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Viertes Kapitel.


Die »Freia« lag an der Landungsbrücke und in Schaaren eilten die Passagiere herbei, seewärts mit dem prächtigen Schnelldampfer zu gehen, der alle Wettbewerber überholt, als habe er Flügel. Jedem Hamburger Kind ist die »Freia« lieb, es erkennt sie schon von ferne, wenn sie aufkommt und eben sichtbar wird, so schön und eigenartig liegt sie zu Wasser.

Für Pienchen und Hille hatte das ungewohnte Treiben am Hafen außerordentlichen Reiz, daß sie der Nachtreise nicht mehr gedachten. Sie musterten die Ankommenden, wunderten sich, wie viele Menschen ein Schiff beherbergen kann und erwarteten sehnsüchtig die nächsten Stunden. Heute sollten sie das Meer sehen, das Meer, von dem sie wohl gehört und gelesen, sich aber keine Vorstellung machen konnten. Würde es breiter als der Elbstrom sein, mit auch so vielen Schiffen darauf, großen und kleinen und so raschen Booten, die hinüber glitten und herüber?

An der zweiten Landungsbrücke lag ein Dampfer, schwarz wie ein Stück Steinkohle. Aus dem Schlot wirbelten dicke Rauchmassen. Soeben ward eine Hammelheerde an Bord getrieben. Dann kamen Pferde, junge Thiere, kleiner Art, eine ganze Anzahl, je zu Zweit geführt.

»Das sind wohl Seepferde?« fragte Mutter Lahmann einen Herrn, der in ihrer Nähe stand.

Der Herr lächelte. Pienchen warf der Mutter einen mißbilligenden Blick zu.

»Das sind Galizier, die gehen alle mit dem Engländer nach Hull in die Kohlenbergwerke,« erklärte der Herr. »Da können sie keine größeren gebrauchen. Sind die Pferde einmal unten, kriegen sie das Tageslicht nie wieder zu sehen.«

»Wie schrecklich!« rief Pienchen.

»Oh, das sind sie nicht anders gewohnt. Die Damen wollen wohl ein bischen nach Helgoland?«

»Nach Sylt.«

»Sieh mal an. Dann grüßen Sie meinen Freund Christian Lotz, wenn Sie ihn treffen, Kapitän Lotz. Der ist, mit seiner Frau da. Nette Frau, blos sie hat es so unbändig mit den Nerven. Mein Name ist Büsing. C. F. A. Büsing.«

»Meine Töchter,« stellte die Alte vor, und während Hille und Pienchen sich huldvoll verneigten, setzte sie mit einer herablassenden Verbeugung hinzu »Wittwe Lahmann aus Berlin, Rentière«.

»Angenehm,« sagte der Hamburger und lüftete den Hut.

»Wird das Meer sehr wogenreich sein?« fragte Pienchen.

»Ach so? Sie meinen, ob die See hoch geht? Auf ein Bischen Dünung nach dem Gewitter diese Nacht können Sie am Ende rechnen; schlimm wird's nicht. Essen Sie ein ordentliches Beefsteak mit Pickels und ein Glas Portwein dazu, das ist gut gegen die Seekrankheit.«

»Meine Töchter sind beide nicht für Scharfes veranlagt.«

»Dann nehmen Sie einen Cognac mit Angostura, der ist auch nicht schlecht.«

Die Glocke gab das letzte Zeichen. Die Dampfpfeife heulte, die Laufbrücke wurde abgeschoben, Räder und Schraube paddelten und langsam wich das Ufer zurück, als sei es ein Luftgebilde, das davongleite. Und dann ging es vorwärts, immer rascher und rascher, wie in übermüthiger Lust schoß die »Freia« dahin.

Altona war vorüber, nun kam das hohe Elbufer mit seinen gartenumhegten Landhäusern. Wie schön! Scheelsüchtige sagen, hier ließe Hamburg einen Zipfel seines Reichthums sehen. Geht in die Stadt, an die gewaltigen Kais, in die Kaufhäuser, in die Fabriken und seht Euch die Arbeit an, begleitet die Schiffe bis in die fernsten Häfen, wohin sie der Unternehmungsgeist sendet, dann wißt Ihr, was Hamburg groß macht. Freut Euch doch über jeden Fleck deutscher Erde, wo der Fleiß üppige Früchte trägt.

Mit Blankenese schloß das Panorama. Dann wurde das Ufer flach und einförmig. Die Fischerkähne, die Schlepper und die großen Dampfer, welche die »Freia« überholte, gewährten dem Auge jedoch fortwährend Abwechslung; manche Landstraße ist mit Fuhrwerk nicht so belebt wie der Elbstrom mit den Schiffen aller Völker.

Die Luft ward frisch, die Nähe der See machte sich geltend.

