Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.


Das ist Nichts, absolut Nichts, Garnichts!« sagte mein Herr Verleger.

Auch auf dem Tisch war Nichts, nicht einmal ein Tischtuch. Sollte ich dies also dolmetschen: »Deinetwegen, mein Lieber, werden nicht die geringsten Umstände gemacht, betrachte Dich als beungnadet?«

Er bot mir weder Sopha noch Stuhl.

»So,« dachte ich, »nun ist es aus. Morgen fängst Du einen Handel mit Fliegenstöcken an.«

Wem das Schicksal plötzlich einen Schlagbaum über den Lebensweg sperrt, der wird engsichtig und verfällt in der ersten Verbausung auf Ungereimtheiten. Darum sieht man so oft gescheiterte Existenzen von ihren eigenartigen Fähigkeiten Abstand nehmen und einen Beruf erwählen, zu dem sie ebenso wenig passen, wie der rechte Fuß in den linken Stiefel. Kein Wunder, wenn sie bei dem allgemeinen Fortkommenswettrennen weit zurückbleiben. Freilich erfordert der Fliegenstock-Handel wenig Anlagegelder und noch weniger Sachkenntniß – schwieriger ist es schon, Weinreisender, Versicherungsagent oder Abonnentensammler zu werden – aber wer garantirte, daß die Fliegen gut geriethen, und wer sorgte für den Fortgang des Geschäftes im Winter? Vom Staate beanspruchen, daß er zur kalten Jahreszeit die Stadt heizen ließe, damit die Fliegen lebten und ich mein Brot fände, wäre wohl ein wenig Viel verlangt, obgleich die Ansicht herrscht, jegliche Erwerbsthätigkeit zu schützen, zu unterstützen, zu hegen, zu pflegen, zu hätscheln, sei des Staates unabweisliche Pflicht und Schuldigkeit.

»Was denken Sie eigentlich?« fragte mein Herr Verleger.

»Daß Sie unzufrieden sind.«

»Und mit Recht. Herr! erst versprechen Sie wunder Was, und hinterher halten Sie nicht Wort. Von der Doktorengrube mußte ich Außerordentliches erwarten, und was haben Sie daraus gemacht? Etwas weniger als Nichts.«

»Sie ist genau nach dem Leben geschildert. Kann ich dafür, wenn es gerade so darin hergeht, wie es hergeht, und nicht anders?«

»Sie versicherten, die Herren würden kitzliche Anekdoten abfeuern … wo sind die? Ich habe gesucht und gesucht und keine entdeckt.«

»Ja so. Mit den Witzbrocken habe ich Unglück gehabt; sie lagen bündelweis ausgeschnitten auf meinem Schreibtische und glichen allerdings einem Häuflein werthloser Fetzen – Anekdoten sind eigentlich auch nur Fetzen – ich meine vom schriftstellerischen Standpunkte – und die Anna – das Dienstmädchen – hat sie zum Feuer anmachen gebraucht.«

»Unerhört!«

»Die Anna schob die Schuld auf Ta'alihene. Es war geschehen, nachdem ich ihm die Glasaugen eingesetzt hatte, die schönen blauen Augen. Sie sagt, sie hätte geeilt, mein Zimmer in Ordnung zu bringen, weil sie sich über alle Maßen vor dem alten Henne gefürchtet … und da hätte sie in der Hast wohl die Papierschnitzel mit weggefegt; was ich mit dem Plunder wollte? Es ist ein Fehler unserer Volksschulen, daß sie nicht größere Achtung vor der Literatur erziehen, damit das Volk, Dienstmädchen zumal, jedes gedruckte Wort heilig hält. Wenn man sieht, wie in Markthallen und anderwärts mit Zeitungen umgegangen wird: die Haare möchten Einem zu Berge stehen. Jammer über Jammer, daß so viel geistige Arbeit so bald zum Wisch wird. Anstatt, daß ich die Doktorengrube mit den Anekdoten spickte, hat die Anna sie unter einem gespickten Lendenbraten verbrannt. Wir hatten Mittags Lendenbraten mit Kohlrabi und Quetschkartoffeln, von dem Vorschuß nämlich. Aber wenn es Ihnen gefällt, schalte ich an der Stelle, wo das Kind für die Lüneburgerin ins Zeug geht, die Geschichte von dem verleumdeten Mops ein …«

