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Fünftes Kapitel.


Südwestwind, klarer Himmel mit langsam ziehenden weißen Wolkenballen, dunkle, wogende See, darauf Lichtfäden wie goldenes Netzwerk flotten. In der Brandung richtet das Wasser sich auf, smaragdgrün vom Sonnenschein durchleuchtet. Der Welle Grat kräuselt sich, und in mächtigem Sturze zerdonnert das ungestüme Gebilde hallend und schäumend am Strande. Die Kraft des Meeres tobt sich aus im Wellenspiel, zerstäubte Salzfluth, vom reinen Hauche der See getragen, breitet sich vor den Dünen aus und nebelt selbst das Nahe in bläulichen Ferndust ein. Athmenden Menschen ist die salzfeuchte Luft Heilgeberin, nur Brillensichtigen macht sie Beschwer, deren Sehgläser sie alsbald mit einer trübenden Krystallschicht überzieht. Das aber läßt sich ertragen.

Die kleine blaugestreifte Flagge der Doktorengrube flatterte im Winde, ein Merkmal, daß Jemand darin war. Wer zuerst kam, hatte die Verpflichtung, sie zu hissen, den Uebrigen zum Zeichen.

Dr. Haller war der längste in der Doktorengrube und hieß deshalb das Kind. Obgleich noch jung an Jahren, ward er gesucht. Seine Kranken sagten, es ginge Ruhe von ihm aus, wenn er an ihr Bett träte; sie fühlten, wie das Mitleid in ihm sänne, zu helfen und zu heilen.

Dr. Addison, der Kürzeste, ward Schnellbeinchen genannt, weil er auf Treppen beängstigende Geschwindigkeit zu entwickeln verstand. Er hatte sich das in der Armenpraxis angewöhnt, bei der die Aerzte das Klettern lernen, sei es unter den Dachboden oder in höhere Aemter. Nebenbei spielte er vortrefflich Klavier. Die Beiden waren gut befreundet, konnten aber nicht leben, wenn sie nicht von Zeit zu Zeit auseinander geriethen. Einen der beliebtesten Streitgegenstände bildete die Musik. Das Kind war notenfremd, hörte aber gern zu, wenn Töne erzeugt wurden. Dagegen liebte es nicht das Reden über Musik, und wollte sich nie Mühe geben, die neuen Weisen zu ergründen, in denen mehr Philosophie als Melodie verborgen sein soll. Schnellbeinchen versuchte oft, ihn zu überzeugen, aber dann ward er eigensinnig.

Der dritte Doktorengrubenmitbewohner war der Maler Carl Himeyer, mittellang und mitteldick, Anhänger jener Richtung, deren Jünger die Bilder der alten Meister zwar hochschätzen, sie aber am liebsten so hoch hängen möchten, daß ihre eigenen Werke an die besten Plätze kämen. Er hielt wenig von Historienbildern, die er für falsch erachtete, da Natur das Wenigste daran sei. Ihm galt die Natur als Meisterin in allen Dingen der Malerei. Sie nannten ihn Carlo Dolce.

Dr. Sattler – den körperlichen Verhältnissen nach zwischen dem Maler und Schnellbeinchen einzureihen – hatte sich selbst als Umsattler vorgestellt, weil er sein Fortkommen bei verschiedenen Wissenschaften versucht, das Reitthier aber gewechselt hatte, sobald er eingesehen, daß er es nicht bändigen würde. Der Vergleich der Wissenschaften mit Reitthieren läßt an Ehrerbietung viel zu wünschen, aber bei genauer Betrachtung ergiebt sich, daß gar Viele die einmal erwählte Wissenschaft als ihren Brot-Esel behandeln, der sie selbst und den Mehlsack schleppt, daß Manche sie als Renner zum Vorwärtsstreben gebrauchen. Und nicht Wenige, die zu spät begriffen, daß ihre Wahl eine Täuschung war, können nicht wieder herunter: des Lebens Noth schnallte das mürbe Zaumzeug. Ihre Sehnsucht erschaut lachende Gefilde, aber das Thier trottet auf wüsten Steinacker, wo die Disteln des verfehlten Berufes wachsen. Das ist denn ein trauriger Ritt.

