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In dem Wartesaale zweiter Klasse des Lehrter Bahnhofes saßen an einem Tischchen, nicht weit von der zu dem Bahnsteig führenden Thüre, die verwittwete Frau Emilie Lahmann und ihre beiden Töchter Pienchen und Hille. Auf dem Tische lagen neue Handtäschchen von jener Art, wie sie eilig und unhöflich in Dreimarksbazaren verabfolgt werden, daneben auf einem Stuhle mit neuen Riemen umschnallte neue Plaids. Den drei grauen leichten Stoffmänteln der Damen sah man an, daß sie soeben der Nähmaschine entrissen, und die Hüte hatten alle drei dieselben vorstehenden kohlenschippenartigen Ränder, welche kürzlichst aufgekommen waren. Frisch eingekleidet, machten Mutter und Töchter, im Gegensatze zu der praktischen Schäbigkeit gewohnter Eisenbahnfahrer, den Eindruck jungfräulicher Reiseneuheit.
»Wir werden uns zu Dritt noch ein Glas Echtes bezähmen,« sprach die Mutter. »Hille, mein Kind, geh und bestell eins.«
Hille ging an die Schenke. Ihre Stiefel trampsten; die waren auch neu.
»Es wird Dir gut thun,« wandte sich die Mutter an Pienchen, »Du siehst wieder mächtig miesepeterig aus.«
»Der Schreck von vorhin,« erwiderte Pienchen. »Wenn wir nun nicht mitgekommen wären? Die kleinste Aufregung zittert lange in mir nach. Wo hattest Du denn das Portemonnaie eigentlich?«
»Hinten im neuen Kleide, in der diebssicheren Patenttasche, die ich mir anschnacken ließ; an die dachte ich nicht gleich. Ein Dieb kann nicht heran, aber man selber auch nicht. Hille mußte sie mir in der Damengarderobe aufschneiden, da hatten wir es. So Patente sind doch recht umständlich.«
Hille brachte das Echte.
»Wir knapsen uns nichts ab,« sagte die Mutter und that einen achtbaren Schluck aus dem Becherglase. Dann nippte Pienchen. Dann trank Hille.
»Ich fürchte, die Eisenbahn wird voll,« sagte die Mutter, welche die Eingangsthür beobachten konnte. Jeden Ankommenden betrachtete sie mit feindlichem Blicke als einen abscheulichen Eindringling, mit dem sie um ihren Wagenplatz zu kämpfen haben werde. »Daß auch gerade heut so viele Menschheit mitfährt,« grollte sie. »Aber drängen lassen wir uns nicht.« –
Die Thüren zum Bahnsteig wurden geöffnet. Die Wartenden überkam die Hast, und die Rücksichtslosigkeit, welche der Eilverkehr unserer Zeit als wenig angenehme Beigabe gebracht hat, und der Wettbewerb um bequeme Unterkunft in dem Zuge begann. Man stieß sich mit Handkoffern und Schirmbündeln in dem Ausgange, man stürzte auf die erleuchteten Wagen zu, als sei das Zeichen der Abfahrt bereits gegeben, und wer zögerte, konnte erleben, daß ihm der fast erreichte Eckplatz noch im letzten Augenblicke weggesessen wurde.