»Wie ist die Geschichte?«

»Es kam einmal ein Bettler in der Regentenstraße vor ein Haus, um ein Almosen zu erbitten. Ein Schutzmann war gerade nicht in der Nähe. Da bellte ihn ein kleines Mopshündchen mit lautem Kläffen an, und da er sich nicht weiter darum kümmerte, wurde der Mops immer böser und frecher. Da kein Hundefänger sich zeigte, lief der Mops auf die Straße und biß dem Bettler ins Bein. »Geduld,« sagte der Bettler, »ich will Dich nicht schlagen, aber ein bischen verleumden will ich Dich.« Laut rief er und ängstlich: »Das Hündchen ist toll. Nehmt Euch vor dem Mops in Acht, er hat die Hundswuth.« Sogleich lief das Gesinde herbei, der Hundefänger kam und der arme Mops ward todtgeschlagen. Da kam der Schutzmann und schrieb Alle miteinander auf.«

»Herr!« wetterte der Herr Verleger, »sind Sie bei Trost? Das ist ja eine Geschichte aus dem Potsdamer Kinderfreund.«

»Haben Sie das gemerkt?«

»Halten Sie mich für einfältig?«

»Und ich vermeinte, die Geschichte mit echtem, rechtem, sogenanntem Berliner Hintergrund versehen zu haben, mit Lokalton und Erdgeruch, wie Sachverständige zu sagen pflegen. Ist denn eine Geschichte nicht schon berlinisch, wenn zwei bis drei reichshauptstädtische Straßennamen drin angeführt werden, ein bekanntes Restaurant und, wenn's hoch kommt, noch die Siegessäule? Sie lesen wohl keine Berliner Romane, sonst würden Sie's wissen. Und sind ein Schutzmann und ein Hundefänger in Hinsicht der Lokalfarbe nicht mindestens ebenso ausgiebig wie ein Dutzend Straßennamen, die Linden und den Pariser Platz unentgeltlich zugegeben?«

»Es kommt garnicht darauf an, wo eine Geschichte spielt, wenn sie nur gut ist, und die Mopsgeschichte ist nicht gut.«

»Ich bin entgegengesetzter Ansicht. Sie hat eine ausgezeichnete Moral, nämlich: ›Der Verleumder thut mehr Böses, als Derjenige, der offenbare Gewalt braucht.‹«

»Man will heutzutage Natürliches, Abschreckendes, Schaudervolles, Komisches, Durchgreifendes. Keine Moral, sondern Gewürze.«

»Bitte, es ist Alles drin: die Regentenstraße ist Natürliches, ein Mops ist komisch, ein Hundefänger schaudervoll, Tollwuth abschreckend und ein Schutzmann durchgreifend, eingreifend, ausgreifend, vorgreifend, nachgreifend, übergreifend, hineingreifend. Jeder kann sich aussuchen, wie greifend er ihn haben will.«

»Das sind Ausflüchte.«

»O, ich weiß recht wohl, was man Natur zu nennen beliebt … die sogenannten Nachtseiten der Natur. Sie aber hat auch den Tag mit seiner lichten Pracht geschaffen. Einer unserer Dichter sagt: »Wozu eine Malerei, welche poetische Seelen unterbricht, zarte verletzt und blos schlechte erquickt?« Und für die letzte Sorte schreibe ich nicht; junge und alte Greise, die sich an den Nacktheiten eines Sezirsaales auflüstern, und solche, die höchstens darüber roth werden, daß sie erröthen könnten, finden ja auf dem Bücher- und Bühnenmarkte bei den literarischen Sanskülotten des sie Erbauenden die Fülle. Die sollen mich in Ruhe lassen.«