Dr. Sattler war von Haus aus so gestellt, daß er des Unterhaltes wegen der Wissenschaft nicht bedurfte, und seine Achtung vor Wissen und Erkennen war so groß, daß sein Ehrgeiz nicht wagte, eine Trittleiter zum Ruhm daraus zu zimmern. Sein Vermögen bewahrte ihn vor der Herzfolter, die Widerspruch der Ueberzeugung mit Amt und Stellung wahrhaft Empfindenden anthut: er hatte nicht nöthig zu amten und zu dienen. Aber da die treibende Nothwendigkeit, das harte Muß, keinen Zwang auf ihn ausübte, kam er auch nicht dazu, einmal zu sagen: »heute Ehre eingelegt oder nie!« Lieber sattelte er um und tröstete sich mit Seneca: Besser, es fehle am Erfolge als an treuem Wollen.

Dr. Sattler war der Letztgekommene. Eben hatte er sich's in der Grube behaglich gemacht.

»Ich sah Sie vorhin mit dem Indier im Gespräch, was ist das für ein Mann?« fragte Dr. Haller.

»Mir gefällt er,« antwortete Dr. Sattler.

»Ist es wahr, daß ihm die Tropensonne Schaden gethan hat? Ich meine, an seinem Denkvermögen?«

»Allerdings wird leicht für einen Narren gehalten, wer die allgemeine Narrheit nicht mitmacht. Er läßt sich nicht bewegen, über seine Vergangenheit zu sprechen, obwohl er gewiß viel Merkwürdiges von seinem Aufenthalt an den Ufern des Ganges berichten könnte. An den Vergnügungen des Badelebens nimmt er nie Theil, er gebraucht die Kur und studirt Sanskrit, wenigstens traf ich ihn kürzlich in den Dünen in ein indisches Manuskript vertieft. Er zeigte mir es willig, als ich ihn darum bat. Als ich fragte, wovon es handele, antwortete er: »Vom Erwachen« und fügte wie erklärend hinzu, »aus dem Traume des Lebens.«

»Also doch!« sagte Dr. Addison.

»Was?«

»Verbrannt,« erwiderte Schnellbeinchen und deutete mit dem Finger gegen die Stirn.

»Aus welchem Grunde?« fragte das Kind.

»Weil ein vernünftiger Mensch sich nicht mit Dingen beschäftigt, die statt ins Helle der Aufklärung ins düstere Gebiet des Unbegreiflichen führen, das dicht neben der Gummizelle für Unheilbare liegt. Es ist bedauerlich, daß in unserem Zeitalter, in der Blüthe der Naturwissenschaften der Mystizismus anfängt epidemisch zu werden.«

»Das Volk macht es wie ich und sattelt um,« sagte Dr. Sattler lächelnd. »Mich bedünkt, als sei es mit Kraft und Stoff und Affenabstammung überfüttert, und begehre statt der künstlichen Ernährung des kalten Verstandes Labe für das empfindende Gemüth, das schmachtete, da ihm von allen Seiten das Nichts geboten wurde. An die Brunnen, aus denen es sonst schöpfte, ward von Wissenschaft wegen angeschlagen, kein Trinkwasser und nun neigt es sich, wo eine Quelle rieselt, einerlei, ob das Wasser klar oder trübe. Mit anderen Worten: ihm wird vor seiner Thierähnlichkeit bange und es sucht Rettung vor sich selbst und flieht vom Wissen ins Ungewisse. – Was übrigens den Indier anbetrifft – das heißt, er ist am Rhein geboren und ebenso wenig indisch wie Sie und ich – so möchte ich annehmen, daß er ein eigenartiges inneres Leben führt auf Grund seiner morgenländischen Studien oder Erfahrungen, wie Sie wollen, und keine Mühe würde ich mich verdrießen lassen, einen Einblick zu gewinnen. Aber er hütet es, wie der Kunstfreund eine Seltenheit vor dem Anfassen bewahrt.«

»Was verstehen Sie unter Volk?« fragte das Kind.