»Wollen wir die Tücher umnehmen?« fragte die Mutter, »oder machen wir uns an das Beefsteak?«

»Wie Du meinst, Mama.«

»Dann kommt nur, Kinder. Die Seereise zehrt, ich fühle es. Ich weiß, wo die Restauration ist. Herr Büsing ging vorhin hinunter.«

Der geräumige Speisesaal war bereits ziemlich besetzt, sei es nun, daß die Passagiere wirklich Hunger hatten, oder die Zeit vertreiben, oder der Seekrankheit vorbeugen wollten. »Hier bleiben wir vorläufig wohnen,« entschied die Mutter, »nobler findet man es nicht unter den Linden. Pienchen, mein Kind, bekommt Dir die Seereise?«

»Ausgezeichnet.«

Der Steward bot Postkarten feil mit der Abbildung von Helgoland darauf. Hille kaufte eine. »An wen willst Du schreiben?« – »An Minna Müller.« – »Das thu nur, die wird sich wundern, wo wir jetzt sind.« – »Ich halte sehr viel von Minna, sie ist wirklich meine liebste Freundin.« – »Nur nicht zu intim. Weggeworfen ist sich leicht, aber sich wieder aufgerappelt, da klemmt es sich.«

»Reflexive Zeitworte dürfen nicht mit dem Passiv konstruirt werden.«

»Laß doch das ewige Schulmeistern. Es ist zu eklig.«

»Mama, wenn wir uns zu den Gebildeten zählen, müssen wir auch gebildet reden.«

»Meinst Du, ich könnte das nicht, das mit den respektiven Zeitwörtern? Ich werd' mir wegen Euch Plebs Mühe geben! Aber laßt mich nur unter polirte Menschenklassen gerathen, da sollt Ihr was erleben.«

»O Gott!« rief Pienchen.

Es war nicht schreckhafte Ahnung, die sich vordrängte, sondern ungebremste Bewunderung.

Der junge Mann, der zögernd auf der untersten Treppenstufe stand und Umschau nach einem Tischplatze hielt, war zu schön. Wie ein Bild erschien er, von der Thürfassung umrahmt: feiner blanker Cylinderhut, feine blanke Schnabellackschuhe, hellgraue Beinfutterale tadellosen Schnittes, frisch vom Hosenspanner gestrafft, weiße Weste, schwarzes Uhrband mit Tulaschild, Westenausschnitt ideal-oval, Wäsche wie die Eierschale, Stehkragen rechts und links vom Adamsapfel niedergebogen, nicht zu viel und nicht zu wenig, genau abgewogen. Und nun erst der Shlips! Als wenn zarte Genien ihn auf Watte gebettet aus dem Laden hergebracht und mit ihren Elfenfingern dies kaschmirene, weiß und graugestreifte Gedicht des Webstuhls, ohne ihm ein Fäserchen zu krümmen, um jenen Stehkragen geschlungen hätten. Es war keine Halsbinde mehr, es war ein Liebesstrick.

Ueber den Sitz des schwarzen Gehrockes aus feinstem Kammgarn würden Bildhauer gesagt haben: wie gemeißelt; Maler: wie in Stahl gestochen; Architekten: wie abgeputzt. Pienchen hatte kein Wort dafür.

Die Handmanschetten mit den großen, goldenen Monogrammknöpfen, die hellgelben Glanzlederhandschuhe ohne Kutschersteppnäthe auf dem Rücken, der vanilleeisfarbige Sommerüberzieher, das dunkelgraue, halb nach außen gekehrte Seidenfutter, der silberkrückige echte Rohrstock, das schlohweiße blaugeeckte Sacktüchlein in der äußeren Brusttasche: dies Alles war von einer so zauberhaften Gesammtwirkung, daß Pienchen unwillkürlich »O Gott« rief und ihr Blick sich unverwandt auf den Eintretenden richtete, als sei er der Magnetberg und sie das willenlose Eisen.

Die Mutter folgte dem Augenwege der Tochter.

»Ein vermuthlicher Baron,« flüsterte sie. »Paß auf, er setzt sich heran.«

Und so geschah es. – Höflich fragte der junge Mann, ob der Platz neben Pienchen frei sei? Pienchen nickte zustimmend und ward über und über roth, sogar die Ränder der Augenlider färbten sich. Befangen sah sie nieder; nicht um die Welt hätte sie sich ihm zuwenden können, nun da er an demselben Tische saß, so bildschön, unmittelbar neben ihr. Sie wagte kaum zu athmen. Verrieth denn nicht jede Bewegung, wie thöricht sie sei? Und doch konnte sie nicht anders, nie sah sie lebend je bevor so Ueberirdisches, so Herrliches. Was war hiergegen Herr Wergheim, der Naturwissenschaftslehrer, den sie alle vergötterten, den die ganze Klasse für den entzückendsten Menschen des Universums erklärte. Sie erzürnte sich einmal heftig mit Anna Kuntze, die sich zu behaupten erdreistete, Herrn Wergheim würde ein schräger Scheitel viel besser kleiden als der grade, und verwies ihr die lächerliche Anmaßung mit dem Hinweise, daß Herr Wergheim hoch über jedem perfiden Angriff stände. Wäre Anna Kuntze jedoch in diesem Augenblicke zugegen gewesen und hätte gefragt, was denn überhaupt an Herrn Wergheim sei, Pienchen würde mitgefragt haben: ja was eigentlich?

Man brachte vorhin bestellte Beefsteaks mit Ei und Bratkartoffeln. Pienchen sollte essen; essen in seiner Gegenwart, kauend sich sättigen, während er zusähe. Undenkbar!

»Drei Portwein,« beorderte die Mutter, »vom Besten.«

»Für mich nicht, Mama.«

»Nur Zwei! – Du genehmigst ihn doch sonst immer.«

Pienchen wurde eine Schattirung röther.

