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Hille erklärte rundweg, das Konzert nicht zu besuchen, und wenn sie vielleicht doch mit ginge, nicht ein einziges Mal zu tanzen.
»Dir pickt er wohl?« fragte die Mutter.
»Ich habe mir den Fuß verstaucht.«
»Wodran denn? An der Kommodenecke?« »Na, mir kann's recht sein, sparen wir die Ausgaben. Kinder, Kinder, habt Ihr denn gar kein Einsehen? Wir zoddeln ebenso wieder nach Berlin, wie wir hergereist sind, bloß daß das Geld alle ist. Wie soll das werden? Mit der Lotz war es auch gründlich vorbei gelungen. Ich konnte die Person von gleich an nicht ausstehen, sie sich stets aufgedonnert, die Pferde scheu zu machen, und der Kaffee zwirnsfadendünne. Dazu ladet sie noch ein und schämt sich nicht. Die muß sich noch gründlich umändern, oder sie lernt mich kennen.«
»Keinen Streit mit ihr, Mama,« bat Pienchen, »ich hatte ebenso viel Schuld. Ich bin leidend, wie könnte ich da Kranke pflegen?«
»Warte nur, in Berlin zeigt sich so ein neumod'scher Dampfdoktor an, der kurirt Dich in acht Tagen. Sei nur munter, Pienchen, wer weiß, wozu die Wohlthätigkeit gut ist? Bälle bringen Manches ins Loth.«
»Mama, quäle mich nicht.«
»Ih, wo werd' ich, Du bist ja die Gelehrte und Studirte, Du weißt ja Alles besser; ich versteh ja garnichts. Wie kann ich mir unterstehen, Dir Rath zu geben? Diese Frechheit meinerseits? Ich habe blos stolz zu sein, daß mir die Gnade geworden ist, eine examinirte Tochter die meinigte zu nennen, und Gott zu danken, daß ich mich nicht von ihr trennen brauche!«
Pienchen biß die Zähne auf einander und saß da, als wäre sie von Stein. Und die arme Brust flog in Hast, wie gehetzt, und das Herz klopfte, als wollte es seine Schläge eilend auszählen, damit es rasch, rasch zum Ende käme.
Hille war geflohen, aus zwei Gründen. Einmal, weil sie wieder unerhört gelogen hatte, und zweitens, weil sie wußte, daß die Mutter so lange an ihr herumfoltern würde, bis Alles an den Tag gebracht. Das hatte Zeit bis Berlin; dort hatte sie Beistand … von Minna. Wenigstens konnte sie hinüberhuschen nach Minna, wenn es zu Hause nicht auszuhalten war. Ja, wenn die Minna nicht wäre!
Hille schützte am folgenden Tage Müdigkeit vor, schreckliches Ziehen im Knöchel und solches Surren in den Ohrennerven, daß sie Musik nicht vertrüge.
Mutter Lahmann sagte sich zum Ersten: »Da sitzt was hinter.«
Auf dem Wege nach dem Kurhause kam sie mit Pienchen an der Post vorbei. »Wahrscheinlich sitzt es hier,« sagte die Alte sich zum Zweiten, ging hinein und fragte, ob ein postlagernder Brief für ihr Töchterchen Hille da sei; das Kind hätte sich den Fuß verstaucht. Der höfliche Beamte sah nach und reichte alsbald einen Brief durch den Schalter.
Es war ein Brief aus ausgegrabenem Papier mit wunderschöner Aufschrift; allerdings nicht von Minnas Hand.
Die Alte dankte honigsüß lächelnd und ließ den Brief in die Tasche ihres Kleides gleiten. »Nun hab' ich's,« sagte sie sich zum Dritten, »und Hille soll's kriegen. Na warte.«
Liebe Hille, Flunkern hat kurze Beine.
Das Konzert war ausgesucht. Mehr Leute als drin waren, konnte der Kurhaussaal nicht fassen, und was ist für die Mitwirkenden wünschlicher, als ein überfülltes Haus? Und was können Zuhörer sich Besseres wünschen, als zufriedengestellte Mitwirkende?
Das Publikum zufrieden zu stellen, wird niemals ganz gelingen; Hämische sind immer darunter mit lauerndem Tadel. Die pflegen ihre Schadenfreude mit der Versicherung zu beschönigen, Tadel fördere die Kunst, obgleich andererseits behauptet wird: der sicherste Weg, ein Kind zu verderben, sei der, ihm Fehler vorzuwerfen, wenn es sein Bestes gethan hat. Und Künstler sind große Kinder, wie kämen sie sonst wohl in das Himmelreich der Kunst?