»Die Durchschnittsmenschen.«

»Auf welche Weise stellen Sie diese fest?«

»Aber liebster Haller,« rief Schnellbeinchen, »nicht bohren! Der Morgen ist so schön …«

»Wir sprechen heut Nachmittag weiter,« sagte Dr. Haller. »Es liegt mir fern, zu stören.«

Die vier Grubenleute betteten sich in den Sand, jeder in seiner Abtheilung. Hinreichende Plaids dienten zur mumienartigen Umwicklung des Gestelles, den Kopf schützten billige Schirme gegen die brennende Sonne. Von Ferne sah es aus, als wenn vier große Pilze aus dem Sande hervorwüchsen, von denen man nicht wußte, ob sie vom Lichte gebleicht waren oder gebleicht werden sollten. Was unter den graugelben Runddächern geschah, das blieb den Vorüberwandelnden verborgen. Der Unbeweglichkeit des sichtbaren Körpers nach zu schließen, ergaben die Herren sich den tiefsinnigsten Betrachtungen, wie einst Archimedes. So ziemt es Doktoren.

Ob es dagegen Doktoren ansteht, sich gegenseitig und ihren Nebenmenschen Spitznamen beizulegen, als drückten sie noch die Schulbank, das ist eine andere Frage. Allerdings kommt wohl Keiner aus studentischen Kreisen in das Philisterland, dem nicht neben dem bürgerlichen Rufnamen ein Neckname angehängt worden wäre, auf den er ach so gerne hört, wenn er nach langen Jahren wieder an sein Ohr klingt. Denn der Name, so wüst, einfältig, unbegreiflich er auch an und für sich sein mag … einmal paßte er doch: damals zur hoffnungsfrohen Maienzeit und bis ins späte Alter hinein ist er das Wort zu dem Stell-Schlüssel, der den Heiligenschrein öffnet, darin, wenn auch bestaubt und bespinnwebt, goldgewandet und edelsteingeschmückt das Bild der Jugend steht.

Ob aber Doktoren nicht allemal gut thäten, jegliches Studentische abzustreifen und sich der ordentlichsten Ordentlichkeit zu befleißigen, das mögen sie mit Hinsicht auf ihr Fortkommen in Erwägung ziehen. Man beanstandet Abweichung vom Ueblichen. Entschuldigen läßt sich das vom Standpunkt der Allgemeinbildung allerdings unverzeihliche Nachtaufen durch den Umstand, daß die Römer sich nicht scheuten, große Männer, selbst Kaiser und Könige, nach äußeren Zufälligkeiten zu benennen, wie Calligula, das Stiefelchen, Claudius, der Hinkepot, Varus, der Krummschenkel, Crassus, der Dicke, und der Weg ins Gelehrtenthum immer noch über Alt-Rom führt. Und dann liegt es zweitens in der menschlichen Natur, Namen nach eigener Erfindung zu geben. So macht es das Kind und ihm gleich das Volk, und so that Vater Adam, als auch er noch Kind war. Die Doktoren fühlten sich auf Sylt wie Ferien-Kinder, frei von der Arbeitslast, frei vom Zwange. Belebt von Sonne und See wühlten sie im Sande und waren unartig. Denn Nebenmenschen Necknamen anzuheften ist unartig.

