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Vor Sonnenaufgang pflegte der Indier das Haus zu verlassen und ehe Westerland sich regte, in die Dünen zu wandern. Ein Buch, ein wenig Imbiß, nahm er mit; die Einsamkeit zu ungestörtem Nachdenken und Grübeln fand er allerwegen in den Sandbergen. Oft blieb er den ganzen Tag aus und kehrte erst spät heim. Seine Wirthin verwarf ihm das als ungesund. Er dankte ihr freundlich für die obsorgende Mahnung und sprach, daß er fände, was er suche: Genesung. –Sie aber war eine kluge Frau, die Vieles erfahren, und schüttelte das Haupt. – Diese Augen hatten schon in den Himmel hineingesehen, das würde ihr jede Insulanerin bestätigen, die an Sterbebetten gewacht. Also dachte sie und wahrte Stillschweigen. Solche Dinge zu bereden, ist nicht gut.
Auch an diesem Morgen brach Herr Steinbach in der Frühdämmerung auf; es litt ihn weniger im engen Hause als sonst. Eine eigenthümliche, beklemmende Unruhe hatte sich seiner bemächtigt. Ihm war, als hätte Jemand gerufen, erst aus der Nähe, dann ferner und ferner, und nun nötigte es ihn, die bange, zitternde Stimme zu erreichen, bevor sie ersterbe.
Als seine Wirthin die Wegzehrung brachte, fragte er, ob auch sie ein klagendes Getön vernommen, um zu ermitteln, ob nicht Einbildung ihn täusche. – Die Wirthin erschrack.
»Es war das Vorzeichen,« sprach sie. »Wenn es Nachts von der See herüberschallt, als gingen die Glocken, dann giebt's eine Leiche am Strande …«
»Sie hörten also dasselbe Klagen?«
»Es liegt in unserer Familie, mein Vater hatte das zweite Gesicht. Lieber gehen Sie heute nicht an die See und um Gottes Willen versuchen Sie nicht zu baden. Wir haben Springfluth heute. Glauben Sie mir, es war Vorschau …«
Herr Steinbach wartete nicht der Rede Ende ab, sondern enteilte dem Hause, denn wieder war das Angstrufen erklungen, so deutlich, daß ihm die Richtung inne ward, aus der es herüberscholl. Durch den schlummernden Ort schritt er hastig dem Südwesten zu.
Das Morgenlicht begann die Wolkenbank im Osten zu röthen, die sich wie eine graue Binde vor das Auge des Tages gelegt und sein helles Aufstrahlen verzögerte. Frühstille und Frühkälte empfingen den Wandernden. An der Landseite der Dünen ging Herr Steinbach den Weg, der in die Feldmark führt. Unbeirrt schritt er vor, nicht rechts noch [links] schauend. Jetzt aber bog er ab.
Dann machte er Halt. Er stand vor dem prunklosen Eingang zur Heimstätte der Heimathlosen. Er war bestürzt. Hierher hatte er nicht gewollt. Wer hatte ihn hergeführt? Das Rufen?
Das Gitterthor war ein wenig geöffnet. Er lauschte, ob das Rufen wieder ertöne? Nur die Brandung rollte dumpf. Es schwieg. – Er trat ein. Stumm und friedlich lagen die Gräber; an den schwarzen namenlosen Kreuzen hingen welke Kränze. Still war es. Kein Luftzug regte sich.
Nun sandte die Sonne ihren ersten Strahl über das Land, und wohin das Licht drang, jubelte ihm die Farbe der Blumen entgegen, überall aus dem Grün.
Das aber waren keine Feldblumen, die vor dem Steine der Königin hingestreut, wie Opfergabe lagen. Das waren Rosen.
Er ging hinzu und hob eine der Rosen auf. Was war das? Ringsum Alles triefte von Thau und die Rosen waren trocken, welk sogar? Die mußten an diesem Morgen, vor kurzer Zeit hierhergebracht sein. Kein menschliches Wesen war ihm begegnet. Wer war so früh an dieser Stätte gewesen? –
»Welke Rosen; arme Rosen,« flüsterte er.