»Wie dankbar ich Ta'alihene bin, vermag ich kaum zu sagen. Er schaffte die Anekdoten ins Feuer, darunter etliche recht giftige waren, die ich in meiner Dummheit einsammelte. Nun aber Ta'alihene Augen bekommen, konnten wir Beide sehen – er lehrte mich durch seine klugen Augen schauen – und da erkannte ich den Seelentod, den ich gepflückt und für meine Nebenmenschen aufbewahrt hatte. Am Tage vorher war einem Baumeister eine Kellerwohnung beanstandet, weil die Fenster darin einen halben Zentimeter tiefer lagen, als die Baupolizei vorschreibt, und das von Rechts wegen, denn wenn die Kellerleute um so viel Licht weniger empfangen, als die Halbezentimeterniedrigkeit abschneidet, könnte die Gesundheit ihres Körpers Schaden leiden. Wenn nun – so dachte ich – den Armen auch noch in ihre gesundheitswidrigen Wohnungen allerlei giftiges Lesezeug hineingeworfen würde, solches, das die Sinne betaumelt und jegliche Empfindung für das Reine und Heilige vernichtet, wie das Morphium, das dem daran Gewöhnten zuletzt sein Höchstes nimmt – die Menschenwürde – dann geht auch die Seele zu Grunde und stirbt elendiglich. Mein lieber, lieber Ta'alihene, viel frohen Dank. – Ich gestehe, daß ich irrte, als ich das Gift sammelte, doch mag mich entschuldigen, daß es bereits gedruckt war. Und das sage ich Ihnen, verehrtester Herr Verleger: wäre die Anna mir nicht zuvorgekommen, ich hätte es selbsthändig in den Ofen gesteckt.«

»Bitte, nehmen Sie Platz,« sagte mein Brodherr. »Begründete Ansichten taste ich nicht an, ich schätze die Ueberzeugung. Trotzdem kann ich Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, daß Sie sehr vergesserlich sind. Wo ist der Professor, den Sie in Aussicht stellten?«

»Der hat Abhaltung. Er sitzt an einer umfassenden Arbeit über die Fühler der Kohlweißlinge, und da gerade ein fettes Kohlweißlings-Jahr ist, kann er nicht nach Sylt, so nothwendig das Bad seiner Gesundheit wäre. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er sich vollständig aufreibt, aber versäumt er jetzt die Gelegenheit, wird sein Werk vielleicht nie vollendet. Diese Sorge fesselt ihn an das Mikroskop und den Studirtisch. Es wird ein höchst wichtiges Werk, da ihm der Nachweis gelungen ist, daß die Fühler der Kohlweißlinge sich anfangs aus Rundzellen bilden, die später in Längszellen übergehen, und daß dieser Uebergang sich nicht immer verwischt, sondern bisweilen mehr oder minder deutlich erhalten bleibt. Ein anderer Forscher veröffentlichte jedoch jüngst, daß die Längszellen als selbständige Elemente aufzufassen wären und die Uebergangstheorie unsers Professors absolut unhaltbar sei. Nun gilt es, den Gegner zu vernichten. Zweitausend, achthundert und elf Kohlweißlinge hat unser Professor bereits untersucht und dadurch ein geradezu erdrückendes Material erlangt. Sollte sich nun gar herausstellen, daß sein Widerpart statt des Pieris brassicae den Pieris rapae, der jenem sehr ähnelt, zur Untersuchung nahm, dann steht unser Professor glänzend da, denn beim P. rapae fehlen die anfänglichen Rundzellen überhaupt. Es wäre zu bedauern, wenn unser Professor trotz seines Sieges auf dem Schlachtfelde bliebe. Aber was liegt an dem Streiter, ist nur die Ehre der Wissenschaft gerettet.«

»Das Alles wegen der Kohlweißlinge?«

»Nur wegen des Fühlers der einen Kohlweißling-Art. Nun aber giebt es über fünfzehntausend Arten Schmetterlinge; es gehören Hekatomben von Professoren dazu, bis die Fühler aller dieser untersucht sind.«

»Und der Gewinn?«

»Die Förderung der Wissenschaft. Ist es doch die Wissenschaft, die den Menschen von Vorurtheilen befreit, ihn zur Wahrheit führt. Kann ein Mensch sich noch Mensch nennen, wenn ihm in jedem Kohlweißling ein ungelöstes Räthsel vorbeifliegt, wenn er sich sagen muß, wir wissen nicht, ob in seinem Fühler zuerst Rundzellen auftraten und dann Langzellen oder umgekehrt, und ob die einen in die andern übergingen?«

»Schade um solche Kraft; gerade so einer thäte der Doktorengrube noth. Er würde sich wirksam darin ausgenommen haben.«

»Ob die Andern das gelitten hätten? …«

»Ohne Frage; ein Professor hat doch mehr Rechte, als bloße Doktoren. Und wie wird es mit Pienchen?«