Freilich ist zu bedenken, daß mancher Taufname gar bös paßt. Da heißt Eine Agathe, die Gute, und müßte eigentlich Xanthippe heißen, Friederike, die Friedreiche, hat sich zum Plageweib ausgewachsen, Clara, die Reine, ist eine Schlampe und Hulda eine Unholdin; wer Ernst heißt, hieße oft besser Hansnarr, Augustus der Erhabene richtiger Aujust und mancher Theodor weniger Gottesgabe als Teufelsbraten. –

»Da liegen sie und drusseln,« sagt Kapitän Lotz zum Kollaborator Brömmer. Beide kamen vom Herrenbade nach den Strandhallen wandelnd, an der Doktorengrube vorbei. »Es sind nette Menschen. Ich unterhalte mich gern mit ihnen, wenn sie wach sind.«

»Sie haben sich gegen mich recht freundlich erwiesen,« entgegnete Herr Brömmer, »und mir gestattet, an ihren Kolloquien theil zu nehmen. Leider vermag ich ihnen nicht auf alle Gebiete zu folgen …«

»Oha! Sie sind doch auch ein Gelehrter!«

»Philologe. Von der Medizin und den Naturwissenschaften verstehe ich nichts, und darin sind jene Herren vorzugsweise bewandert.«

»Aber der Maler ist doch blos ein Mensch. Mit dem klöhnt es sich sehr gemüthlich.«

»Die Kunst ist nicht mein Feld, obgleich der Konrektor in ihr zu Hause war und gelegentlich der griechischen Stunden die Erhabenheit der Plastik eines Phidias und Anderer rühmend pries. Dabei holte er aber den Schnupftabak aus der Westentasche, im Widerspruche mit der Formenschönheit, von der er redete. Auch sahen wir wenig von der Kunst der Alten, mit Ausnahme einiger verstaubter Gipsbüsten, die in der Aula auf einem Schranke standen. Soviel darüber, daß sowohl mir, wie meinen Mitschülern die Kunst nicht zu völligem Verständnisse aufging.«

Der Kapitän und Herr Brömmer waren Tischnachbarn an der Wirthshaustafel. Jetzt frühstückten sie selbander in Hamelau's Strandhalle.

»Pflegen Sie sich nur tüchtig, Sie können es gebrauchen,« sagte Herr Lotz.

Herr Brömmer erröthete.

Der Kapitän hatte nicht unrecht. Lohnender mochte es sein, einen verhungerten Haifisch zu mästen, als Herrn Brommer rund zu füttern. Er war mager, zu mager. Man nannte ihn fast allgemein das Skelett. Wenn er in der Dämmerung die Strandtreppe hinaufging und das Licht der Laternen auf sein Angesicht fiel, graulte er die ihm Begegnenden jedesmal, besonders wenn er freundlich lächelnd den Hut zog. Das weiße Gebiß, die großen Augen und die hell beleuchteten Backenknochen, die bleiche Stirn sahen dann gar zu schädelhaft aus. Beim Baden hatte einmal jemand gesagt, man solle ihn nach Afrika schicken, den ginge kein Menschenfresser an. Ein Anderer hatte gemeint, er würde als Skelettmensch bei Barnum ein Vermögen erwerben. Von daher stammte der Beiname. Einige nannten ihn, der wasserblauen Augen und der straff herabhängenden Haare wegen, auch den ertrunkenen Matrosen. Das Skelett behielt jedoch die Oberhand. Die Doktorengrube war bei dieser Umtaufe unbetheiligt, denn das Skelett ging bereits vor Gründung der Grube auf Sylt um.

»Sie haben doch so'n guten Appetit, aber die Kur schlägt bei Ihnen auch nicht ein Bischen an,« sagte der Kapitän.

Herr Brömmer wurde wiederum roth.