»Armes Mädchen!«
Wer hatte das Wort gesprochen?
Er selbst? – Die Rosen? – Die Erinnerung?
Das Mitleid!
In dem bethauten Grase zeichneten sich die Spuren von Schritten dunkel ab. Hier waren sie und hier; hinaus auf das Feld leiteten sie. Er folgte ihnen, seine ganze Aufmerksamkeit auf die Stellen gerichtet, wo das nasse Silbergrau verwischt war.
Immer schwächer wurden die Spuren, die steigende Sonne trank den Thau. Und doch unterschied er sie noch; die übrigen Sinne liehen dem Auge ihre Kraft und traten zurück. So hatte er von weisen Lehrern gelernt, sie zu meistern. Allmälig ward das Sehen zum Schauen; vor ihm tauchte eine Gestalt auf, wie aus dünnem Nebel. Sie floh vorauf, er folgte und konnte sie doch nicht erreichen, so sehr er die Schritte beschleunigte. Nun wandte sie sich den Dünen zu, mühsam erklomm sie den sandigen Abhang; als sie die Höhe erreicht, stand sie still. Dort oben flatterte das Haar im Seewinde, er sah es deutlich. Er wollte ihr zurufen. Die Stimme versagte. Er wollte ihr zuwinken. Der Arm folgte dem Willen nicht. Mit aller Anstrengung entriß er sich der Fesselung. Laut schrie er auf. In demselben Augenblick war die Gestalt verschwunden.
Er kannte die Dünen; auf gangbarem Pfade eilte er hinauf. Oben angelangt, spähte er angstvoll. Zu seinen Füßen brandete das Meer, Welle auf Welle donnerte daher und zerschellte tosend. Der Strand war leer, Niemand zu sehen.
Dort aber, wo aus großen Steinblöcken die Buhne ins Meer hinausgebaut ist, der Insel zum Schutz gegen die Tücke der Fluthen, dort stand Jemand, umsprüht vom weißen Gischt der Wogen, die an den Felsen schäumend emporschnellten.
Frischer Wind war aufgekommen mit der Fluth, die reißend zunahm. Gewiß, das war Springfluth, so ungebärdig zieht sie heran, so tobt sie, so unheimlich steigt sie, so unvermuthet stürzt sie Wasserberge daher, einreißende, wild zerschmetternde.
Die Gefahr wuchs mit jeder Minute. Draußen auf der dunkelblauen, offenen See wurden die Köpfe der Wellen breiter und weißer, eine einzige der herwälzenden gewaltigen, mußte die Unbesonnene von der Buhne herabschleudern, in die Tiefe reißen, ohne Rettung.
Er rief. Das Meer übertönte seine Stimme, der Wind verwehte sie. Pienchen wich nicht von dem Steinwall, sie erwartete das Ende. Das Meer kam, sie zu erfassen, es dehnte sich nach ihr aus. Das Spiel der Wellen zog sie dämonisch an. Sie war wie gebannt.
Die Nacht lag hinter ihr: die letzte Qual. Der Schlaf hatte sie allein gelassen mit ihrer Noth. Es war Alles vorbei. Verhöhnt, verlacht, zum öffentlichen Spott gemacht, als unnütz verworfen … wozu sollte sie länger leben? – »Es gehen so viele ins Wasser,« hatte Frau Lotz gesagt, warum sollte sie nicht dem Beispiele des Mädchens folgen, von dem die Zeitung erzählte? Auch ihre Hoffnungen waren vernichtet; sie war enttäuscht, grausam enttäuscht. Und Niemand gab ihr Trost, Niemand. Nirgendwoher kam Ruhe. Keins der Atome, von denen Herr Wergheim gesagt, keine Linie des Spektrums, keine Centrifugalkraft, keine Vererbungslehre, kein Naturgesetz, keines, wofür sie hingab, was sie hatte, Unbefangenheit, Kraft und Gesundheit, keines brachte ihr sänftigende Gedanken, Leid zu schwichtigen. All ihr Wissen gab keinen Tropfen Balsam für die brennenden Wunden, aus denen ihr Herz blutete.