»Delikates Beefsteak. Blos in Berlin giebt es mehr Soße. Pienchen lang' doch zu, Deins wird ja kalt.«

Sie fühlte, längeres Weigern würde der Mutter und Hille auffallen … vielleicht auch ihm. Ob sie die Handschuhe auszöge? Sie spionirte heimlich über den Tisch, wie es die anderen Damen machten. Einige hatten die Handschuhe abgelegt, andere behielten sie während des Speisens an. Es waren unappetitlich schmierige darunter, mit denen wer weiß was schon angefaßt worden war, richtige Treppengeländerwischer. Pienchen hatte für die Reise ihre ältesten angezogen. Und seine Strohgelben waren so unverdorben neu. Verstohlen streifte sie unter dem Tische das Leder ab und steckte es verlegen in die Tasche.

Und dann aß sie, wie sie gewohnt war, zierlich und elegant mit dem Messer.

Das thaten alle Drei.

Hätte Pienchen Muth gehabt, ihren Seitenherrn anzusehen, würde sie wahrgenommen haben, mit welchem Entsetzen er das Messerterzett anstierte. Hätte sie die Gabe des Gedankenlesens besessen, wäre auch sie entsetzt worden, denn der junge, bildschöne Mann dachte in diesem Augenblicke: »Ist das eine unkultivirte Gesellschaft«, und rümpfte die Nase dazu. »Möglicherweise ist es eine Degenschluckerfamilie, die sich in ihrer Kunst übt,« höhnte er innerlich weiter. »Am besten schaufelt die Alte. Das heißt, meine Nachbarin versteht es ebenfalls.«

Es war Pienchen niemals gesagt worden, daß Erziehung das Essen mit dem Messer ächtet, daß, wer es thut, damit zu erkennen giebt, in Kreisen, welche auf gesellschaftliche Formen Gewicht legen, nicht zu Hause zu sein. Gute Manieren sind ein Freibrief für die Welt und mehr werth als Klaviergespiel, denn nicht überall steht ein Tastenkasten, und nicht immer ist passende Gelegenheit, das Gebet einer Jungfrau an den Mann zu bringen, zumal mancher schon nach dem ersten Aufhau davonläuft. – Nun ist das Eigenthümliche der guten Manieren, daß sie zugleich gefällige sind und Jeder weiß, daß, was gefällt, auch angenehm ist. Ein schönes Menschenkind verunziert sich durch Unmanieren, ein minder schönes wird schmuck durch gefälliges Benehmen. Es giebt eine Aristokratie der Umgangsform, die eigentlich so selbstverständlich sein sollte, wie richtig sprechen und fehlerfrei schreiben. Pienchen spricht und schreibt examensreif – die Mutter ist nicht ganz dativrein – aber wenn ihr ein Erzieherinnenposten wird, bringt sie den Zöglingen das Messeressen bei und sonstige Lebensunart, und macht sie unglücklich, denn die meisten Menschen urtheilen vorab nach dem äußeren Schliff und dann nach den Schulkenntnissen. Es wäre daher in anderer Leute Kinder Interesse wünschenswerth, Pienchen bekäme einen Mann.

Die Alte sperrte soeben den Mund auf, ein halbes, auf dem Messer balanzirendes Setzei hinein zu jongliren.

Das Schiff aber machte in demselben Augenblicke einen Satz, denn nun kamen die Meereswellen, welche von der Nordsee in die Elbmündung hineinschlagen, und das Ei fiel von dem glatten Messer an den Hutbändern herunter auf den neuen grauen Staubmantel. – »Mama'chen, Du hast Dich bekleckert,« rief Hille.

»Es schunkelt ja so,« entgegnete die Alte ärgerlich und wischte ergrimmt auf den Flecken herum. Sie gewann dadurch nicht an Liebreiz.

Die Bewegung des Schiffes nahm zu, es hob sich und senkte sich, als wenn es athmete. Pienchen legte Gabel und Messer fort. Das Essen machte ihr kein Vergnügen mehr und peinlich war ihr, stumm zu sitzen wie ein Stück Holz. Sie wollte sprechen. Aber was? Er hörte ja zu. Durfte sie irgend einen Alltagsausspruch über das Wetter loslassen, über die vielen Menschen, über das Schaukeln? Das wäre flach und abgeschmackt gewesen. Womit aber ein von höherer Bildung zeugendes Gespräch beginnen? Pienchen durchkramte ihr Gedächtniß. Unwillkürlich stieß sie auf die Merowinger. Die waren nicht brauchbar. Dann fiel ihr der Saturn in die Hände. Herr Wergheim hatte so prachtvoll fesselnd gerade von diesem Planeten unterrichtet: er bestand aus Blei und hatte vier Monde. Oder waren es Ringe? Oder war es der Jupiter? – Die Astronomie ward bei Seite geschoben. Literatur mußte zu weit hergeholt werden; sonst in der spanischen wußte sie ziemlich Bescheid. Calderon, Lopez de Vega, Cervantes waren die Hauptvertreter. Da gerieth sie auf ein taugliches Subjekt, und die Mutter fest anblickend, sprach sie: »Die Dampfschifffahrt ist weltbewegend, mittelst eines Theekessels von James Watt entdeckt, geboren 1736, gestorben im Jahre 1819.«

Die Mutter äugte den Gelbhandschuh an, als wenn sie fragen wollte: »Na, mein Junge, was sagst Du zu solchen Kenntnissen?«

Da der Gelbhandschuh jedoch nichts sagte und Pienchen Alles mitgetheilt hatte, was ihr über James Watt kund war, stockte das Gespräch, als wäre es todtgeschlagen.