»Abwarten, Verehrtester. In den ersten Tagen lief die Familie Lahmann ohne jeglichen Anhang herum und fand unter dem Druck der Vereinsamung Sylt einfach abscheulich. Morgens beim Aufstehen schalt die Alte und beim Zubettgehen hat sie statt des Abendsegens mehrere Abendflüche gesprochen und das freundliche Westerland ein infames verdammtes Nest geschimpft, das liebe Westerland, dem Alle so gut sind, die einmal dort waren. Unterschiedliche Male hat es lauten Zank gegeben – die Flurnachbarn haben es gehört und Eschels Meike gleichfalls – als sie das Fußzeug von der Thürmatte holte – man konnte nur nicht verstehen, worüber sie sich in die Haare gerathen waren. Eschels Meike erzählte in der Küche, Eine hätte wahrhaftigen Gott auf den Tisch geschlagen, aber Frau Eschels sagte, wenn sie sich noch einmal unterstände, zu horchen, könnte sie ihre Plünnen zusammensuchen und machen, daß sie weg käme. Das ist denn nun der Meike schrecklich nahe gegangen, daß sie beim Putzen immer auf die Schuhe geweint hat, und weder die drei Paar Lahmann'schen ordentlich blank wurden, noch Herrn Runfts Stiefel, der ebenfalls dort wohnt. –

Hille sagte: an der Tabledhote wäre es zu gemüthlich, weil die Mutter sich vor der Nachbarschaft scheute und das Mittagbrod nicht verknurrte, wie immer zu Hause, wo alles mit Scheltsoße begossen würde und das beste Essen schlecht schmecke.

»Gestern die Frikadellen waren großartig,« sagte Hille.

»Es heißt nicht Frikadellen, sondern Frikandellen mit nasalem ang«, sagte Pienchen.

»Was sollte wohl? Frikadellen!«

»Frikandellen. Blamire Dich doch nicht.«

»Kinder, was wollt Ihr Euch über die alten, ekligen Fremdwörter streiten,« mischte sich die Mutter ein, »sprecht lieber Deutsch und sagt Bouletten.«

»Bouletten ist auch französisch.«

»Denkt nicht dran. So heißen sie schon von meiner Großmutter her. Wenn Du doch bloß nicht All' und Jedes immer besser wissen wolltest, Pienchen. Das ist unerträglich!«

»Noch unerträglicher, wenn man nicht verstanden wird.«

»Hab' Dich nur nicht.« –

Hille hatte bereits ein Bad genommen, die Alte wollte am folgenden Tage zu Wasser. Pienchen war zunächst auf den Luftgenuß beschränkt und sollte erst später im Warmbadehause sich auf die See vorbereiten.

Sie versprach dem Arzte, gewissenhaft folgsam zu sein, nicht in den ersten Tagen zu lange am Strande zu weilen, keine anstrengenden Spaziergänge zu unternehmen, sich durch die gediegene Küche nicht zum Uebermaß verleiten zu lassen. Ihr Gedanke war: gesund werden, kräftig werden und dann … fort. Wohin? Das war gleichgiltig, nur dahin, wo nicht genörgelt, nicht gekeift, nicht über jede Kleinigkeit gestritten und gelärmt würde. Nach Frieden lechzte ihre Seele, nach Frieden und Ruhe; um schwerste Arbeit wollte sie so köstliche Güter eintauschen. Gab es überhaupt Frieden? Ja, er war vorhanden. Im Traume, bei Onkel Chlotar hatte sie ihn selig empfunden.

Eschels Meike sagte: »Die Lahmanns Aelteste fehlt was, ich stell' ihr Morgens zum Kaffe auch immer den fett'sten Rohm hin. Herr Runft braucht ihm nich' so dick, den geb ich das Unterste aus'n Topf.«

»Herr Runft geht mich eigentlich gar nichts an,« sagte mein Herr Verleger.

»Mich auch nicht,« erwiderte ich. »Aber er wohnt nun einmal bei Eschels, und ich habe nicht die Machtvollkommenheit, ihm das Logis zu kündigen. Und günstiger konnten Lahmanns es kaum treffen, da ein wohlhabender Landbesitzer und Wittwer für eine Mutter mit zwei sehr vergebbaren Töchtern als Flurnachbar so gut wie eingelappt ist. Wenn sie ihn nur nicht scheu macht. Gelingt es ihr, ihm die Selige langsam auszureden, dann hat sie halb gewonnenes Spiel. Hier war aber das Fatale, daß Herr Runft dem näheren Verkehr geflissentlich auswich. Wittwer ahnen manchmal was.