Mochte Hille glücklich werden. Der wurde kein schrecklicher Mann aufgezwungen. Die hatte es gut. Alle hatten es gut … Alle … nur sie selbst nicht.
Und wie würde das Leben zu Hause sein? Sie unthätig, ohne Aussicht, von dem täglichen Verdruß, der Unerträglichkeit des Alltags erlöst zu werden … nie … nie.
Die Zeitung hatte ihr den Weg gewiesen, den Widerwärtigkeiten zu entgehen, dem Elend, der Noth. Dafür war sie ihr dankbar.
In aller Stille erhob sie sich; weder die Mutter noch die Schwester erwachten. »Seid glücklich,« schrieb sie auf ein Zettelchen. Fast ward es ihr schwer zu gehen, da sie dies geschrieben, schon wollte sie umkehren und die Mutter wecken, aber da fiel ihr Blick auf den Ballstrauß, der auf dem Tische lag. Oh, der gestrige Abend, der entsetzliche Abend! Sollte sie sich ferner verhöhnen lassen? Nein.
Sie nahm die Rosen. Die Hausthür war nur eingeklinkt; geräuschlos schlüpfte sie hinaus. Und dann wanderte sie entschlossen weiter.
Als sie an den Friedhof der Heimathlosen kam, machte sie Halt. Einer war gewesen, der hatte Mitleid mit ihr gehabt, aber den hatte sie verworfen. Ihm hätte sie gerne Lebewohl gesagt. – »Dies ist seine Lieblingsstätte,« murmelte sie. »Vielleicht findet er die Rosen. Und wenn er hierher kommt?«
»Er wird sie zertreten, wie ich zertreten bin. Vorwärts.«
Sie bedurfte des ganzen Aufgebots ihrer Kräfte, dessen war sie sich klar, weit ab von der Lust und Fröhlichkeit des Westerlander Strandes, weit ab von allen Menschen, in der Einsamkeit, ungesehen, ungehört wollte sie verschwinden. Nur wandernd konnte sie die Abgelegenheit erreichen, nur in der Frühe. Darum mußte sie weit gehen, rasch gehen.
Wenn ihre Kraft zu erlahmen drohte, rief sie sich zu: »Heut Morgen kommt das Skelett, Dich zur Braut zu begehren.« Dann trieb der Abscheu sie an. Und nach einer Weile abermals: »Wie sie über Dich höhnen, Pienchen, die Lüneburgerin und der … der Andere, heute Morgen am Strande. – Fort.« Und abermals: »Bald haben alle Qualen ein Ende und Mama braucht um mich nicht mehr zu sorgen! Sie hat zu leben.«
Und wie sie mit letzter Anstrengung die Dünenwand erstieg, erfüllte sie Stolz, die Schwäche dennoch zu überwinden. Es war der Stolz der Ausgestoßenen. Die Welt wollte sie nicht – nun so verließ sie die Welt.
Als sie oben stand und hinaus auf das Meer blickte, auf das weite, weite Meer, das mit dem Himmel verschmolz, überlief sie ein Schauer. So groß, so schön! Und auf der großen, schönen Welt waren Alle glücklich, Alle … nur sie nicht … nur sie nicht, einzig und allein. Vorwärts!
Mühsam stieg sie ab, der Weg hinunter machte ihr Beschwer. Langsam schleppte sie sich dem ins Meer gebauten Steindamme zu. Sie war erschöpft, so nahe am Ziele, zum Tode erschöpft; ihr war gleichgültig, was geschah.
Die Wellen rasten herbei und schlugen hoch an den Steinen empor. Das furchtbare Spiel hielt ihre Blicke gefangen, das Tosen berauschte sie. Grünblau hob sich das Wasser zum Hügel und schoß thalwärts, und wieder hob es sich und stieg näher auf und näher. Dann überstürzte die Welle sich und umkochte schäumend die Buhne. So kam Welle auf Welle. Der Gischt spritzte empor und durchnäßte Pienchen, sie achtete deß nicht. Wilde Lust erwachte in ihr, jauchzendes Verlangen, mit zu tosen, mit zu rasen, im Wirbel der Fluthen zu vergehen, frei vom Leide, frei.