Frau Emilie Lahmann schritt mit den Töchtern den Zug ab; es war ihr jedes Kupee zu voll. »Wohin?« fragte der Schaffner. – »Nach Hamburg, Zweiter.« – »Bitte hier einsteigen.« – »Da drinnen wird geraucht.« – »Im Damenkupee sind noch zwei Plätze.« – »Wir sind zu Dritt.« – Der Schaffner half suchen. Die Lokomotive gab das zweite Zeichen. »Einsteigen. Einsteigen!« – »Ist noch ein Kupee Zweiter frei?« rief der Schaffner seinem Kollegen zu. »Jawohl, ganz hinten.« – »Bitte rasch, meine Damen.« – Jetzt mußten sie laufen, mit dem Handgepäck beladen, von der Angst des Zurückbleibens gejagt. Frau Lahmann hat in späteren Jahren oft versichert, »wie sie in das Kupee hineingekommen wäre, das wüßte sie nicht, genug, sie wäre drinnen gewesen und habe nur noch soviel Besinnung gehabt, ihrer Jüngsten zuzurufen: ›Hille, stelle Dich vor, daß Niemand mehr einsteigt‹, bis sie die Hutbänder hätte aufkriegen können und Luft schnappen. Da wäre ihr dann wieder etwas menschlich geworden, wohingegen Pienchen, großartig schwach in die Ecke gesunken, gestammelt hätte, wenn die Reise so weiter ginge … das würde sie nicht überleben. So wäre ihr nichts übrig geblieben, als selbst die Sachen wegzupacken, die Plaids, die Täschchen, die Schirme und was sonst eingewickelt mitgenommen war. Und dabei so warm, so warm.«
Hille sah zum Fenster hinaus, wie ihr gesagt worden. Wußte die Mutter nicht, daß ein junges hübsches Mädchen anzieht, anstatt abzuschrecken oder hielt sie Hille nicht für hübsch genug, daß ihretwegen ein heißblütiger Jüngling in das Familienkupee einzudringen wagte? Frau Lahmann urtheilte verschieden über ihre Töchter, je nach Umständen und Laune. Oft sagte sie: »Kinder, wer Euch kennte, müßte einsehen, was für Schätze Ihr seid; Du, Pienchen, mit den in der Schule gelernten Bildungsgraden, um erstaunt zu werden, und Du, Hille, mit einer gleichermaßenen Begabung, ohne die Talente für das Hausstandliche nicht mit gerechnet.« Eben so oft sagte sie: »wer Euch mal heirathet, der bringt Euch am nächsten Tage retour, aber ich will mich hüten und Euch wieder annehmen. Seht Euch doch im Spiegel. Gott weiß, wo Ihr Eure Gesichter her habt? Ich in meiner Jugend war bildschön.«
Warfen die Töchter ein Echo entgegen, dann ward die Mutter heftig und verscheuchte mit lauten Worten den Frieden des Hauses, der überhaupt nie ganz ablegte, sondern in Ueberzieher und Stiefeln schlief.
»Wäre ich nur fort, fort,« seufzte dann Pienchen, »ich halt' es nicht länger aus.« – »Schön ist etwas Anderes,« stimmte Hille bei. »Aber sie giebt sich wieder.«
Am folgenden Morgen wurde Versöhnung gefeiert. Die Mama ließ Windbeutel mit Schlagsahne holen, oder Mohrenköpfe, Erdbeer- oder Kirschtörtchen, je nach der Jahreszeit, nannte die Töchter »süße Engel« und war mit Nachgiebigkeit und Zärtlichkeit wie vollgepfropft. »Mama explodirt heute vor lauter Milde,« sagte Pienchen einmal bei solcher Gelegenheit. Kurz vorher hatte sie einen Schulaufsatz über den Einfluß der Sprengstoffe auf die sittliche Entwicklung des Menschengeschlechtes gearbeitet und die zweithöchste Auszeichnung bekommen.