Außerdem sagte er nach jenem Zankabend, er heirathe nicht in eine unter sich unruhige Familie, und wenn die Alte ihn noch so lakritzig anlächele. –

Hille war fröhlichen Sinnes. »Laß Mama nur brummen,« sagte sie zur Aufmunterung ihres Selbst's, »ich weiß, wo ich bleibe, und bei Müllers ist es reizend. Ich halte sehr, sehr viel von Minna. Sehr viel!«

Minna hatte bereits geschrieben, einen Dank für die Helgoländer Postkarte. Hille ward freudeglühend als sie Minnas Schreiben las.

»Was hast Du da?« fragte die Mutter. – »Eine Postkarte von Minna.« – »Laß mal sehen.« – Hille gab die Postkarte hin. »Liebe Hille,« las die Mutter, »wie schön, daß Du die große, weite Reise machst, liebe Hille, wie schön muß es sein, daß Du die Welt zu sehen erhältst. Wir freuen uns sehr, daß es Dir so gut geht, liebe Hille. Wir haben Helgoland sehr bewundert. Ist es wirklich so roth? Liebe Hille, laß uns doch Deine genaue Adresse wissen. Lebe wohl, liebe Hille. Wir grüßen Dich viele tausende Male, liebe Hille. Deine aufrichtige Freundin Minna.«

»Daß Du Dich über das Geschreibsel so hast, begreife ich nicht,« sagte die Mutter. »Es steht ja nichts drin. Garnichts Interessantes.«

»Ich werde ihr mittheilen, daß sie nächstens interessanter schreiben soll,« entgegnete Hille gereizt. »Mich wundert nur, daß Du überhaupt eine Postkarte von Klempners in die Hand nimmst.«

»Pah!« erwiderte die Alte verächtlich, »mir kann es ganz gleich sein, zu wem Ihr Euch haltet, hier kümmert sich ja doch kein Teufel um Euch.«

Hille wollte eine recht unkindliche Antwort heraus schleudern, aber sie unterließ es. Ihr war, als sänge eine süße Engelstimme ihr leise ins Ohr: »Wir grüßen Dich viele tausende Male, liebe Hille.« Da fiel der Gifttropfen des Unmuths hinab ins Leere und nicht auf das Wort, und das Wort zerthaute in den milden Klängen.

Hille schwieg. »Wir grüßen Dich, wir, wir, wir,« jubelte es in ihr. Daß außer Minna sie noch Jemand grüßte, das war's.

»Ich habe meine Arbeitstasche in der Veranda liegen lassen,« sagte sie und ging hinaus. Das war aber eine Nothlüge bodenlosester Art, denn die Tasche lag im Zimmer, mitten auf dem Tische.

Kaum aber hatte sie die Thüre hinter sich zugemacht, da nahm sie die Postkarte und küßte sie, und küßte sie immer wieder. So lieb hatte sie Minna. Sie mußte allein mit der Postkarte sein, sie hielt es drinnen nicht länger aus. Das war die Noth, aus der sie so handgreiflich log. Ich hoffe, diese Sünde wird ihr verziehen werden.

»Hille!« rief die Mutter, »Deine Tasche liegt ja groß und breit hier.«

Hille kam und spielte die Unbefangene; ihre schauspielerische Begabung war aber nur eine schwache, und die Wirkung, die sie erzielte, der beabsichtigten gerade entgegengesetzt.

Die Mutter sagte nichts; sie dachte ihr Theil und nahm sich vor, aufzupassen. »Es wird wohl Zeit, an den Strand zu gehen,« mahnte sie.

»Ich möchte zu Hause bleiben,« lehnte Pienchen ab.