»Liegt es an einem organischen Fehler? Es giebt manche, die werden nie satt.«

»Es liegt an den Nerven.«

»Ach Du lieber Gott, das kenn' ich. Nerven sind ja meiner Frau ihr ganzes Leiden. Sehen Sie, es giebt zweierlei Nerven, nämlich innerliche und äußerliche. Sind sie innerlich, dann können sie garnichts vertragen, nicht'n Schluck kaltes, oder warmes, oder kein Schweinefleisch, oder kein Saures, mit einem Wort gesagt, der Magen ist so zu sagen in'n … in Unordnung. Sind die Nerven hingegen äußerlich, dann haben sie bei der geringsten Kleinigkeit was weg, en Loch in'n Strumpf, nicht größer, wie'n Schwefelsticken dick, und sie haben eine Erkältung auf Leben und Tod. Meine Frau geht den ganzen Tag nicht aus dem Hause, weil ihre Nerven sonst Zug kriegen. Innerlich ist sie Gott sei Dank kerngesund, sie ißt und trinkt und thut … bloß der leiseste Windhauch und sie ist geliefert. Das kommt daher, weil sie sich nicht herauswagt, wegen der Verbrechen in den Zeitungen, die haben sie so bange gemacht, daß sie meint, sie thun ihr was, wenn sie eben vor die Thür geht. Nun haben die Aerzte sie hier nach Sylt in den Seewind geschickt, das hält sie ja garnicht aus.«

»Vielleicht, wenn sie sich daran gewöhnt …«

Kapitän Lotz blickte Herrn Brömmer durchbohrend an. Sein altes gutes rundliches Gesicht bekam etwas Medusenhaftes. »Herr,« rief er, »Sie wollen eine Frau gewöhnen!? Eine Frau mit Nerven dazu? Sie sind wohl Ihr Lebtage nicht verheirathet gewesen?«

»Allerdings nein …«

»Na, dann rath ich Ihnen bloß, daß Sie so bald als möglich Anstalten machen. Mit Watte hat meine Frau alle Fenster- und Thürritzen kalfatert; sehen Sie, auf die Weise gewöhnt sie sich an Seeluft! Sie sollten sich wirklich eine Frau nehmen, aber dies scheint mir ein Gebiet, wo Sie gar kein Bescheid auf wissen.«

»Oh doch; das heißt … es ist eben sehr schwer, die rechte Wahl zu treffen. Und wenn man gewählt hat, ist die Zustimmung der Gegenpartei immer noch fraglich. Wenigstens habe ich die Erfahrung gemacht. Die Frauen sind unbegreiflich: einem Alkibiades liefen sie nach und dieser war von abschreckendem Leichtsinn.«

»Wenn Einer flott ist, das mögen sie.«

»Wie aber könnte ich Jenem in Verderbtheit nachstreben? Dies wäre mit meiner Stellung unvereinbar. Er lag Schwelgereien ob, ohrfeigte ehrenwerthe Bürger und schnitt seinem Hunde den Schwanz ab. Soviel von Alkibiades.«

»Das wird wohl ein Pinscher gewesen sein, die nehmen sich besser als Stumpfsteerte aus. Uebrigens kreuzen hier junge Damen genug umher; wenn Sie es richtig anfangen, kann es Ihnen garnicht fehlen. Da sind erst welche wieder frisch zugekommen: eine Mutter mit zwei Töchtern, gut in Zeug, und wie ich taxire, auch vermöglich. Da sollten Sie sich heranmachen.«

»Aber wie werde ich bekannt mit ihnen? Ovid schreibt vor, sich im Zirkus so nahe wie möglich zu setzen, alsdann das Wort mit dem Gewöhnlichen erst zu beginnen, hierauf eifrig zu erkundigen, wess' Rosse da kommen, den Staub von ihrem Gewande zu schütteln, auch das Obergewand sorgsam von der Erde zu heben, hängt es zu tief. Wo aber ist hier ein Zirkus, die Regeln Ovids zu befolgen?«

»Wissen Sie, Herr Brömmer, das sind Grappen. Wir sagen einfach dem Oberkellner, er soll uns bei Tisch zusammendecken, sobald Welche abreisen und die Plätze verändert werden. Ihrethalben kann Renz doch nicht nach Sylt kommen? Wenn Sie solche Ansprüche machen, bleiben Sie ewig ledig. Da können Sie sich auf verlassen.«

»Die ars amandi des Publius Ovidius Naso gilt als das Beste, was im Alterthum über Welterfahrenheit in der Liebe geschrieben wurde,« entgegnete Herr Brömmer verletzt.