Herr C. F. A. Büsing kam vorbei. Seine Gesichtsfarbe verrieth den stärkenden Einfluß der Unterdeck-Seeluft. »Frau Lahmann,« grüßte er vertraulich, »sehr angenehm gewesen. Wir sind gleich in Cuxhaven, da steig' ich aus. Wenn Sie auf Deck gehen, bleiben Sie mitten auf dem Schiff, da passirt Ihnen so leicht nichts von wegen der Seekrankheit. Glückliche Reise!«

Die Mutter rief den Steward herbei und berichtigte die Zeche. – »Mir wird hier so,« sagte sie leise, »ich glaube, in der freien Luft giebt es sich.«

Sie standen auf. Der Gelbhandschuh machte höflich Platz. Es kam Pienchen vor, als ruhe sein Blick prüfend auf ihr. Sie fühlte, wie ihr der Nacken brannte, so roth ward sie. Sie wußte selbst nicht, wie sie die Treppe hinauf kam; ihr war, als hätte sie starken Wein getrunken.

Die »Freia« legte bei Cuxhaven an. Viele Reisende verließen das Schiff. Auf der Landungsbrücke standen Erwartende, welche die Ankommenden begrüßten. Cuxhaven ist Hamburgs Badevorstadt. –

Als es weiter ging, suchten die Drei auf dem Oberdeck einen gesundheitlichen Sitzplatz nach Herrn C. F. A. Büsings Anleitung aus. Hier war die Bewegung des Schiffes nicht so merkbar wie unten, in dem nach vorn gelegenen Speisesaal. »Ich habe Müllers von Euch gegrüßt,« sagte Hille. – »Das war überflüssig.« – »Ausstreichen kann ich es nicht mehr, die Karte ist im Briefkasten.«

»Ich weiß nicht,« begann Pienchen, »gesehen habe ich ihn schon einmal; ich bringe nur nicht hin wo?« – »Wen?« fragte Hille. – »Dumme Frage, den Herrn, der sich zu uns setzte.« – »Was geht der uns an?« – »Unterhaltend ist er nicht,« sagte die Mutter, »Herr Büsing gefällt mir besser. Seht Kinder, vor uns ist blos Wasser und Himmel.« – »Das Meer!« rief Pienchen und erhob sich. Ja, das war das Meer.

Dunkel blaugrün lag es ausgebreitet, so weit das Auge reichte und die schneeweiß im Sonnenlichte erglänzenden Streifen, die auftauchten und wieder verschwanden, waren schäumende Wellen.

Nun zeigte die Freia ihre ganze Kraft – frei war das Wasser, frei der Weg – sie flog dahin.

Pienchen versuchte einige Schritte zu gehen, ihr war jedoch, als wiche der Boden unter den Füßen. Sie kehrte um und setzte sich.

»Du wirst so geistlich aussehen, Pienchen. Was ist Dir?«

»Oh, Nichts.«

»Wären wir lieber zu Hause geblieben,« sagte die Mutter weiter, »wenn Du es nicht verträgst. Aber der Arzt meinte, Du müßtest an die See.« – …

»Vielleicht hätte ein Landaufenthalt dasselbe gethan und mein Hutband wäre nicht ruinirt … Damals bei Onkel Chlotar bekam es Dir sehr gut.«

»Onkel Chlotar,« sagte Pienchen, mit einem schwachen Versuche zu lächeln. »Es ist lange her.«

»Du warst kaum sechs Jahr alt. Kannst Du Dich noch auf ihn besinnen?«

»Fast garnicht. Wenn doch nur das Schaukeln aufhörte. Es hebt sich Alles in mir.«

Sie lehnte sich zurück. Auf ihrer Stirne perlte kalter Schweiß, die hellblonden Haare hingen zausig an den Schläfen herunter. Die Wangen waren fahl und die Augen verglast.

Pienchen war nicht die einzige Leidende. In nächster Nachbarschaft brach die Seekrankheit heftig aus und als das erste Beispiel gegeben, folgten andere nach. Die Stewardesse geleitete Wankende in die Damenkajüte hinab, Matrosen brachten Wassereimer und spülten das Deck. Schreckliche aber nützliche Blechpfannen kamen zum Vorschein. Auch Pienchen streckte die Hand nach einer solchen Pfanne aus, just da der Gelbhandschuh vorüberstolzte.

Mit raschem Seitensprung rettete er seinen Anzug aus übler Gefahr. Pienchen aber konnte nicht anders, konnte nicht anders.

Die Seekummer gewohnte Stewardesse trat hinzu. »Fräulein sollten sich unten auf ein Sopha legen,« rieth sie.

»Mein Kopf,« stöhnte Pienchen.

