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Letztes Kapitel.


Mein Herr Verleger hatte mich zu einem Abendessen eingeladen. Das fand ich so herablassend, daß ich zwei Nächte vorher aus Glückseligkeit nicht schlief und an dem Haupttage selbst schon am Morgen in den Frack schlüpfte, um mich so recht in Feststimmung hineinzuleben. Der Frack ist ja nun einmal das männliche Prunkgewand, obgleich er etwas vogelscheuchenartiges an sich hat; aber das sichert ihm vielleicht gerade seine Stellung, denn mit den Augen der Vernunft betrachtet, verliert er jegliche Berechtigung. Das Unvernünftige aber bleibt oben auf.

Mit dem Glockenschlage stellte ich mich ein und war der Erste. »Sie hätten noch eine Stunde Zeit gehabt,« belehrte mich mein Herr Verleger, »so früh kommen ist dörfisch.«

Ich bat zerknirscht um Entschuldigung. – »Diesmal schadet es Nichts,« erwiderte er, »im Gegentheil, es ist mir lieb, mit Ihnen einige Worte unter vier Augen zu sprechen. Sagen Sie mir blos, wie viele Kapitel wollen Sie denn noch schreiben?«

»Zehn bis elf.«

»Mehr nicht?«

»Die werden reichen. Oh, ich habe noch so unendlich viel zu sagen. Ein Kapitel brauche ich, Ihnen die Lokomotive nachzuliefern, eins spielt bei Müllers …«

»Am Ende des Buches kann ich keine Lokomotive mehr gebrauchen und Müllers sind auch nicht nöthig. Hille kriegt ihren Theodor, wozu Papier verschwenden?«

»Ich hatte mir so hübsch ausgemalt, wie Theodor Hille seinen Eltern zuführt und wie der alte Müller die Verlegenheit vor der feinen Braut dadurch überwindet, daß er seinem großen Jungen eine Rede hält, die von einer Tracht Schelte kaum zu unterscheiden ist. Der Theodor möchte aber laut aufjauchzen, denn die Sorte Schelte kennt er, die ist rauhes Lob, wie er es oft bekam. Und Minna denkt: wie ist Vater heute gut; ihr ganzes Sein wird zum Segenflehen für Alle, stille Seligkeit erfüllt sie. Sie ist glücklich. – Hille findet sich in die Klempnerverhältnisse hinein, als sei sie darin groß gezogen, und das ist auch erklärlich. Das Schicksal baut die Verhältnisse und hinein muß der Mensch. Entweder kommt nun das Muß mit der Geißel der Noth und peitscht ihn, bis er sich einzwängt, oder die Liebe bittet und führt ihn mit linder Hand hinein, und dann wandelt das harte Muß sich in milde Zufriedenheit. So giebt es zweierlei Muß, ein bitteres und ein süßes.«

»Das wären zwei Kapitel. Bleiben noch acht, wozu die?«

Davon sind fünf für die Doktorengrube. Die Doktoren machen theils Geld-, theils Neigungsparthien. Herr Runft bekommt eine Wittfrau in den besten Jahren. Himeyer ehelicht eine Stadtverordnetentochter und malt Historienbilder fürs Rathhaus.«

»Er, der offenen Widerwillen gegen die Historienmalerei äußerte …?«

»Was thut man nicht der Frau zu Liebe und zur Beruhigung der neuen Verwandtschaft? Und Aufträge sind Aufträge. Er komponirt ein großes Gemälde: ›Verwaltungsbeamten aus Neapel wird von ihren Berliner Kollegen bei einem Ausfluge nach Osdorf Rieselwasser kredenzt‹. Es hat eine Breite von vier Metern bei einer Höhe von drei Metern, prachtvoll! – Ferner bekommt die biertrinkende junge Dame einen Mann, einen gewissen Neumann, Carl Detlef Neumann, Assessor …«