»Ich will Ihnen mal was sagen,« erwiderte der Kapitän wohlmeinend. »Hier kommt nur ein Alterthum in Betracht und das ist die Altsche. Die bring ich mit meiner Frau zusammen, und Sie machen sich hinter die Töchter her. Wir laden sie zu einer Partie ein nach List oder Rantum, und wenn wir eine Bootfahrt unternehmen, können Sie sich so dicht heran setzen, wie es in dem Buche steht.«

Das Skelett lächelte vergnügt und zeigte die Zähne.

»Namentlich in der Abenddämmerung,« fügte der Kapitän vorsorglich hinzu, da ihm dünkte, das Lächeln verschönere seinen Schützling keineswegs. »Und vergessen Sie nicht, zu erzählen, wieviel Einkommen Sie haben; das hilft.«

»Glauben Sie, dieser Vorschlag könnte mit Erfolg gekrönt werden?«

»Da ist kein Pott so schief … ih warum nicht? Unter die Haube wollen sie Alle.«

Der Kapitän ergriff seine Portweinflasche und füllte das Glas des Kollaborators gestrichen voll. »Trinken Sie man mal. Nur Muth!«

Herr Brömmer schlürfte, dann seufzte er tief auf.

»Haben Sie sonst noch was auf dem Herzen?«

»Ich dachte nur … Es wird ja doch fehlschlagen. Dem Tantalos vergleichbar, entweicht mir das Glück, wenn ich es zu fassen wähne, als zweifelten an der Redlichkeit meiner Absichten die, denen zu nahen mir ein Gott eingab. Fata viam inveniunt. Dies genüge hiervon.«

»Sie müssen ja und ja nicht dabei lachen, sonst meinen die jungen Damen, es soll bloß Spaß sein.«

»Derselben Meinung ist Ovid, indem er dem Liebenden Thränen anräth, und sind sie nicht zur rechten Zeit da, befürwortet er, mit feuchter Hand die Augen zu netzen.«

»Sieh mal an, was'n Schnürenmacher! Dann stecken Sie sich man einen Schwamm mit Seewasser in die Tasche und wenn's Zeit ist, drücken Sie los.«

Der Kollaborator blickte sein Gegenüber mißtrauisch an; der Kapitän schnitt ein zu listiges Gesicht. »Allerdings,« sagte er, »war mir die feuchte Hand stets dunkel, da kein Kommentar sie erklärt, aber es sind doch noch erst, sowohl die griechischen, als auch die römischen Autoren gewissenhaft über den Gebrauch des Schwammes bei den Alten zu durchforschen, bevor dies Hülfsmittel für gerechtfertigt gelten kann. Da ich nun allhier, jeglicher bibliothekarischer Unterstützung entblößt … genaue Textvergleichung wäre in einem für mich so wichtigen Falle unerläßlich …«

»Wenn Sie gleich mit der goldenen Hochzeit anfangen wollen, dann bleiben Sie man so bei.«

Der Kollaborator schien sein Gegenüber nicht zu verstehen und schwieg.

»Ich muß mal nach meiner Frau sehen, das sind Gattenpflichten. Gehn Sie man'n bischen nach der Doktorengrube. Adje Herr Brömmer.«

Der Kapitän schob seinen Stuhl zurück und entfernte sich schleunig. Als er mit seinen Wallbeinen durch den Sand stapfte, murmelte er ein über das andere Mal: »So Einer will Jungs klug machen. Du meine Güte! Der ist ja tickerig, total tickerig.«

Der Kollaborator saß ernst dreinschauend vor dem Portwein. Oft hatte er sich verliebt, ohne Gegenliebe zu finden, nun war er zaghaft geworden, viel zaghafter als in den jüngeren Jahren. Ein Weib, ein liebendes Weib war sein Verlangen, aber eben so groß wie das Begehren, war die Furcht, wieder einmal abgewiesen zu werden, diese lebenzehrende Furcht, darunter seine Nerven litten. Er nippte. »Ich werde es dem Zufall überlassen,« dachte er. »Vielleicht will er mir wohl.« Er nippte wieder. »Taub sind die Mören dem Flehen der Sterblichen, alles Hoffen ist vergebens.« – Trübsinnig starrte er in das Glas.