Pienchen wurde genommen und mit Hille's Beistand in die Damenkajüte gebracht. »Ich sterbe,« hauchte sie, »ich sterbe. Werft mich ins Wasser, ins Wasser.«

Kleine Eisstückchen wirkten lindernd. »Ihr Fräulein Schwester scheint nicht die Stärkste zu sein,« sagte die Stewardesse. »Sie hat sich zu sehr mit den Büchern angestrengt,« entgegnete Hille, »die ganzen Nächte saß sie und lernte.« – »Bleiben Sie bei ihr, Fräulein. Es ist kein Wind, in einigen Stunden wird die See ruhiger und die Krankheit legt sich, der erste Schock ist der schlimmste; bei solchem Wetter erholen die Meisten sich bald. Halten Sie sich nur tapfer, der feste Wille nützt mehr, als Medizin.« Die ruhige Frau entschwand, anderen Leidenden Linderung zu bringen.

»Nun kann ich hier Wärterin spielen,« maulte Hille, »eigentlich wäre das Mamas Sache.« – Frau Lahmann war jedoch nicht im Stande, dieser Verpflichtung nachzukommen; eigene Hinfälligkeit entschuldigte sie genugsam.

Viele Krankheiten sind in der Welt, die barbarischste aber ist die Seekrankheit. Nicht daß sie gefährlich wäre, o nein, sie kommt und geht mit den Wellen und hinterläßt keine Nachwehen, aber sie ist entmenschend, weil sie, anstatt Mitleid zu erregen, die Spottlust der Verschontbleibenden reizt. Die Natur, weiser als der Mensch und minder hartherzig, hat jedoch dieser Krankheit in der grenzenlosen Gleichgiltigkeit gegen die Umgebung einen Schutz verliehen, der den körperlich Darniederliegenden vor Zerknirschung über seine Mißachtung gesellschaftlicher Haltung bewahrt. Und wer von denen, die jetzt lachend sich obenauf fühlen, weiß, ob nicht in der nächsten Stunde eine frische Brise daherweht, die den Uebermuth in Verzagtheit wandelt, den Dünkel in Hilflosigkeit. Sturm und Unwetter aber macht Alle, bis auf wenige Ausnahmen, gleich. Schifffahrt ist ein Bildniß der Lebensfahrt. Wehe dem Schiffe, dessen Steuer zerschellte, wehe dem Volke, das sicherer Führung entbehrt. Eine Richtung weist die Kompaßnadel; unbeirrt bei Tag und Nacht, bei günstigem Winde, im wilden Orkan, führt sie zum Hafen. So führt nur Eins aus Volksnoth und Gefahr: die unbeirrte Liebe zum Vaterlande. Und wer da vermeint, das fremde Land sei ein Paradies, der gehe dorthin, um zu erkennen, daß es kein besseres ist, als das eigene.

Am Rande des Horizontes ward jetzt ein Etwas sichtbar, das einem mißgeformten Schiffe ohne Maste und Takelage glich. Es hob sich mälig und wuchs empor. Helgoland war es, das Felseneiland. wie es dem nahenden Auge größer ward, färbte es sich nach und nach im Sonnenlichte und schien backsteinroth daher. Früher, als noch die alten Götter regierten, war die Insel umfangreich und des Lichtgottes Baldur und der lieblichen Nanna Sohn, Forseti, wohnte dort in dem Palaste, dessen goldene Säulen ein mit silbernen Schindeln gedecktes Dach trugen. Jeden Zwist schlichtete Forseti, seine Gerechtigkeit wußte die bittersten Feinde zu versöhnen. Unverletzlich waren selbst die Thiere, welche in der Nähe des Tempels weilten und aus dem heiligen Brunnen tranken. Damals gab es keine Lästerallee, keine zur Gasse aufgestellten Badegäste, die von der Seekrankheit Zerzausten unter Blicken und Bemerkungen Spießruthen laufen zu lassen. Eine wohldenkende Obrigkeit hat zwar die Lästerallee untersagt, aber gelästert wird dennoch und wer recht bleich und elend ans Land wankt, nennen sie »Leiche auf Urlaub«. – Vor Helgoland warf die »Freia« Anker aus. Boote ruderten herbei und Menschen und Gepäck wurden in die schwankenden Barken hinabbefördert. Sauber und farbig wie aus einer Spielzeugschachtel aufgebaut grüßten Unterland und Oberland herüber. – Der größte Theil der Reisenden war am Ziel.

Die Unterbrechung der Fahrt gab den Heimgesuchten auf dem Schiffe Kräftigung. Mutter Lahmann schüttelte den Rest des Unwohlseins ab und ging zu Pienchen, die sich ebenfalls erholte. Die See war ruhiger geworden und das Aergste überstanden. »Ich glaubte, es sei mit mir vorbei,« sagte Pienchen, »es wäre mir auch recht gewesen. Nur ein Gedanke war mir unerträglich, Anna Kuntze nämlich. Sie schwärmt so sehr für Begräbnisse und folgt überall, wo sie irgend ankommen kann. Aber weil sie doch etwas kurz tritt, sieht es immer aus, als wenn sie hinter dem Sarge Kreuzpolka übte. Ich will sie nicht hinter mir haben. O Mama, siehst Du verweht aus!«

»Mit Dir ist auch kein Staat zu machen. Wie kann man in diesem Muff aushalten? Willst Du mit hinauf in die frische Luft? Es ist schön Platz, die hälften Passagiere sind ausgestiegen.«

»Der Baron auch?«

»Welcher Baron? Ach, den meinst Du. Nein, der sitzt und bewundert seine Lackstiefel.«

»Geh nur allein, Mama, ich bin hier ja ganz gut aufgehoben.«

Als die Mutter gegangen, weinte Pienchen bittre Thränen in ihr Tüchlein. Sie fühlte sich verlassen, unbeachtet und übersehen. Niemand kümmerte sich um sie, selbst die Mutter nur so viel als eben nothwendig; Hille vergabte ihre Zuneigung von jeher sparsam. Die Andern hatten mit sich selbst zu thun und der Einzige, ach, dessen Erscheinung sie geblendet und verwirrt, in dessen Nähe ihr Herz gebebt, als stände es zwischen Leben und Tod … o, wenn er ihrer doch nie gedächte, niemals im Leben.