Eine Woge, mächtiger und gewaltiger denn alle zuvor, wuchs auf. Pienchen breitete die Arme aus, jubelnd, frohlockend.
Da schrie ihr eine Stimme zu: »Halt! Halt!« Dicht bei ihr erscholl sie, in den Lärm der Wogen hinein, und zwei kräftige Arme umfaßten sie. Die nächste Welle überschwemmte die Buhne, sie aber fühlte sich gehalten und fortgezogen aus dem Bereiche der stürmenden Fluth. So wurde sie schon einmal aufgefangen. Gestern war's, auf dem Balle. »Hinweg.« Mit letzter Anstrengung, mit äußerster Anspannung suchte sie sich los zu machen. »Ich will fort,« rief sie, »fort.«
»Wohin?«
»Fort aus der Welt.«
»Sie können nicht aus der Welt.«
»Ins Jenseits denn …«
»Sie sind im Jenseits. Unser Leben ist nur ein Theil des Jenseits. Niemand kann sich selbst entfliehen, Niemand.«
»Unbarmherziger Mann!«
Pienchen brach zusammen; tiefe Ohnmacht umfing sie.
Steinbach nahm die Besinnungslose wie ein Kind auf seine Arme und trug sie von dannen; in die Düne trug er sie, zu einer Ausmuldung im Sande, wo es windgeschützt war und friedsam. Dort breitete er sein Plaid aus und bettete sie sanft. Dann tränkte er einen Bissen Brod mit Wein aus seiner Feldflasche und netzte ihre Lippen.
»Wach' auf,« flüsterte er ihr zu. »Wach' auf.«
Pienchen regte sich. Wehes Erschüttern löste die Gebundenheit ihrer Sinne. »Warum bin ich nicht todt?« schluchzte sie. »Warum nicht todt?«
»Weil Sie nicht eher sterben dürfen, als bis Sie das Leben haben.«
Pienchen blickte ihn verwundert an. Er gab ihr Speise und Trank und mahnte liebreich, daß sie nähme.
Da sie gegessen ein wenig und ein wenig genippt von dem Weine, den er ihr bot, ward ihr, als habe sie Keinen auf Erden, denn ihn. Und sie sprach zu ihm.
Alles Leid, das sie bedrückte, schüttete sie ihm aus. All' ihr Sagen aber schloß mit dem Jammer: »Ich habe Niemand, der mich liebt.«
Da fragte er: »Auch nicht Gott im Himmel?«
Sie schlug die Augen nieder. Leise antwortete sie: »Gott ist nur für Kinder. Die Wissenschaft hat für Aufgeklärte bewiesen …«
»Nichts hat die Wissenschaft bewiesen,« fiel er ihr in die Rede. »Wohl kann sie Irdisches wägen, messen und berechnen, und was dem Irdischen ähnlich, was aber göttlich, das fügt sich nicht ihren Meßwerkzeugen. Und ich sollte dem, der Gott leugnet, mehr Glauben schenken, als dem, der ihn mir verkündet?«
»Es ist aber Alles Naturgesetz, sagte Herr Wergheim.«
»Einst war unser Planetensystem Gasnebel, daraus Sonne, Planeten und auch die Erde entstanden. Dann kam Leben, und aus dem Niedrigen entwickelte sich das Höhere. Ein Thor, wer das bestreitet. Woher das Leben aber kam, das vermag keiner zu sagen, eben so wenig, wohin das Leben geht. Daß es aber nicht verloren gehen kann, weiß ich aus irdischer Wissenschaft. Keine Kraft, keine Bewegung kann in aller Ewigkeit ein Ende nehmen. Mein Denken, mein Empfinden, mein Ich ist aber nicht minder Kraft und Bewegung, wie eine Lichtwelle, eine Elektrizitätsströmung, Wärmeschwingung, es kann sich wandeln, aber nie erlöschen.«
»Nie erlöschen?« fragte Pienchen, und Angst sprach aus ihren Zügen. »Auch nicht in der tobenden Fluth?«
»Die Seele ist unsterblich.«
»Was wäre aus ihr geworden, wenn das Meer …«