Frau Lahmann schien, wenn sie den Fall überhaupt bedacht hatte, Hille in ihrer Eigenschaft als Aushängeschild nicht für gefährlich zu erachten, und Hille dachte sich auch weiter Nichts. Sie sah auf den Bahnsteig hinaus, auf die Menschen, welche dort standen, die den Ihrigen das Geleit gaben. Weit vorne, am Ende des Zuges, waren Studenten. Sie brachten einen Kommilitonen weg und sangen das Lied: ›Leibfuchs Leibfuchs, Leibfuchs mein, lebe, lebe wohl und gedenke mein, lebe lebe wohl und vergiß mein nicht, bis Dein treues Auge bricht‹. Das klang gar eigenthümlich in der großen Halle, wie verloren in dem Raume und dem Herzen dennoch ausdrucksvoll vernehmlich, trotz des Zischens der Lokomotive und der lauten Rufe der Bahnbeamten. Andere scherzten und lachten und wünschten viel Vergnügen, viele standen still und stumm. Der letzte Kuß hatte ihre Lippen geschlossen und an den Wimpern hingen schwere Thränen. Das bleiche elektrische Licht sammelte sich in den klaren Tropfen und strahlte zu den Scheidenden hinüber. Das sah Hille. »Warum haben wir Niemand zum Abschiednehmen?« dachte sie, »wie hübsch wäre das.«
Und plötzlich erröthete sie. Dort stand Einer, der sie unverwandt anblickte und der nun auch roth ward, da sie ihn erkannte. Was wollte der junge Mann? Jemand an den Zug bringen? Wen? Sollte er gar ihrethalben gekommen sein? Ob sie ihm zunickte?
Sie sah weg; er sah auch weg. Hille schämte sich, ihn freundlich und erfreut zu grüßen. Sie hatte ihn in der letzten Zeit zu schlecht behandelt, das heißt einige Grade kälter als gewöhnlich, und das kam ihr jetzt schlecht, recht schlecht vor. Hatte sie sich nicht über alle Gebühr mit der bevorstehenden Reise gespreizt und ihrer Freundin Minna Müller lang und breit auseinandergesetzt, während Theodor Müller, der Bruder, zugegen war, daß Umwälzungen bevorständen, welche sie und Pienchen auf höhere, wenn nicht sehr hohe Bahnen lenken würden, und zwar, wie Pienchen gesagt hätte … eruptiv? »Es wird mir sehr leid thun, Dich dann nur selten zu sehen, liebe Minna,« schloß Hille ihre schleierhaften Bekenntnisse, »aber Mama sagt, es wäre Zeit, daß wir das Schicksal in die Hand nähmen. Und das siehst Du selbst ein, nicht wahr?«
Minna Müller schwieg. Sie wußte nicht, was sie einsehen sollte, und Theodor Müller, der Bruder, war auch nicht aus Hille's Orakelei klug geworden. Er dachte nur: wenn Hille meine Schwester nicht mehr besucht, wo habe ich dann das Glück, ihr zu begegnen?
Ihm war nicht unbekannt, daß Mama Lahmann Hille's Umgang mit den Müllers ungern sah. Der verstorbene Lahmann war Kaufmann und Müller senior Klempnermeister mit einem Blechladen nach der Straße zu und der Werkstatt auf dem Hof im Keller. Und wenn Müllers auch zur Herbstzeit nicht blos Sonntags, sondern öfter eine Gans im Bratofen und nicht blos Auskommen, sondern sogar Ueberkommen hatten … der Rang, den der selige Lahmann hinterlassen, zog eine Grenze zwischen den beiden Familien. Kaufmann und Handwerker standen nach Frau Lahmanns Anschauung fast unnahbar gegenüber und Müllers waren auch der Meinung, Kaufmann sei doch wohl mehr als Blechschmied, weshalb sie zu Lahmanns von unten auf sahen und diese auf jene von oben herab.
Vater Müller war zu altväterisch ehrlich, um sich selbst Fabrikant und seinen Blechladen Musterniederlage des Müller'schen Metallwaaren-Etablissements zu nennen. Sohn Theodor und Tochter Minna wagten nicht anders zu denken, als ihr Erzeuger und Erzieher, der es verstanden hatte, seine Kinder in den ersten Lebensjahren ruhig zu schlagen. Sie muckten nicht, sobald der Meister seinen Willen kund gethan.