Allerdings ist nicht jeder Kunstbetreibende Künstler und deshalb ist mancher Kunsthimmel auch nur blaugemalte Leinewand.
Bei diesem Konzert war die Zufriedenheit des Publikums jedoch eine die Nörgelsucht völlig unterdrückende. Gleich das erste Lied, das der Bassist sang, – ein Hüne von Stubenofenlänge – das Lied von den todten Maiblümchen, gefiel außerordentlich. Dann deklamirte eine junge dramatische Künstlerin ›das todte Roß‹, das die Herren lebhaft beklatschten. Die Damen waren zurückhaltend, einige fanden ihr Auftreten für Sylt zu herausfordernd. Der Tenor mit dem Liede von der todten Nachtigall ward wieder mehr von den Damen ausgezeichnet, als von den Herren, denen er zu fade vorkam. Schnellbeinchen spielte Tristan und Isolden's Liebestod und erntete wüthenden Beifall. Runft erklärte am Tage darauf, das Kind habe mit sieben Freundeskraft geklascht und müsse Schwielen in den Händen haben.
Nachdem in dem ersten Theile ein Strauß von Grabespoesie und Sterbemusik verabreicht worden war, brachte der zweite Theil des Konzertes heitere Sachen, und die erfreuten baß. Jeder Vortrag ward mit einmüthigem Jubel entgegengenommen, das wohlthuende Gefühl gemeinsamen frohen Genusses brach durch und wurde zu lautem Danke. Selbst die Klüglinge ließen sich fortreißen und vergaßen das Kritteln.
Während der Instandsetzung des Saales für den Tanz nahm das Publikum die übrigen Räume des Kurhauses in Beschlag. Mutter Lahmann hehlte sich im Lesezimmer hinter einer Zeitung. Sie las aber nicht die Neuigkeiten des Blattes, sondern den Brief auf angebranntem Papier. Sie hatte ihn aus Versehen geöffnet, ganz zufällig, dafür konnte sie nicht. Nette Nachrichten. Sie kochte innerlich. »Mit Klempners verschwägert, das fehlte! Der Blechfritze schreibt per Du. Na, aber …«
Pienchen, höflich von Dr. Sattler angeredet, war angenehm berührt, Jemand zu haben, mit dem sie einige Worte wechseln konnte. Dr. Sattler fand es heiß, er würde vor dem Kränzchen gehen, ob ihr nicht auch das Konzert genüge? – Pienchen entgegnete, sie freue sich auf den Tanz. Dr. Sattler meinte, es sei kurgemäß, Aufregung zu meiden. – Pienchen erwiderte, Zusehen könne doch nicht schaden. – Dr. Sattler sagte, die Meisten gingen und empfahl sich.
Das war allerdings nicht thatsächlich, es blieben recht viele. Als die Klänge der Polonaise das Tanzvolk sammelten, war der Saal fast zu klein für die Herbeieilenden.
Der Gelbhandschuh eröffnete den Ball mit der schönen Lüneburgerin. Sie waren verlobt, sollten Beide reich sein und wären wie geschaffen für einander. So erzählte man sich.
Pienchen hatte keinen Tänzer zur Polonaise, Dr. Sattler hatte sie nicht aufgefordert, und die anderen ihr bekannten Herren standen im Rauchzimmer, wo Schnellbeinchens Erfolg mit Wein begossen und Herr Brömmer zum Bescheidthun angehalten wurde. »Nur Muth,« sagte Herr Lotz und schenkte dem Kollaborator aufs Neue ein.
Der Kollaborator sah unheimlich festlich aus. Der Haarkünstler hatte versucht, ihn in einen Adonis zu verwandeln, so weit dies mit Scheere, Brenneisen und Haarleim erreichbar war. Die übergroße hellseidene Halsbinde stammte aus Schnellbeinchens Vorrath, Handschuhe waren unter Runfts Leitung bei Thiesen und Brodersen gekauft, weiße, mit breiten schwarzen Steppnähten – Todtenpfoten –, wie Himeyer hinterrücks sagte, der darauf bestand, daß Herrn Brömmers Anzug aufgebügelt wurde. Das Kind hatte ihn schließlich und zuletzt mit Ylang-Ylang beträufelt. Geschehen war, was geschehen konnte, und doch glich der Kollaborator einer Wachsfigur, die sich über sich selbst mordsunglücklich fühlte.