»Bewahre. Warum sind wir denn aus Berlin gegangen? Und wozu haben wir den Strandkorb gemiethet? Du kommst mit.«

»Der Arzt sagte: Nicht zu viel Strand auf einmal.«

»Wenn Du genug hast, gehst Du wieder.«

»Der Strandkorb hat einen schlechten Platz.«

»Faxen. Er steht dichte bei der Musik, da hören wir etwas für unser Geld.«

Und doch stand der Korb nicht gut, nicht für Pienchen. In unmittelbarer Nähe war das Zelt der schönen Lüneburgerin. Pienchen sah von ihrem Platze im Korbe aus, wie Jener gehuldigt wurde. Wer an dem Zelte vorbeiging, suchte einen Blick hineinzuwerfen, wer die Berechtigung hatte, einzutreten, dessen strahlende Mienen verriethen schon auf dem Wege dahin das Glück der nächsten Augenblicke, vor so Vielen bevorzugt, von eben so Vielen beneidet, so holdseligem Wesen nahe zu sein.

Sie war auch wirklich ein Menschenkind, dem die Schönheit ihre Gaben verschwenderisch geschenkt. Goldblond das Haar, dunkel Augensterne und Brauen, feingeschnitten Mund und Nase. Und die süßen, kleinen Ohren, der schlanke Hals, die wohlgeformte Hand und der zierliche Fuß. Und Alles das mit Anmuth gepaart und mädchenhafter Schöne. Sie war noch jung, fast noch ein Kind, aber konnte sie noch kindlich sein, die so gefeiert ward, und zwar nicht immer taktvoll, sondern zuweilen recht plump? Mußte das auf sie gerichtete Begehren nicht doch schließlich auch in ihr Verlangen entzünden? War ihre Kälte nur Maske, oder setzte das Haschen nach Gunst die Männerwelt derart in ihren Augen herab, daß ihr der Einzelne ebenso gleichgültig war, wie die Gesammtheit? Hatte die Vergötterung sie in Stein verwandelt, war die Marmorschönheit Ursache ihrer Marmorkälte?

Herr Runft gehörte zu ihren Anbetern, er hätte sie gern heimgeführt, aber ihm ward keine Gnade vor ihren Augen. Trotzdem wanderte er jeden Morgen zu ihrem Zelte, begrüßte sie, empfing höflichkühlen Gegengruß, sprach mit dem Vater, der Tante, welche Mutterstatt vertrat, und dem Bäschen, das noch als Backfisch in die Welt sah und nach den größten Glücksgütern gefragt: »Chokolade mit Schlagsahne und Kirschtorte« antwortete. Auch für Mohrenköpfe schwärmte sie, aber sämmtliche Mohrenköpfe, die Herr Runft der Kleinen mitbrachte, rührten die spröde Schöne ebensowenig, wie den König von Dahome eine Massenköpfung seiner schwarzen Unterthanen, welche die Landesgebräuche, wenn auch lebensgefährlich, so doch selbstverständlich finden.

»Was die Herren blos an ihr haben?« grollte Mama Lahmann. »Es geht über alle Begriffe. Und Herr Runft, der sich um die Hausbewohner nicht die blasse Idee kümmert, schmachtet solcher Gans was vor. Nennt man das Bildung? Wie nur die Direktion dergleichen duldet? Am Ende weiß sie von Nichts, und es ist Pflicht, sich zu beschweren. Wir schreiben an die Badekanzlerei; unseren Namen brauchen wir ja nicht darunter setzen.«

»Was hat sie Dir gethan, Mama?«

»Gefällt sie Dir vielleicht?«

Pienchen schwieg. Würde sie verstanden sein, wenn sie bekannt hätte: sie ist entzückend?

Als Pienchen ihr zum ersten Male bei dem Morgengange begegnete, mußte sie sich umsehen, das blonde Haar zu bewundern, das aufgelöst, frei über Schultern und Nacken wallte, dem trocknenden Winde zum Spiel. Welch' ein Schatz der Schönheit solches Haar, das ohne Hülfe der ordnenden Hand so köstlich schmückte. Pienchen strich unwillkürlich über Stirn und Schläfe; es durchzuckte sie weh, als sie die eigene Dürftigkeit berührte, die dünnen Strähne, die nie saßen, wie sie sollten, und sich langsam und boshaft den Tag über aufdrehten.

Wer auch so schön wäre!

Pienchen hatte keine Freundin, dieser möchte sie befreundet sein. Mit jedem Sehen wuchs das Begehren, ihr zu nahen, mit ihr zu sprechen, ihr vertraut zu werden, sie Du zu nennen. Ob sie es wagte, sie anzureden? Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen bei diesem Gedanken. Nein, nein, unmöglich; sie würde ja kein Wort hervorbringen! Und doch, könnte nicht ein Zufall den zehrenden Wunsch der Annäherung erfüllen?