»Wollen Sie Eschels Meike nicht auch noch verheirathen?«

»Da bringen Sie mich auf einen trefflichen Gedanken! Eine friesische Hochzeit zu schildern, dürfte, wenn auch schwierig, so doch lohnend sein. Man könnte einige Volkslieder altfriesischer Mundart einflechten, die ungeheuer echt wirken würden, weil sie Niemand versteht. Zum Beispiel: Wü senn jir toi enn Bröllop, Jir mütt wü uck watt sjung …«

»Genug. Genug. Merken Sie denn nicht, daß ich Ihnen fortwährend zu verstehen gebe: ich danke?«

»Wirklich?«

»Eine Geschichte kann doch unmöglich in ein Heirathskontor ausarten.«

»Sie erlaubten mir, so viel Nebenpersonen zu verloben, wie ich wollte …«

»Unter der selbstverständlichen Bedingung, daß die Wahrscheinlichkeit dabei nicht mißhandelt würde. So verschwenderisch, wie Sie sich einbilden, werden Doktoren nicht abgesetzt. Lieutenants wären vielleicht glaubwürdiger, für die sparen angehende Schwiegerväter und sticken Erbtöchter Pantöffelchen.«

»Neuzeitlich sind auch Doktoren recht beliebt und werden nachgefragt, sowohl solche mit, als auch ohne Musik. In einigen Häusern richtet man die jungen Mädchen sogar auf Nichtmilitär ab und einfache, ungetitelte Männer. Ja, ja, wir gehen einer vielversprechenden Zukunft entgegen.«

»Andererseits wirkt man für die Emanzipation.«

»Die ist nicht von Bestand. Unlängst hatten in einer amerikanischen Stadt die Frauen erst die Wahlen gekapert und dann alle öffentlichen Aemter in Beschlag genommen. Anfangs war's wonnig; es ging sparsam zu, ordentlich, reinlich und die Männer waren völlig drunter durch. Allmälig aber zeigte sich, daß manche Maßnahmen zu kurz überlegt waren und für die Dauer nicht langten. Da fingen die Geknechteten an, Kritik zu üben, die Zeitungen machten Randglossen zu der neuen Wirthschaft. Und was glauben Sie, was die Folge davon war?«

»Nun?«

»Das gesammte Rathskollegium fiel in Weinkrämpfe über die bösen Artikel, und das war um so schlimmer, als der Bürgermeister fehlte, die Ordnung aufrecht zu erhalten.«

»Wo war denn der?«

»Er lag gerade in den Wochen.«

»Und sein Ersatzmann?«

»Hatte sich mit dem Schreiber erzürnt und kam nicht. Nach knapp dreiviertel Jahren war Alles wieder beim Alten. Mütter taugen nun einmal nicht zu Stadtvätern.«

»Nächstens mehr davon,« sagte mein Herr Verleger, denn nun wurden Gäste gemeldet, Herren und Damen. Die Gattin meines Herrn Verlegers erschien und empfing sie, und auch ich wurde vorgestellt. Es war eine Pracht, zu sehen, was die Damen anhatten und was sie nicht anhatten. Die Seide rauschte und die Edelsteine blitzten, oder waren es die Augen, ich weiß es nicht genau mehr, so verwirrte mich die Ungewohntheit, so blendete mich der Festglanz. Es war großartig, wirklich lebend dabei zu sein. Großartig ist hierfür das richtige Wort, ich hasse es sonst, denn jedes dritte Wort im Gespräch ist jetzund das beliebte »großartig« in allen möglichen Betonungen, und doch ist es nichts weiter als der Ausdruck gedankenlosen Staunens, ein Lallwort kindischer Bewunderungsschwäche, die nicht zu unterscheiden vermag, und von All und Jedem gleich hingerissen, den gleichen Ausruf hat: großartig. Wie Jemand spricht, so denkt er, wer Alles großartig findet, hat für das wahrhaft Große keine Empfindung, sonst würde er dies Wort nicht wie ein Automat bei allen Anlässen, ob groß, ob klein, herausfallen lassen. Daß es Modewort werden konnte, zeigt, daß zur Zeit klein gedacht wird, wenn Denken überhaupt noch Mode ist.