»Zählen Sie gut, eins, zwei … eins, zwei,« ermahnte Herr Lotz und stieß mit ihm an.
»Wir kommen Alle zur Hochzeit,« sagte das Kind und stieß ebenfalls mit ihm an.
»Morgen werben sie in aller Form bei der Mutter,« sagte Schnellbeinchen und stieß an.
»Prost!« sagte Himeyer und stieß an.
Das Skelett machte unglaublich runde, graublaue Augen und fletschte. Es stieß jedoch mit Jedem an und trank.
»Aber ernst bleiben,« sagte Herr Lotz, »ja, nur ja nicht lachen, sonst ist die ganze Verlobung in'n … in'n Mond. Ich gehe jetzt zu der Alten und schlage Vorpfahl. Herr Brömmer … meinen Glückwunsch im Voraus.«
Er ging. Das Skelett sah ihm mit einer Miene nach, als wäre Herr Lotz gegangen, das Beil zu holen und die Hinrichtung einzuläuten. –
Herr Lotz begrüßte Frau Lahmann, und da ein Nebenstuhl frei war, setzte er sich zu ihr. Die Alte war unliebenswürdig, sie saß verdrossen allein mit Pienchen. Niemand kümmerte sich um sie. Deshalb sagte sie spitz: »In meinen jüngeren Jahren waren die Herren rücksichtsvoller als heute. Hatte man einmal die Ehre der Damenbekanntschaft genossen, kam man 'ran.«
»Die Herren stärken sich blos ein Bischen, und wenn ich mich nicht irre … dann liegt etwas in der Luft.«
Die Alte sandte ihm einen langen ausholenden Blick zu.
»Jawohl,« antwortete Herr Lotz, und stieß sie leicht mit dem Ellbogen. – Die Alte lächelte.
Pienchen wollte jetzt, sie hätte Dr. Sattlers Rath befolgt: es war zu bitter, unter all' den Frohen vernachlässigt zu werden, ausgeschlossen von den Freuden zu sein, denen die vielen Anderen mit Lust sich hingaben.
Am heitersten ging es gegenüber zu, am anderen Ende des Saales, in der Ecke, wo die schöne Lüneburgerin in den Pausen Hof hielt. Diese hatte keine Note über gesessen; die Tänzer drängten sich um sie. Pienchen kam das Märchen vom Aschenbrödel in den Sinn. Es sind nie Wunder gewesen und es wird nie welche geben, dachte sie, sonst wünschte ich mir einen Baum, der Gold und Silber über mich rüttelte, daß ich auch so wäre, wie sie, so beneidet, so glücklich. Wie freudenschön sie dahinschwebt, welch' schönes Paar: er … und sie. O wäre ich an ihrer Stelle.
»Die Lamatochter sitzt immer noch,« kicherte man drüben. »Was will die überhaupt hier?« – »Sie hat ihr Examen gemacht und sagt Kuverte.« – »Und wie sieht sie aus!« – »Es geht.« – »Zum Mindesten nicht schick.« – »Von Schick keine Idee.«
»Garnicht schick!«
Die Musik begann.
»Das ist Ihre Nummer,« sagte Herr Runft zum Kollaborator. »Machen Sie, daß Sie hineinkommen.«
Die Grubenherren schoben den Kollaborator in den Saal und stellten sich seitwärts auf, zu beobachten, wie ihr Schützling sich gehaben werde.
Als Herr Brömmer durch den Saal ging, betrachteten ihn viele. Sie schienen zu fragen: wie das wohl wird?
Vor Pienchen machte er Halt.
»Das älteste Lama ist die Erkorene,« flüsterte man lachend in der Ecke. – »Ich tanze noch nicht,« sagte die schöne Lüneburgerin; »das will ich erleben.«
»Er ißt auch mit dem Messer,« sagte der Gelbhandschuh.
»Da passen sie ja kostbar zusammen.«
Erröthend stand Pienchen auf, legte ihre Hand auf Herrn Brömmers Henkelarm und schloß sich mit ihm den wartenden Paaren an. Dort standen sie in Reih' und Glied unter den Fröhlichen.
»Wie meinten Sie vorhin?« fragte Frau Lahmann den Kapitän.