Wenn Hille ihre Freundin Minna besuchte – es war ja nur ein Katzensprung hinüber – und bei ihr im Hinterstübchen des Blechladens saß, dann dauerte es nicht lange, bis Theodor antrat und sich im Laden zu schaffen machte. Daß er alsdann die Arbeitsschürze abgelegt, den guten Rock angezogen und die Klempnergesellenhände gewaschen, fiel nicht Hille, wohl aber Minna auf. Bald wußte Minna, daß ihr Herzensbruder in ihre liebste Freundin verliebt sei, ohne daß er es ihr mit Worten gestanden. Und sie vermied jegliche Anspielung darauf im Ernst wie im Scherz. Sie waren beide ruhige Naturen.
Blieb Theodor bei solchen Besuchen aus – es kam vor, daß die Arbeit ihn an die Werkstatt fesselte – fehlte Hille etwas. So dumm war sie nicht, daß sie die stille Huldigung des Klempnergesellen übersehen hätte. Daß er jedoch ernstlich in sie verliebt sein könnte, das zu vermuthen, dazu war sie … zu jung.
Liebe! Nach ihrer Ansicht war die Liebe ein nothwendiges Vorübel, ohne welches es keine Verlobung und Hochzeit gab, wenigstens nicht in den Romanen. Hätte ihr Jemand gesagt, Minna's Bruder hege die Absicht, sie zu heirathen, Hille würde ihn ausgelacht haben.
Liebe! Was ist Liebe? Doch unmöglich eine Verehelichung mit Theodor Müller!
An ihn hätte Hille nie und nimmer gedacht, als sie bedauerte, Niemanden zum Abschiedsgeleit zu haben, und nun, da sie ihn gewahrte, fiel es ihr lästig, ihm dankbar zu sein. Ein Gruß, ein freundlicher Wink kostet so wenig, aber er wird schwer, wenn sich nur ein ganz wenig Scham daran hängt. Hille sah rechts.
Und Theodor, als wenn er bei unrechtem Thun ertappt wäre, sah links.
Dann aber fanden ihre Blicke denselben geraden Weg.
Unter all den vielen Fremden war er der einzige, der sich um sie kümmerte, so bescheiden fern er sich auch hielt. Sie nickte ihm zu. Er schlug die dunklen Augen auf und seine Züge verklärten sich.
Da pfiff die Lokomotive gellend und der Zug setzte sich in Bewegung. Unverwandt hafteten Hille's Blicke an dem leuchtenden Frohmuth, den ihr Gruß erweckt, und die wenigen Sekunden, welche ihr das schnaubende Eisenthier dazu vergönnte, waren ihr groß und herrlich, wie das Weilen an dem schönsten Aussichtspunkte der Erde.
Der Zug fuhr in die dämmerhelle Sommernacht hinein. Berlin mit seinem künstlichen, über der gashellen Stadt schwebenden Nordlichtschein rückte mehr und mehr in den dunklen Horizont ein; er ward kleiner und kleiner.
»Hille, Kind, setz Dich. Was hast Du an dem zugigen Fenster zu stehen? Es ist ja doch nichts Bekanntes da.«
»Wie Du Dich irrst, Mama. Theodor Müller …«
»Von die Klempnergesellschaft willst Du jetzt reden?«
»Von der Gesellschaft, Mama, von der!« rief Pienchen aus ihrer Ecke.
»Bist Du wieder munter? Na ja, so wie Du Dich einigermaßen fühlst, fällst Du über mich her.«
»Die Präposition ›von‹ regiert den Dativ.«
»Das kommt bei Klempners nicht darauf an. Die Leute sind uns viel zu nuttig, wir stehen höher und dürfen uns nichts vergeben, also laßt sie, wo sie sind. Zu einer Badereise schwingen die sich niemals auf, oder sie müssen es machen, wie die pensionirte Räthin aus der Beuthstraße mit ihrer Tochter. Die hatten ja überall erzählt, sie gingen nach Ostende oder da so herum, wo doch Bekannte sie nachher in Pankow sommerwohnen trafen. Und was thaten sie, um die Nachbarn zu betimpeln, sie wären wochenlang von Seeluft gebräunt? Sie wuschen sich jeden Morgen mit Cichorienkaffee.«
Pienchen und Hille lächelten überlegen. Zu solchen Ausflüchten brauchten sie nicht zu greifen. Sie saßen im Kupee Zweiter und fuhren wirklich ins Seebad und waren eine Masse mehr als andere Leute.