In etlicher Entfernung von ihm hatte soeben ein Satz älterer und jüngerer Damen sich angesiedelt. Er sah nicht hin und bemerkte nicht, wie sie ihn beobachteten. Er hörte nicht, wie sie tuschelten: »Seht doch das Skelett, da sitzt es und betrinkt sich.« – »Eine ganze Flasche hat es leer.«

»Schrecklich. – Was bleibt ihm anders übrig, es ist immer allein.« – »Ja, wenn man so aussieht.«

»Hielte es mehr auf sich, ginge es noch.«

»Es soll übrigens grundgelehrt sein.« – »Jedenfalls müßte es zum Frisör.« – Und die Jüngste that einen Zug aus ihrem Deckelkruge, als hätte sie einen Korpsstudenten zur Gouvernante gehabt.

Der Kollaborator trank aus. Wie er aufstand, verstummte das Gespräch. Als er kaum zur Thür hinaus war, hörte er übermüthiges Lachen. Er wußte nicht, daß es ihm galt, und doch schnitt es ihm ins Herz. –

Die Doktorengrube war unterdessen vollzählig geworden, der fünfte Mann, Herr Runft, Gutsbesitzer, mittelgroß, dunkelhaarig, schwarzbärtig, von Spuren beginnenden Schneefalles leicht angesprenkelt, hatte die Denker munter gestört, wofür sie ihm nicht gerade Dank wußten. Spitz fragte daher Dr. Addison: »Nun, lieber Herr Runft, wieder ein Stündchen vergebens geschmachtet?«

»Sie haben Recht, ich hätte vernünftiger gethan, auch ein Sandschläfchen zu machen.«

»Ich kann Ihren Schönheitssinn nur loben,« sagte Himeyer, »die schöne Lüneburgerin ist wirklich schön.«

»Es wird großer Götzendienst mit ihr getrieben,« sagte Dr. Sattler.

»Sogar ältere Geheimräthe knien vor ihr,« fügte Dr. Addison hinzu.

»Hübsches Motiv für ein Genrebild,« meinte Himeyer.

»Hast Du gesehen, daß Geheimräthe vor ihr knieten?« fragte das Kind.

»Es können auch Ungeheime gewesen sein.«

»Hast Du gesehen, daß überhaupt Jemand vor ihr kniete?«

»Nun ja, … wie man so von knien spricht.«

»Wann hast Du das gesehen?«

»Den Tag weiß ich nicht mehr.«

»Wo geschah das?«

»Auf den Knien.«

»Du willst mich absichtlich nicht verstehen.«

»Und Du bohrst wieder und …«

»Meine Herren, keine Mißhelligkeit, ich bitte Sie!« rief der Umsattler. »Wir Deutsche, die wir uns von Fremden viel zu viel gefallen lassen, sind untereinander gar übelnehmerischer Natur. Wie bei der Influenzmaschine eine Spur von Elektrizität die ihr entgegengesetzte erregt, und dann beide während des Drehens sich steigern, bis der Funke herausschlägt, so löst oft ein geringfügiger Anlaß gegenseitige Empfindlichkeit aus, die durch Worttreiberei erhitzt, in Beleidigung endigt. Um ein Nichts fielen Leben, wurden holdeste Hoffnungen erschlagen, verblutete Freundschaft. Um Nichts.«