»Morgen früh hält er um Ihr Fräulein Tochter an. Er hat ein schönes Einkommen und rückt allmälig in die oberen Fächer. Er ist ganz alle in sie.«
»Ohne Spaß?«
»Wird er sich denn sonst die Haare brennen lassen?«
»Na ja, deshalb kam er mir so außerhalbsch vor.«
»Und herzensgut ist er, eine Seele von Mensch!«
»Das Herz ist die Hauptsache. Hat er wirklich gesagt, morgen früh?«
»Oder auch heut Abend.«
»Es ist besser, ich spreche vorher mit meiner Tochter.«
Noch drei Paare standen vor Pienchen und Herrn Brömmer. Er zählte schon in Gedanken: Eins, zwei – –.
Herr Lotz nickte ihm Muth zu. Herr Brömmer lächelte. »Er grinst die Partie auseinander,« dachte Herr Lotz. »Und richtig, der Dösbattel nimmt den verkehrten Fuß.« Herr Lotz schlug sich mit der geballten Faust vor die Stirn. Daran war er ja selbst Schuld, er, der Kapitän, er hatte den Kollaborator bei der Tanzunterweisung auf dem Thinghügel ja als Dame genommen.
Es war schreckhaft zu sehen, wie der angestutzerte Kollaborator, jeglicher Kunst des Tanzens bar, mit Todesverachtung darauf los hoppste und Pienchen herumzerrte, schreckhaft für wohlwollend Nahestehende, für Unbetheiligte jedoch ein Gaudium.
Pienchen suchte ihren Ballherrn in Takt zu bringen. Vergeblich; der Zweitritt war unausrottbar. Sie suchte sich von ihm zu befreien. Umsonst. Die knochigen Hände in den schwarznähtigen weißen Handschuhen faßten sie wie im Krampfe.
Bis zur Ecke riß er Pienchen, bis dahin, wo die schöne Lüneburgerin und ihr Hofstaat unverhohlen jubelten und lachten. Einen Blick aufglühenden Hasses warf Pienchen der schönen Grausamen zu, einen herzzerreißenden Blick stummen Vorwurfes dem Gelbhandschuh, und dann war ihr, als lösten sich die klammernden Hände und sie sänke in eine schwarze, bodenlose Tiefe.
Plötzlich aber fühlte sie sich gehalten, hörte die Musik wieder, sah helle Lichter und befand sich im Kreise der Tanzpaare, als sei nichts geschehen. Nur ein anderer Tänzer führte sie leicht und sicher.
Alles das war wie im Nu vorgegangen. Kaum gewahrte Dr. Haller, wie der Kollaborator und seine Dame zum Gespött geworden waren, als er rasch hinzusprang, Pienchen umfaßte und vor dem Umsinken bewahrte. Und wie er sie in den Tanz hineinzog, so entraffte er sie der Ohnmacht, die aus der lachenden Ecke auf sie eindrang und sie niederzuwerfen drohte.
»Darf ich auch um den nächsten Tanz bitten?« fragte er.
»Nach Hause,« flehte Pienchen. »Nach Hause!«
Er fühlte, wie sie schwerer und schwerer ward. »Fassung,« raunte er ihr zu und geleitete sie aus dem Saale.
Die Mutter kam. »Pienchen, Du bist ja ganz blaß geworden. Kannst Du das Tanzen nicht vertragen?«
»Es war zu heiß drinnen,« sagte Dr. Haller.
»Zu heiß,« fuhr es Pienchen durch. Hatte Dr. Sattler ihr nicht vorher gesagt, es würde heiß sein, zu heiß? Ach, nun ward ihr klar, man hatte sich einen Scherz mit ihr erlaubt. Darum war das Skelett so ausstaffirt, darum erschienen die Herren mit einem Male im Saale. Darum! Darum! Dr. Sattler wußte davon, er wollte sie warnen, sie aber hatte ihn nicht verstanden. Sie bot all ihre Kraft auf. »Bitte, bemühen Sie sich nicht,« lehnte sie Dr. Hallers Begleitung ab, »Ihre Freunde möchten Sie vermissen.«
Wie war es möglich, daß sie gelassen blieb, nicht in Zorn aufraste, und Schmach und Schimpf zurückschleuderte?
Ihr war, als läge zwischen den letzten Minuten und jetzt, dem schweigenden Gange nach Hause, ein langes Leben voller Erfahrung und Erkenntniß, und jeder Schritt führe sie aus trüber, schmerzhafter Vergangenheit vorwärts, einem unbestimmten Besseren entgegen, das sie mit eigener Kraft erzwingen werde, bis sie es wirklich halte und fest. Nur keine Gemeinschaft mit den Menschen, die ihr Unrecht gethan. Nichts von all Denen, Nichts. Jeder Beistand wäre eine Erniedrigung. Sie hatte unverdient, grausam gelitten. Das Leid hatte sie gereift.