Mama Lahmann baute aus Plaids und Decken ein Nachtlager, für das sie den Rücksitz in Beschlag nahm, Pienchen und Hille theilten sich in den gegenüberliegenden Sitz. Nachdem Hille den blauen Schirm über die Glasglocke der Lampe an der Decke gezogen, thaten alle Drei, als wenn sie schliefen.
Der Zug rasselte durch die Nacht.
Nach einer Weile fragte die Mutter, wie von eigenen Gedanken erschreckt: »Es wird doch Keiner mehr einsteigen? Das wäre abscheulich!«
Als keine Antwort erfolgte, fuhr sie fort:
»Im Sitzen kann ich nicht schlafen. Kinder, ich opfere mich für Euch auf. Und die Kosten, bedenkt die Kosten.«
»Mein Wille war es nicht,« entgegnete Pienchen.
»Weswegen fahren wir denn? Der Arzt sagte, Du müßtest gekräftigt werden.«
»Ich wollte, ich wäre todt.«
»Mit einem Male? Wo Du Dich doch all' die Tage auf die Reise gefreut hast? Kinder, seid blos nicht verschroben.«
Mutter Lahmann richtete sich auf, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »In einem Seebade trifft man Leute. Wen trifft man denn in Berlin? Doch nichts Gescheidtes?« Sie wollen Vermögen wissen, Bildung ist Nebensache. Es ist Bande. Denke blos, Pienchen, wenn Du Einen kennen lernst, der Dir gefällt!«
»Die Männer sind alle so flach heut zu Tage.«
»Aber wenn er was hat? Und dabei hübsch ist?«
»Mit einem schwarzen Schnurrbart,« warf Hille ein.
»Den mag ich nicht,« entgegnete Pienchen. »Nein, er muß blond sein und lockiges Haar haben und blaue, seelenvolle Augen.«
»Blos keinen solchen Dichterkopf mit nichts dahinter,« entschied die Mutter. »Das Aeußere allein ist oft Täuschung. Wir müssen uns genau erkundigen, wie er dasteht. Auch Einer in gesetzten Jahren ist nicht übel.«
»Einen Alten nehme ich nicht,« sagte Pienchen.
»Ich auch nicht,« stimmte Hille bei.
»Ihr seid verrückt,« schalt die Mutter. »Habt Ihr eine Idee vom Leben? Dankt Eurem Schöpfer auf den Knien, wenn Ihr überhaupt Einen abbekommt. Das Bischen, was wir haben, langt eben, damit 'rum zu kommen. Soll das Elend denn ewig dauern?«
»Mama,« nahm Pienchen nach kurzer Pause das Wort, »Ich habe mich gequält und habe gearbeitet wie ich nur vermochte und habe das Lehrerinnen-Examen bestanden. Kann ich dafür, daß meine Kräfte zu Ende sind? Ich will ja verdienen, ich sehne mich nach einer passenden Stellung. Zur Last fallen will ich Dir nicht. O Gott, wie bin ich unglücklich.« Und Pienchen brach in lautes Weinen aus.
Die Mutter stand auf. »Pienchen! Pienchen! Kind, so war es ja nicht gemeint.«
Sie küßte die Weinende und streichelte ihr Haupt und Wangen. »Ich würde sogar zu einem Lieutenant einwilligen, wenn einer mit unser bischen Armuth vorlieb nehmen wollte, nur damit Du nicht weinst, Pienchen.«
»Ich nehme einen von den blauen Husaren,« sagte Hille.