Die Mutter hatte von Glück geredet wie von abgefallenen Aepfeln. In Berlin fanden sie es bis jetzt nicht, aber draußen war es, einige Meilen von Berlin, irgendwo, sie brauchten nur hinzureisen, um es aufzusammeln. Das heißt, wenn es ihnen genügte. Es mußte wirkliches Glück sein, so etwas zum Großthun, neiderweckend, glanzvoll. Fuhr das Schiff solchem Glücke entgegen? Pienchen begann zu zweifeln.

Auf der ruhig gewordenen See das leichte Wiegen war sänftigend. »Wie es auch kommen mag,« dachte Pienchen, »zu Hause bleib ich nicht länger.« Sie empfand die Vergangenheit wie etwas Schmerzhaftes. Als der Vater noch lebte, war das Hausleben auch nicht freundlich gewesen. Das Geschäft hielt ihn vielfach fern. Brachte er Sorgen heim, hallten sie im Familienzimmer wieder; stimmte lohnender Erfolg ihn heiter, erstickte häuslicher Verdruß gar bald seine gute Laune; kein Vorfall der Zwischenzeit blieb ihm erspart, er mußte nachessen, was während seiner Abwesenheit eingebrockt worden war. Von einer Reise einstmals kehrte er nicht zurück. Verlusten vorzubeugen, war er trotz zunehmender Unpäßlichkeit gegangen, weit fort. Statt seiner kam Abends spät eine Depesche, die amtliche Todesanzeige. Am nächsten Morgen erfuhren die Schwestern, daß sie den Vater verloren, aber sie faßten nicht, was das bedeute, da sie ihn nicht vermißten. Für sie war er auf einer Geschäftsreise, wie so oft; sie warteten, bis er wieder einträte und rief: »Da bin ich!« Ueber dem Warten verblaßte das Bild des Vaters allmälig, im Laufe der Jahre erlosch es. In die veränderten Lebensverhältnisse fügten sie sich mit Kindersinn; das Neue und Ungewohnte, die schwarzen Kleider, der Verkauf des Ueberflüssiggewordenen, der Umzug, das Alles kurzweilte sie. Als aber Pienchen der Kindheit entwuchs, als sie vor sich das Leben erschaute, da schreckte sie auf, und Bangen vor der Zukunft beschlich sie. Mit rastlosem Eifer ergab sie sich dem Lernen, Selbstständigkeit zu gewinnen. Ihre Kraft überschätzend, hoffte sie, ihren Weg machen zu können; die Sorge war aber mächtiger als ihre Widerstandskraft. Die Nerven hätten gelitten, so sagte der Arzt; die müßten vorerst in Ordnung gebracht werden. Nie hatte Pienchen sich elender gefühlt als auf dieser wohlthätig und stärkend gerühmten Seefahrt.

»Alles ist Täuschung, Alles,« sagte sie bitter, »nur bei Onkel Chlotar war es gut.«

Sie schloß die Augen. Es ward schattig um sie her, die Gedanken verloren sich in dem Schatten und hörten auf, sie zu plagen. Durch das Grau brach es dann hell hervor, wie blauer Himmel. Kiesbestreute Wege, von Blumenbeeten eingefaßt, traten hervor, ein Haus auch, ein altmodisches Giebelhaus und hohes Baumwerk. Sie sah sich selbst dort auf den Wegen, an der Hand eines freundlichen Mannes, mit einem bunt gestickten Sammetkäppchen auf dem leicht ergrauten Haupte. Das war Onkel Chlotar. Er ging mit ihr zu den Himbeeren. Während sie dahinschritten, zeigte er ihr die Blumen auf den Beeten, seine Lieblinge. Er nannte ihr die Namen und sagte, welcher Pflege sie bedürften, jede nach ihrer Art. Er selbst zog am frühen Morgen das Unkraut aus und begoß die Gedeihenden mit eigener Hand. Ebenso akkurat wie in dem Garten war es im Hause. Auf dem Flur geradeaus war der Kramladen; die Messingstandwage glänzte auf dem weiß gescheuerten Ladentische und Jegliches war entweder sauber geputzt oder mit lichtbrauner Oelfarbe gestrichen. Leute kamen und kauften. Am liebsten verhandelten sie mit Onkel Chlotar, sie fragten nach ihm, wenn Fritz, der Ladendiener, allein da war. Der durfte Pienchen Rosinen geben und Mandeln. Onkel Chlotar hatte es erlaubt.

Es war so gut dort und Pienchen war bei ihm. Aus dem Borne der Erinnerung stieg eine Welt auf, klar und silbern, die Welt der Träume.