Der Zufall aber führte ganz etwas anderes daher, ihn nämlich, den sie weit, weit wegwünschte, den Gelbhandschuh.

Für den hatte die Schöne freundliches Lächeln, von ihm nahm sie anmuthig dankend frische Blumen entgegen, Rosen und farbenprangende, duftende Nelken. Ihr Auge leuchtete auf, wenn er kam. Das sah Pienchen von dem Strandkorbe aus, und deshalb hatte er den schlechtesten Platz von allen.

Es half kein Einwand, sie mußte sich der Mutter und Schwester anschließen. Als sie durch die Strandstraße gingen und an der Dröhse'schen Buchhandlung vorbeikamen, sagte die Mutter: »Pienchen, Kind, geh doch hinein und kaufe Briefpapier, ich hab' die Schreibmappe in Berlin vergessen. Ich will unserm Mädchen schreiben, daß sie gut Acht giebt. Nachher fällt es mir vielleicht nicht wieder ein. Wir besehen so lange nebenan die Photographien.«

Pienchen ging in den Laden.

Drinnen war der Gelbhandschuh. Er stand mit dem Durchblättern eines Buches beschäftigt.

»Einiges Briefpapier,« forderte Pienchen befangen. Sie wählte rasch. »Und Kuverts,« setzte sie hinzu.

»Geben Sie mir Enveloppes,« sagte der Gelbhandschuh zu dem Ladenmann.

Mit dem Tone der Ueberlegenheit sagte er »Enveloppes« und blickte selbstbewußt um sich.

Pienchen wurde blutroth. Kuverts war ja falsch, grundfalsch; Enveloppes hätte sie verlangen müssen. Daß ihr dieser Fehler in seiner Gegenwart entwischen mußte! Und er merkte, wie sie sich schämte, das fühlte sie. Sie ward verlegen, daß ihr die Hand zitterte, die das Geld hinzählte. Aus lauter Verlegenheit stieß sie beim Hinausgehen gegen die Ladenthür. Die Thränen standen ihr in den Augen.

»Kind, Pienchen, was hast Du?« fragte die Mutter, »Du bist ja ganz verstört?«

»Nichts. Nichts.«

»Wenn blos die Kur anschlüge! Du kannst nicht das Geringste ab. Wollen wir lieber nicht an den Strand gehen?«

»Doch. Nur weiter ab von der Musik laß uns sitzen.«

»Gewiß Kind, der Strandaufseher trägt ihn nach der andern Seite. Du siehst erbärmlich aus, Pienchen.« –

So kam es, daß der Strandkorb den Platz wechselte und Pienchen nicht gewahrte, wie man sich in dem Zelte der schönen Lüneburgerin erlustigte. Der Gelbhandschuh tratschte spaßhafte Geschichten von der Degenschluckerfamilie auf der »Freia«, vom seekranken Fräulein, von Kuverts und Enveloppes und von Leuten, die sich Air zu geben suchten, und überall anstießen, sogar gegen offene Thüren.

Die Beisitzer und Beisitzerinnen des Spottgerichtes kamen aus dem Gekichere und Gelache garnicht heraus. Das Bischen Mokiren war zu amüsant. Sie selbst fühlten sich dabei so ohne Fehl, so unvergleichlich vollkommen und über jeden Zweifel erhaben, daß ihre Stimmung die denkbar angenehmste ward.«

»Und wie wird es mit Pienchen?« fragte der Herr Verleger.

»Das erfahren Sie in den nächsten Kapiteln.«

»Können Sie sich nicht etwas kürzer fassen? Das Publikum …«

»Das Publikum kann die Heirathsanzeigen in den Familiennachrichten lesen, wenn's ihm zu lang wird, die sind kurz,« entgegnete ich gereizt.

»Ich sagte ja, wenn man sie verwöhnt, ist mit Autoren nichts anzufangen,« entgegnete der Herr Verleger. »Entschuldigen Sie mich, ich muß ins Geschäft.«

* * *

»Nicht einmal Leberwurst gab es.«

* * *

»Nichts.«

* * *

»Garnichts.«


 << zurück weiter >>