»So?« fragte Pienchen spitz. »Dann nehme ich einen von der Garde.«
»Und ich einen Hauptmann.«
»Und ich einen Major.«
»Und ich einen Oberst.«
»Und ich einen General.«
»Mama, Pienchen will schon wieder Alles für sich haben.«
»Kinder, laßt doch das Gekabbele sein. So reichlich giebt's keine Generäle und Majore. Ein gediegener Zahlmeister wäre auch nicht zu verachten, aber die heirathen mehrstens in hinterlegte Staatspapiere. Ja, wenn Onkel Chlotar rechtlich an uns gehandelt hätte, stände es besser mit uns. Was er hinterließ, war ja kaum das Nachzählen werth, wo wir ihm doch in jeder Beziehung entgegenkamen.«
»Jawohl,« rief Hille. »Seinen alten gräßlichen Namen habe ich, das ist Alles.«
»Du mußt nicht über Dinge reden, die Du nicht verstehst. Euer seliger Vater und ich hatten es genau überlegt und glaubten, er würde sich verpflichtet fühlen, wenn wir ihn zu Deinem alleinigen Gevatter bäten und seinen Namen auf Dir verewigten. Chlotarine ist auch fein; blos das Kindermädchen war zu dämlich, indem es Dich immer Cholerine nannte. Sie war aus Rixdorf und naschen that sie dazu; ausverschämt ging sie an die Butter und die heimlichen Stullen stach sie in ihr Bett. Als das neue Mädchen kam, nannten wir Dich Hille, weil es niedlich klingt und Du so ein behendes Kind für Dein Alter warst. – Der Zug hält. Wo sind wir denn eigentlich?«
Hille ließ das Fenster herab und sah hinaus. »Neustadt an der Dosse,« meldete sie.
»Weiter noch nicht? Na, die Nacht wird lang werden.«
»Es wetterleuchtet,« berichtete Hille weiter.
»Ich kann keine Blitze sehen,« sagte Pienchen ängstlich. »Wenn das Gewitter in den Zug schlägt!«
»Eben hat es gedonnert,« verkündete Hille.
»Wie fürchterlich. Eisen zieht das elektrische Fluidum aus physikalischen Gründen an. Ich bleibe nicht in der Eisenbahn, ich will hinaus.«
»Pienchen, beruhige Dich.«
Ein blendender Blitz flammte daher. Mit einem lauten Schrei sank Pienchen auf ihren Sitz. Langsam zog die Lokomotive an und vorwärts ging es mit zunehmender Hast.
Der Zug fuhr in das nächtliche Gewitter hinein.
Blitz folgte auf Blitz, ihr heller Schein durchzuckte das Kupee und machte die bleichgewordenen Gesichter der bange Schweigenden nur noch bleicher. Dicke Regentropfen schlugen gegen die geschlossenen Fenster; mit dem Getöse des Zuges mischte sich das Grollen des Donners.
Gemach aber legte sich das Unwetter, die Blitze wurden flauer und seltener, und nach einer halben Stunde schienen am hellen Sommernachtshimmel schwach leuchtende Sterne.
Wie das Gewitter erstarb, so schwanden auch Furcht und Erregung; unwiderstehliche Mattigkeit überkam Pienchen. Ihre Augenlider senkten sich schwer.
»Sie schläft,« flüsterte die Mutter, schob ein Kissen unter Pienchens Haupt und bedeckte sie behutsam mit einem Plaid. »Komm herüber zu mir, Hille, wir richten uns ein, so gut es geht. Pienchen hat vom Examen einen Knacks weg.«
Einen langen, prüfenden Blick heftete sie auf das blasse Kind, und ihre herben Züge wurden linder in Sorge und Kümmerniß.