Um die Zeit, welche Pienchen liebliche Traumbilder sandte, war das märkische Kirchdorf, wo Chlotar lebte, noch nicht von dem Strome des Werdens berührt, der sich über Deutschland ergoß; wie Alles gewesen, so blieb es. Chlotar, der ältere Bruder, übernahm das väterliche Grundstück mit dem Hause, dem Garten, den Aeckern und dem einträglichen Kramgeschäft. Der jüngere Bruder strebte hinaus, ihm ward die Heimath zu eng. Chlotar blieb, ihn hielt die alternde Mutter, der er kindlich zugethan, willig in allen Wünschen folgte. Er war ein großes Kind, trotz seiner Jahre, und dachte dennoch alt mit der Mutter, die der Vergangenheit mehr lebte, als der Gegenwart. Die Zeit zum Heirathen versäumte er, und als die Mutter starb und begraben wurde, war ihm, als trügen sie sein Herz hinaus und die Kraft zum Lieben.

Bisher war er der Einzige im Ort gewesen, der Handel trieb. Eines Tages aber siedelte sich ein Konkurrent an, ein junger Mann, groß geworden in den Anschauungen und Griffen der Neuzeit. Der heirathete in eine der verzweigtesten Bauernfamilien hinein, damit er Anhang gewänne, und wußte die Kunden in heranziehender Weise zu nehmen. Die Kinder gingen zu ihm, weil er ihnen Naschbares schenkte. Den Weibern gewährte er Kredit, den Männern setzte er ein Glas Branntwein vor, wenn sie einkauften. Auch die Nachbardörfer besuchte er, spielte den Geselligen und Gefälligen, und wußte leichtlich die Befangenen sich zu verpflichten.

So gelang es ihm, zahlreiche Kundschaft gar bald zu ergattern, während Chlotars Geschäft mehr und mehr zurückging. Er vergeudete seine Zeit nicht mit der Pflege duftenden Goldlacks und froh zierender Blumen, ihm war der Sang der Amsel gleichgiltig, er kannte weder Sonntag noch Festtag, – nur eins – den Groschen.

Als Chlotar einsah, daß er dem Gegenbetriebe unterliegen werde, verkaufte er sein Anwesen mit dem Bedinge, in dem väterlichen Hause wohnen zu bleiben bis an sein Ende. Schon längst war er bei der Schwägerin in Ungnade gefallen, seitdem sie erfahren, daß es rückwärts mit ihm ginge und er nicht mehr der Erb-Goldonkel sei. Wie sich der Nachlaß geringfügiger herausstellte, als sie erwartete, schmähte sie sein Andenken heftig.

Nun ruht er unter derselben Trauer-Esche neben der alten Frau, er, der nie weltklug ward, weil er in jeder aufbrechenden Knospe ein Wunder sah, dem Werktage Sonntagsstunden abgewann, die Blumen liebte und die Vögel und seine Mutter über Alles. –

Die Freia ankerte auf der Rhede vor Wyk. Wer allhier zu bleiben gedachte, ließ sich ans Land setzen. Die Syltreisenden aber stiegen auf einen kleinen Dampfer über, der sich unmittelbar an das große Schiff legte, denn jetzt begann die Fahrt durch das Wattenmeer, das für tiefgehende Fahrzeuge zu flach ist.

In den zwischen Sandbänken, Austernbänken, Inselchen und Inseln sich durchwindenden Wasserfurchen hängt der Schiffer nicht nur vom Wetter ab, sondern auch von Fluth und Ebbe des Meeres, die ist es, welche ihm Abreise und Fahrt vorschreibt. In den zur Ebbezeit wasserarmen Rinnen fährt er leicht auf und muß warten, bis die nächste Fluth ihn wieder löst. Deshalb geht es nur langsam auf gefährdeten Strecken. Die Matrosen messen mit einer langen eingetheilten Stange vorn am Bug die Wassertiefen aus, und rufen dem Kapitän laut zu, wie viel Fuß hoch das Wasser steht. Je niedriger der Wasserstand, desto behutsamer wird der Gang des Schiffes. Die Reisenden schmälen und brummen und wollen vorwärts, denn sie sehen Sylt vor sich, wie ein im Kleinen nachgebildetes Alpengebirge, dessen weiße Schneegipfel aus dem blauen Meere tauchen, aber wie tobig würden sie werden, wenn das Schiff plötzlich aufsäße und, stundenlang vom Sande festgehalten, der befreienden Flut warten müßte? Wer reisen will, thut weise, das Kräutlein Geduld mit zu nehmen, denn erstens macht der übereifrig Drängende Andere murrsinnig und erntet Mißmuth, und zweitens hat Schimpfen und Schelten im Eisenbahnwagen je weder den Fahrplan plötzlich verändert, noch den Dampfdruck im Lokomotivkessel auch nur um ein tausendstel Gramm auf den Geviertzentimeter erhöht. Geduld ist auf Reisen eben so viel werth, wie ein Gummikissen … wenn nicht mehr.

Mutter Lahmann schlug sich auf die Seite der unzufriedenen Besserwisser. Warum fuhr man nicht geradezu, anstatt unglaubliche Krümmungen zu machen; warum heizte man nicht schärfer; warum war das Schiff nicht größer; warum wählte man keinen andern Weg, als gerade diesen? Würde man überhaupt ankommen? – »Loddrige Zucht!« gnetterte die Lahmann. Sie wußte es am allergenauesten, denn sie schwamm zum ersten Male auf Salzwasser. Etliche Male stieß das Schiff leicht auf den Grund, der Ruck war fühlbar und das knirschende Scheuern auf dem Sande deutlich hörbar. »Wir werden uns beschweren,« rief ein Bürschchen, das wegen zu rascher Erziehung zum großen Herrn wie Bleichsellerie aussah. Der Kapitän redete kein Wort. Sein graublaues Auge war fest vorwärts gerichtet, er kannte das Fahrwasser, sein Schiff und seine Pflicht.