»Was wird aus der Blume, die, von frevler Hand dem Erdreich entrissen, mühsam wieder einwurzelt? Sie siecht und leidet, ihr Dasein ist Elend.«
»Neues Leid, neues Elend wäre mein Theil geworden?«
»Was wir säen, ernten wir. In unserem irdischen Gewande ernten wir die Frucht vorirdischen Daseins. Wer tief sank, erscheint auf niederer Stufe, wer sich dem Göttlichen nicht anpaßte, wie kann der sich über Thierisches erheben? Nichts geschieht sprungweise. Daher sind Höhe und Niedrigkeit, so unvermittelt sie uns erscheinen, vorerworben in einem anderen Leben. Wir vermögen nur die Zeiträume nicht zu übersehen, die dazwischen liegen.«
»Ich kann nicht begreifen, daß ich schon einmal gelebt haben soll. Ich weiß nichts aus jener Zeit …«
»Erinnern wir uns jedes einzelnen Tages unserer Kindheit? Nur besonders eindrucksvoller Begebenheiten entsinnen wir uns, bis im späten Alter, wenn Leidenschaften und Kämpfe die Seele nicht mehr ins Joch spannen, die Vergangenheit sich wie ein Gestern nähert. Zu Zeiten, der körperlichen Fesseln ledig, ergeht sich die Seele in der Welt der Erinnerung, aber in den Frohndienst des Tages gestellt, vergißt sie wieder, wo sie war. Im Traum ist die Seele frei.«
»Im Traume,« rief Pienchen. »Ja, ich hab' es erlebt. Alle Noth war von mir genommen; im Traume war ich glücklich. Glücklich, als Kind, bei Onkel Chlotar. Ich vernahm seine Stimme, ich hielt seine Hand, ich war bei ihm.«
»Was wir einmal geistig besaßen, kann niemals verloren gehen, es wird wieder unser eigen, wenn wir erwachen … im Traum. Wen wir liebten … er wird uns nahe sein, wer uns liebte, wird uns umfangen, wenn wir zum letzten Male erwachen, frei von allen Schlacken, erlöst von allen Leiden und Freuden des Staubes, denn Liebe ist der höchste geistige Besitz.«
»Und was wir haßten?« fragte Pienchen bange, »und was uns haßte? Wird nicht auch das folgen und uns quälen.
»Dazu sind wir geboren, daß die Liebe den Haß überwinde. Im Leid erkennen, was Leiden bringt, im Glücke trachten, was Schuld erwehrt, in Demuth büßen, was selbst geschaffenes Schicksal auferlegt, aus eigenem Nothgefühl die Noth Anderer lindern, das vernichtet die Selbstsucht, aus der Haß, Neid und alles Böse hervorwuchert. Das ist der Weg zur Läuterung, denn wie des Menschen Begehren, so ist sein Streben, und wie er strebt, solche Thaten begeht er, und wie er gethan, zu solchem Dasein gelangt er.«
»Wer aber führt mich zu rechtem Begehren.«
»Gott, der uns über Alles liebt. Ihn suchen ist Leben, wer ihn flieht verharrt im Tode. Hat Ihnen Christus je Leides gethan? Nein. Wohl aber die Welt, die Ihnen den Glauben nahm, die beseligende Gewißheit der Allmacht der Liebe, die in Ihnen die Sehnsucht zum Heil ertödtete, den Wandertrieb der Seele nach der Heimath. Und was gab sie Ihnen dafür wieder.«
»Nichts! Nichts. Elend und Verzweiflung.«
Sie verhüllte ihr Antlitz, die Schrecken der letzten Nacht traten vor sie, das Ringen nach Trost und Linderung, die öde Verlassenheit. In ihr kämpfte und wogte es. Die neuen Gedanken überflutheten die Vergangenheit. Neu? Nein, sie klangen wie aus ferner Kindheit her, und weckten das Echo des Herzens.