Der Schlaf nimmt dem Menschen die Tagesmaske ab und die Seele waltet ungehindert formend und gestaltend. Litt sie Pein, prägt sie dem Antlitz die Furchen des Schmerzes ein, ließ Freude sie schwellen, giebt sie Liebreiz und Blüthe. Ward sie von Leidenschaften zerrissen, zerreißt sie der Mienen Eintracht und belanglos bleibt das Gesicht, wenn weder Liebe noch Haß die theilnahmlose Seele bewegt. Unmerklich wirkt sie, kaum nimmt das forschende Auge die ersten Spuren wahr und dennoch ist der Mienen Prägung wie über Nacht geschehen. Suche Herzensqual zu verstecken, inneres Glück zu bewahren, es ist vergebens, die Seele kündet sie … über Nacht.
Allmälig hellte sich der Osten auf, ein Lichtflor deckte der Sterne matten Schimmer. Die Morgenwolken erglühten roth und röther. Feuriges Gold umsäumte ihre Ränder. Dann schoß ein blendender Strahl reinen heiligen Lichtes über die weite Ebene. Die Königin des Lebens stieg empor, der neue Tag war geboren.
Hell war es in dem Kupee geworden, in dem die Drei schlafend dem nächsten Reiseziele entgegenfuhren. Sie waren einander ähnlich. Die Mutter mußte in ihrer Jugend ausgesehen haben, wie die beiden Töchter, ebenso klein und schwächlich von Wuchs, ebenso blond und ebenso alltäglich. Hille erschien ein ganz klein wenig hübscher als Pienchen. Das mochte wohl daran liegen, daß sie die Jüngere war und der Liebreiz sorgloser Kindlichkeit ihr unbewußte Anmuth verlieh; nicht viel Anmuth, aber für bescheidene Ansprüche ein immerhin dankenswerthes Maß.
Pienchen war nur zwei Jahre älter als Hille und dennoch gab Jeder, der sie sah, ihr eine Reihe von Geburtstagen zu. Und nun erst, nach der halbverwachten Nacht, unerquickt vom oft unterbrochenen ungemüthlichen Eisenbahnschlaf, erschien sie vor der Zeit gealtert und verblüht. Welches Leid hatte ihr die Frische der Jugend genommen, woher kam der Schmerz, der wie verhaltenes Weinen aus ihren Zügen sprach, der sie selbst im Traume nicht ließ?
Ein Sonnenstrahl huschte über ihre geschlossenen Augenlider hinweg. Sie fuhr auf und blickte erschrocken um sich.
»Du bist wach?« fragte die Mutter.
»Ich hatte solche Angst,« erwiderte Pienchen. »Ich hatte die Merowinger ganz genau gelernt und mit einem Male konnte ich sie nicht. Da schrak ich auf.«
»Kümmere Dich nicht mehr um die alten ekligen Thiere,« sprach die Mutter besänftigend; »Du hast die Plackerei ja hinter Dir. Hätte ich geahnt, daß es Dich so mitnehmen würde, Du hättest niemals Lehrerin studirt.«
»Ich mußte, Mutter, ich mußte. Was sollte sonst aus mir werden?«
»Komme auf andere Gedanken, Kind, sie reißen Dich so ab. Sieh, wie die Sonne scheint; es wird ein wundervoller Tag. Wie grün die Bäume sind und die kleinen Vögel fliegen auch schon umher. Es ist doch eigentlich garnicht nöthig, daß Ihr sie ein bei ein auswendig wißt.«
»Die Merowinger sind keine Thiere, das waren fränkische Könige. O Mama, thu mir den einzigen Gefallen und rede nicht wissenschaftlich, wenn Fremde zugegen sind. Du bringst mich in tödtliche Verlegenheit.«
»Das ist recht, schäme Dich Deiner Mutter. Undankbares Geschöpf. Man thut, was man kann, und was ist der Lohn? Man muß sich Malicen sagen lassen.«
»So hab' ich es nicht gemeint. Mama, sei nicht böse.« Pienchen streckte der Mutter die Hand verzeihungbittend entgegen.
Diese aber blickte schmollend zum Fenster hinaus und oberhalb ihrer Nasenwurzel wurden zwei tiefe Grimmfalten sichtbar. Ueber Pienchens bleiche Wangen rollten große Thränen.