Das Licht der Sterne war zu schwach, sonst hätte die Mutter zu ihrer Verwunderung wahrnehmen müssen, daß über Pienchens Antlitz verklärende Hoheit ausgebreitet lag, gerechter Stolz, der beleidigten Menschenwürde einziger Vertheidiger. –
Hille war gedrückter Stimmung. »Schon aus?« fragte sie die Eintretenden zag.
»Das Vergnügen hatte bald ein Ende,« entgegnete die Mutter. »Ich in meiner Jugend hatte mich nicht so ungeschickt, ich war eine gesuchte Tänzerin, und wenn mein Herr mal neben den Takt trat, benahm ich mich nicht albern. Sieh mich nicht so an. Jawohl albern.«
»Mama, willst auch Du mir Unrecht thun?« Und groß schaute Pienchen die Mutter an; das war der Blick einer Märtyrerin.
Betroffen wandte die Mutter sich ab. Sie setzte sich und begann zu flennen. »Wie wollte ich Dir Unrecht thun, Pienchen, Dir, mein Herzenskind, wie könnte ich wohl? Bist Du doch die Einzige, die der alten Mutter die letzten Lebenstage versüßen wird, Du, mein Pienchen, meine Stütze, meine Hoffnung. Denn die Andere« – hier ward die Stimme wieder thränentrocken und scharf – »die Andere wirft sich weg …«
»Mama!« rief Hille, gluthroth geworden.
»Wirft sich weg … Glaubst Du, ich sage zu dem Klempnergesellen Ja und Amen?«
»Ich … ich …« stotterte Hille.
»Lüge nicht; ich weiß Alles. Ganz aus Zufall machte ich diesen Brief auf. Kinder müssen keine Geheimnisse vor den Eltern haben …«
Hille stürzte auf den Brief zu, den die Mutter aus der Tasche zog, und drückte ihn ans Herz. »Wenn Du's weißt, ist es gut, Mama; wir wollten Dich sonst erst in Berlin überraschen.«
Die Alte lachte heiser. »Danke für solche Ueberraschung, die verbitte ich mir ein- für allemal.«
»Ich lasse nicht von ihm und nicht von Minna. Mama, liebste Mama, sage Ja und mache mich glücklich, ach so glücklich.«
»Unmöglich. Und wenn ich auch wollte. Wenn Deine Aussteuer davon abgeht, und was von Onkel Chlotar auf Dich kommt, wovon sollen ich und Pienchen dann leben? Verlangst Du, daß ich Deinetwegen verhungere?«
»Wir brauchen keine Aussteuer …«
»Sollen Klempners uns Powerteh vorwerfen, uns, die wir hoch über ihnen stehen? … Ja, wenn die Badereise nicht so viel gekostet hätte und all das Geld für Pienchens Wissenschaft, dann möchte es zur Noth gehen, oder wenn Pienchen Stellung hätte, oder wenn … ja, von Pienchen hängt es ab.«
Die Alte hielt inne. Pienchen kehrte abwehrend beide Hände gegen die Mutter, sie wußte, daß der nächste Augenblick Entsetzliches bringen würde, es sagte das irgend Jemand, ein Ungesehenes, ein irgend Etwas mit deutlicher Stimme, und doch nur ihr vernehmbar. Hätte sonst Hille freudig gerufen: »O, dann ist Alles gut. Pienchen gönnt mir Theodor.«
»Von Pienchen hängt es ab,« begann die Alte wieder. »Wenn sie einen Mann mit gutem Einkommen nimmt, hat sie Versorgung und wir Alle sind geborgen. Und es ist Einer, der will sie, mit Einkommen und Stellung. Morgen früh holt er sich das Jawort von Dir, Pienchen; meine Einwilligung weiß er, daß er sie hat.«
»O, Pienchen!« rief Hille, »denke Dir, wir beide verlobt! Gleich schreibe ich an Theodor, daß Mama … warum antwortest Du nicht, Pienchen? Was siehst Du so?«
»Ich weiß, wer es ist,« sagte Pienchen tonlos. »Herr Brömmer.«
Die Mutter bejahte mit stummem Kopfnicken.
Hille schwieg bestürzt.
Pienchen zündete ihr Licht an. »Laßt mir Zeit bis Morgen,« sprach sie kaum hörbar. »Gute Nacht.«
Als sie gegangen, fragte die Mutter: »Was hat sie? Ich begreife sie nicht.«
»Mama, könntest Du Herrn Brömmer einen Kuß geben?«