»Mir war nur darum zu thun, daß würdige Geheimräthe nicht in falschen Verdacht gebracht werden, unter dem gleichzeitig der Ruf einer jungen Dame leiden könnte. Ich gebe zu, daß die Schönheit der Betreffenden in höchstem Grade anziehend, ich möchte sagen bezaubernd wirkt,« erwiderte Dr. Haller, »und die zwanglosen Umgangsverhältnisse des Badeortes die Bildung eines Trabanten-Trosses gestatten, der sich um sie und ihre Verwandten schaart, aber gerade deshalb ist es Pflicht, Alles zu meiden, was ihrem Rufe im Entferntesten Unglimpf zufügen könnte.«

»Das war nicht meine Absicht,« sagte Dr. Addison. »Ich sprach nur bildlich und scherzando.«

»Glauben Sie mir,« fuhr Dr. Haller fort und sein edelgeschnittenes, jugendliches Antlitz erglühte in warmherziger Erregung, »ein harmloser Vorgang kann als todeswürdiges Verbrechen erscheinen, wenn die Verleumdung ihn verbreitet, und sie zu leicht hingeworfenen Worten die That erdichtet. Von vielen Seiten beneidet ist die Schönheit der Mißgunst in erhöhtem Maße ausgesetzt und Neid und Mißgunst sind die Eltern der Verleumdung; man darf ihr keinerlei Nahrung zuführen.«

»Lieber Freund, Du faßt meine arglose Aeußerung von vorhin wirklich zu tragisch auf.«

»Ich spreche nur im Allgemeinen.«

»Unser Kind ist auch in sie verliebt,« rief Herr Runft.

»Ich finde die junge Dame schön wie eine Statue, aber ebenso marmorkalt,« entgegnete Dr. Haller, »und denke, Sie haben dieselbe Erfahrung gemacht!«

»Bis jetzt hatte sich der Rechte nicht gezeigt,« erwiderte Herr Runft, »nun ist er da. Ein Modeflapps ersten Grades, ein gelbhandschuhiger Narr. Für den hat sie Augen. An uns Uebrigen sah sie immer vorbei.«

»Werden Sie sich nach einer Andern umthun?« fragte Schnellbeinchen. »Sie stehen doch auf der Liste der Heirathskandidaten?«

»Ich überlasse Ihnen den Vortritt.«

»Es ist Auswahl genug.«

»Und fortwährend treffen Neue ein,« sagte Dr. Haller. »Haben Sie nicht die Mutter mit den beiden Töchtern bemerkt, die Mittags an der zweiten Tafel uns schräg gegenüber sitzen? Es scheinen nette Mädchen zu sein.«

»Dicht an den Skropheln vorbei,« bemerkte Dr. Addison.

»Ich möchte mich verbürgen, Sie würden keinen Korb bekommen, wenn Sie anfragten, Herr Runft.«

»Es liegt keine Rasse drin,« entgegnete dieser.

»Und Sie, Herr Himeyer?«

»Lassen Sie mich aus dem Spiele … ich bin Maler.«

»Ich möchte, die Mädchen verlobten sich, denn ich fürchte, es wurden Ausgaben über ihr Vermögen gemacht, um einigermaßen auftreten zu können. Dieses Eindrucks kann ich mich nicht erwehren, obgleich die Mutter sich als Frau Lahmann, Rentière aus Berlin, eingeschrieben hat. Sind sie auch nicht so schön wie die umworbene Lüneburgerin, vielleicht sind sie liebenswürdig und reich an Herzensbildung, so recht dazu angethan, einen Gatten zu beglücken.«

»Wenn sie nicht zu anspruchsvoll sind, wüßte ich einen Mann für eine der beiden; den da, der geradezu auf unsere Grube lossteuert,« rief Schnellbeinchen.

»Das gute Skelett!«

»Wir wollen ihm zureden,« befürwortete das Kind.

»Aber ernsthaft bleiben,« ermahnte Schnellbeinchen.

»Es wäre zu reizend, wenn es hieße: Das Skelett hat sich verlobt mit … mit …«

»Mit dem jungen Lama,« ergänzte Himeyer.

Das Kind wollte seinem Unwillen Worte leihen, aber schon stand das Skelett am Rande der Grube und wünschte freundlich grinsend guten Morgen.


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