Der Wind beugte die graugrünen Dünengräser am Rande der Mulde, da hinein die Sonne wärmend schien. Von den Nachbardünen, den hohen Kuppen, sahen Möven hinab auf die Menschen, treue Wächter ihrer Nester. Drüber hin flogen weiße Vögel mit heiserem Schrei. Das Brausen und Donnern der Brandung hallte ununterbrochen und kündete das wachsen der Fluth.
Pienchen schwieg lange Zeit. Dann schlug sie die Augen auf und richtete einen bittenden Blick auf den Mann, der sie ihrem Willen entrissen, und sprach zagend:
»Sie nannten mich ein armes Mädchen. Ja, ich bin arm. Arm. Ich zürnte Ihnen … Verzeihen Sie mir.«
Er reichte ihr die Hand, die sie heftig ergriff.
»Dank,« flüsterte sie, »Dank!«
Sie erhob sich. »Zur Mutter muß ich, zur Schwester; sie sind in Sorge. O mein Gott, was wollte ich thun!«
Es überkam sie große Schwäche; sie sank wieder zurück. »Ich kann nicht zu ihnen,« barmte sie, »kann ihnen nicht die Angst nehmen, daran ich Schuld bin. O, eilen Sie, gehen Sie zu den Meinigen. Ich warte hier in Geduld. Ich will leben.«
Da erschien oben auf der Düne, gar groß gegen den Himmel sich abhebend, eine menschliche Gestalt. Es war Dr. Sattler. »Gefunden,« rief er froh nach abwärts, und winkte eifrig. »Er ist in seinem Nest.« Alsbald wurden neben ihm die Herren der Grube sichtbar.
»Da sind sie, die ich hasse,« rief Pienchen. »Hinweg, hinweg.«
»Der Haß ist der Tod,« entgegnete Steinbach. »Sie aber wollen leben.«
Die Herren kamen herab. Keiner brachte ein Wort hervor; sie blickten auf Pienchen, als trauten sie ihren Augen nicht recht; ergriffen von innerer Bewegung standen sie schweigend.
»Das Fräulein hatte sich verirrt,« sprach Herr Steinbach. »Ein glücklicher Zufall führt Sie her, meine Herren … der Weg war zu weit … wenn jemand von Ihnen einen Wagen besorgen möchte … das Fräulein befürchtet die Unruhe ihrer Mutter …«
»Wozu ein Wagen?« rief Dr. Addison. »Wir nehmen das Plaid als Hängematte und tragen das Fräulein; so kommen wir rascher zum Ziel. Das heißt, wenn Sie mit dem Vorschlag einverstanden sind, Fräulein Lahmann?«
»Wenn ich Ihnen nicht zu viele Mühe mache …«
»Durchaus nicht.«
Die Herren faßten das Plaid, auf dem Pienchen ruhte.
»Ist es so bequem?« fragte das Kind.
»Wunderherrlich.«
Behutsam trugen sie die leichte Last, sorgsam, sorgsam. Das Kind nahm seinen Strohhut und hielt ihn wie einen Schirm, damit die Sonne Pienchens Antlitz nicht brenne. Sie lächelte ihm freundlichen Dank zu. Er wechselte einen Blick mit Schnellbeinchen. Auch dem glänzten die Augen feucht.
Dicht vor Westerland ließ Pienchen halten.
»Jetzt bedarf ich nur noch eines Armes,« sprach sie. Jeder bot ihr den seinen. Sie aber nahm Herrn Steinbachs Geleit.
»Auf Wiedersehn,« sprach sie und reichte den Herren die Hand zum Abschiede.
»Nie werde ich Ihre Liebenswürdigkeit vergessen.«
Dann schritt sie mit Herrn Steinbach dem Orte zu.
»Merkwürdig,« sagte Himeyer. »So sah ich sie nie, so natürlich, ohne Ziererei. Fast könnte man behaupten, sie wäre nicht ohne Anmuth.«
»Ich gehe zum Gärtner und schicke ihr das Schönste, was er hat,« sagte das Kind. »Wer kommt mit?«