Pienchen freute sich der einbrechenden Dämmerung, sie wünschte zwischen sich und dem Gelbhandschuh dunkle schwarze Nacht. Wie ein Falter im Sonnenschein war er durch ihr Sehfeld gegaukelt, nun hatte er sich wieder in eine Raupe verwandelt, und zwar mit Hülfe eines dachmoosfarbigen Regenmantels. Weit ab von ihm barg Pienchen sich in einer Ecke, die Leidenszüge des Antlitzes von dichtem Schleier verhüllt. »Onkel Chlotar war gut« mußte sie immer denken.

Der Leuchtthurm von Kampen auf Sylt begann sein Licht auszustrahlen. Langsam nahm es zu, glühte in vollem Glanze wie ein großer Stern, dann glomm es ab, als ginge es aus. Nach einer Weile fachte es sich aufs Neue an, erreichte höchste Kraft und erstarb allmälig wieder. So warnte es in das Meer hinaus.

Der elektrische Scheinwerfer des Schiffes erhellte die Wasserstraße zwischen den Untiefen. Die Reisenden waren schweigsam geworden, eingemummelt in Decken und Tücher ersehnten sie die Landung. Mit halber Geschwindigkeit folgte das Schiff dem Mondscheinlichte, das es vor sich hersandte. Nun machte es eine Biegung, und der Gang der Maschine beschleunigte sich, das tiefere Wasser war erreicht. Nach einer Weile, fügsam den Schiffsleuten gehorchend, schmiegte es sich an die Brücke von Munkmarsch. Dort wartete der Zug der Dampfspurbahn, der Reisende und Gepäck in einer knappen Viertelstunde nach Westerland brachte.

Da die Wohnung rechtzeitig bei der Badekanzlei bestellt worden war, konnte die Familie Lahmann unmittelbar nach ihrer Ankunft einziehen. Herr Eschels nahm seine neuen Hausgenossen selbst in Empfang und geleitete sie in die freundliche Wohnung. –

»So,« sagte die Mutter, »das wäre überstanden. Aber Eins sage ich Euch, wenn ich all' die Drangsalirung umsonst gehabt haben soll, dann erlebt Ihr Verschiedenes.«

»Mama,« entgegnete Pienchen mit ungewohnter Festigkeit und Ruhe, »ich weiß, was Du meinst. In mir irrst Du Dich aber.«

»In mir auch!« fügte Hille mit Ueberzeugung hinzu.

Mutter Lahmann machte große, runde Augen und stemmte die Arme in die Seite. »Was hat das zu bedeuten? Gestern strittet Ihr Euch noch um die Generale und heute thut Ihr als wenn Ihr ins Kloster wolltet? Seid Ihr denn so dumm, daß Ihr Euch immer und jedes Mal in die verkehrte Pferdebahn setzen müßt? Aber wartet nur, Euch kommen die Würmer früh genug ins Gewissen.«

»Ich nehme nicht den ersten Besten,« sagte Hille.

»Ich hasse die Männer,« sagte Pienchen.

»Daß ich nicht lache,« stieß die Alte höhnisch hervor. »Ihr seid wohl Prinzessinnen mit'n Loos zur Schloßfreiheitslotterie? Seht doch an. Wo habt Ihr denn Eure Rittergüter zu liegen? Auf der Tegler Chaussee wehen sie herum, da ist der schönste Sand.«

»Mama,« ergriff Hille das Wort, »nach jeder Landpartie bist Du ungemüthlich und nun nach der Seepartie erst recht. Wollen wir nicht lieber in die Baba gehen?«

»Ich ungemüthlich? Denk nicht dran. Aber Ihr seid Rabenkinder, Euretwegen kann ich betteln gehn, Euch rührt das nicht. Woher ist denn das Geld für diese Reise? Aufnehmen hab' ich es müssen. Was noch nachbleibt, davon können wir nicht weiter leben, also müßt Ihr darauf zustreben, daß Ihr versorgt werdet. Kinder, Kinder, verrechne ich mich in Euch, geht es uns miteinander schlecht.«

Der Ausdruck wahrhaftiger Aengstlichkeit, mit dem sie die Töchter forschend anblickte, erschreckte so Hille wie Pienchen.

»Mama!« riefen beide.

»Nun wißt Ihr, wie's steht. Thut, was Ihr nicht lassen könnt, Ihr war't ja von jeher unvernünftig!«

Die Mutter hatte sich leer geredet, die Töchter fanden keine Worte nach der Eröffnung über die Lage der Dinge; es ward unheimlich still in dem Gemache, so still, als sei der Tod hindurch geschritten.

Der Nachtwind trug den Schall der Brandung her, das Rollen der Wogen, kraftvolles Rauschen.

Genesung sollte die See bringen.

Konnte sie auch den Gram hinwegrauschen, der zwei jungen Herzen das Leben bitter machte wie Galle?


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