, »ich dächte, es wäre Zeit, nun abzufahren.«
»Ich wäre schon auf und davon«, antwortete Oswald, »nur fehlt es mir vorläufig noch an Roß und Wagen; ich vermute, daß des Barons Kutscher und Pferde, die mich abholen sollen, unterwegs eingeschlafen sind.«
»Ich mache mir ein besonderes Vergnügen daraus, Ihnen einen Platz in meinem Wagen anzubieten«, sagte der Baron. »Der kleine Umweg, den ich machen muß, um Sie vor dem Tore in Grenwitz abzusetzen, wird mir durch das Vergnügen Ihrer Gesellschaft doppelt und dreifach entschädigt.«
»Ich nehme Ihr freundliches Anerbieten mit Dank an.«
»Eh bien, partons!«
Auf dem Flure trafen sie Herrn von Barnewitz, der augenscheinlich seinen Pflichten als Wirt nur noch mit der größten Mühe nachkam. Seine Augen waren blutunterlaufen, seine Stimme war auf eine unangenehme Weise rauh und heiser. Er schwatzte allerlei tolles Zeug durcheinander, während er den einzelnen Gästen, die er bis an den Wagen begleitete, eine höfliche Phrase mit auf den Weg zu geben bemüht war. »Wollen schon fort – na, bleiben Sie gut nach Hause – Johann! Deinen Wagen für Frau von Poggendorf – gnädige Frau müssen noch einen Augenblick anspannen lassen. Empfehle mich Ihrem Herrn Gemahl! Ah! Poggendorf, alter Junge, hatte dich gar nicht gesehen, laß deine Frau in Teufels Namen allein fahren, wollen Glas Champagner – Oldenburg, Doktor, auch schon fort? – Unsinn! Freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen – Schießen wie der Teufel – Ist recht, daß Sie den Cloten blamiert haben – Ist ganz recht; bist ein famoser Kerl, Doktor (zärtliche Umarmung), bist mein Herzensfreund (Schluchzen), mein bester Freund (neue Umarmung), hättest ihn totschießen sollen, den Halunken.«
»Komm, Barnewitz, ich habe dir etwas mitzuteilen«, sagte der Baron, Herrn von Barnewitz ziemlich derb auf die Schulter schlagend und ihn ein paar Schritte von dem Wagen fortführend. »Entschuldigen Sie auf eine Minute, Herr Doktor; Karl! Platz machen, daß die andern Wagen vorfahren können.«
Die beiden gingen eine Weile im Gespräch auf und ab, bald in dem Dunkel des Hofes fast verschwindend, bald in den lichten Kreis, der das Haus umgab, tretend. Oswald konnte sich wohl denken, wovon zwischen den beiden die Rede war. Ein paarmal erhob Herr von Barnewitz seine Stimme, aber er senkte sie auch alsbald wieder vor einem St! oder bist du nicht gescheit? Oldenburgs, wie eine wilde Bestie in der Menagerie aufbrüllt und sofort schweigt, wenn der Blick oder die Peitsche des Herrn sie trifft. Dieser Mann übt eine magnetische Gewalt über die andern aus, sagte Oswald bei sich, während er die lange Gestalt des Barons neben dem um einen Kopf kleineren Barnewitz wie das personifizierte Gewissen neben einem armen Sünder hin und her schreiten sah – ich selbst verspüre schon seine Einwirkung. Es ist ein Dämon in dem Manne, ein Dämon, den man entweder lieben oder hassen, oder vielmehr lieben und hassen muß, denn ich möchte diesen Menschen gern hassen und kann es nicht. Und was hat er dir denn auch schließlich getan? Wenn er Melitta noch immer liebt, wie ich glaube, so bin ich für ihn ein schlimmerer Feind als er für mich. Aber warum hat mir Melitta nicht gesagt, wie ihr Verhältnis mit dem langen Gespenst dort war und ist? Ich hätte sie heute nicht gekränkt. Arme Melitta! Wie sie mich ansah – und was würde sie sagen, wenn sie die Szene in der Fensternische gesehen hätte? – Das süße, herzige Mädchen! – Und auch ihre Augen waren voll Tränen, als sie im Wagen saß und mich so unverwandt anblickte. Oh, wer könnte so grausam sein, die Liebe dieses holden Geschöpfes zurückzuweisen? Und dennoch:
All dies Neigen von Herzen zu Herzen
Ach, wie so eigen schaffet es Schmerzen. |
Heiliger Goethe, bitt' für mich! Du hast ja auch die Lilie nicht verschmäht, weil die Rose so schön ist, und deshalb umgibt nun ein Kranz von Rosen und Lilien dein ambrosisches Haupt. Du hättest die kleine Emilie an dein großes Herz genommen und hättest ihr sanft die üppigen Haare aus der Stirn gestreichelt und hättest sie zärtlich auf die zärtlichen Augen geküßt. Oh, ihr ewigen Sterne, wie reizend das Kind in dem Augenblicke war! Denn alles in allem ist es doch nur ein Kind, und morgen wird sie in ihrem Daunenbettchen erwachen und glauben, daß sie die Szene in dem Erker geträumt hat.
So suchte Oswald sein Gewissen zu beschwichtigen – für den Augenblick gelang es ihm auch.
»Darf ich jetzt bitten einzusteigen, Herr Doktor?« rief der Baron, der mit Herrn von Barnewitz herantrat. »Es bleibt also dabei, Barnewitz?«
»Verlaß dich darauf!« sagte dieser, dem die Unterredung mit seinem Mentor und die kühle Nachtluft sehr wohlgetan zu haben schienen. »Verlaß dich drauf. Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß ich –«
»St! Sitzen Sie bequem, Herr Doktor? Adieu, Barnewitz! Fort, Karl!«