So ungefähr sprach ich zu einer jungen, blonden Dame, die ein seegrünes Kleid trug und einen Strauß weißer Blumen vorn an der Brust, von funkelnden Diamanten gehalten. Sie blickte mich eine Weile stumm an und sagte dann blos das Eine:

»Großartig.«

Dann machte sie mir eine Verbeugung und ging zu einer Freundin in rosa Atlas. Es war ein hübsches, liebes, junges Mädchen, aber sie sagte: großartig.

Schade. –

Bei Tisch kam ich neben der schönen Frau meines Herrn Verlegers zu sitzen. Ich hatte sie schon immer bewundert, so geschmackvoll war sie gekleidet. Ein mattweißes Kleid mit eingewirkten Streublumen von goldiger Farbe war gar prächtig und schmiegte sich an sie, als wollte es ihrer Schönheit in Gehorsam dienen. Welche Angst ich ausstand, daß Jemand auf die üppige Schleppe treten könnte, vermag ich kaum zu sagen. Es war ein so kostbarer Stoff.

Sie nahm sich meiner freundlich an und war sehr gut gegen mich. Als sie sah, daß ich meinen Fisch schon gegessen, winkte sie Meier'n und der mußte mir den Steinbutt noch einmal reichen.

Er hieß nämlich Meier, der Lohndiener, und hatte weißbaumwollene Handschuhe an. Ein kluger, kenntnißreicher Mann, dieser Meier, von allen Weinen, die er einschänkte, wußte er den Namen, und darunter waren französische, sehr schwer auszusprechende.

Es war sehr hübsch. Nur schräg gegenüber der Herr gefiel mir nicht. Ich konnte mich der Vermuthung nicht erwehren, er habe Nadeln verschluckt und die wanderten überall in ihm umher. Weshalb sollte er sonst so griesgrämig sein, in der Gesellschaft, um die Meier immer mit der Flasche herumging und sie aufheiterte. Der Grämige warf mir von Zeit zu Zeit einen scharfen schiefen Blick zu. Endlich näselte er mich an:

»Also Sie sind der junge Mann, der Pienchens Brautfahrt geschrieben hat?«

»Ihr Beifall beglückt mich außerordentlich,« entgegnete ich.

»Ich wüßte nicht, daß ich Ihnen Beifall gespendet hätte,« blies der Verdrießliche zurück. »Ich wollte Ihnen nur bemerken, daß Sie von der Wichtigkeit des Lateinischen und Griechischen falsche Ansichten hegen. Ohne sie keine höhere Bildung.«

»Mithin wären alle Nichtgriechen noch heute Barbaren, wie ehemals. Meine Meinung ist, daß Voß mit der Homerübersetzung die Bildung weiter gefördert hat, als tausend Grammatiker, welche die alte Literatur in Worte, Silben und Accente zerschroten und nicht einsehen, daß der Sinn für Poesie und Ideales unmöglich bei solchem Kleienfutter gedeihen kann. Denken Sie sich nach Tausenden von Jahren, bei irgend einem Volke Goethe und Schillers erhabene Dichtungen zu Buchstabirbüchern gemacht, Klopstocks Oden zu Klopfstöcken, die Formenlehre in Knabengehirne zu rammen, die Reden unsers großen Bismarck zu Wort- und Satzerklärungen benutzt, ohne Eingehen auf Sinn und Zusammenhang. Müßten Sie die armen Buben nicht auch bedauern, die vom einst klassischen Deutschland nichts kennen lernten als Sprachregelklauberei?«

»Ohne grammatikalische Uebungen erfaßt Niemand den Geist einer Sprache.«

»Es wäre traurig, wenn Jeder, um von Shakespeares Feuer durchglüht zu werden, des Englischen mächtig sein müßte. Den Geist fremdsprachiger großer Männer gebe man uns in der Sprache unseres Landes so schön, wie es irgend möglich ist. Und unser Deutsch übe und pflege man vor allem Andern.«

Der Griesgrämige würdigte mich keiner Entgegnung. Zu meinem Herrn Verleger gewandt krächzte er:

»Ueberall Verwilderung, überall Revolution; entsetzliche Zeit.« – Und mit dem Daumen auf mich deutend, sprach er: »Der junge Mann nimmt kein gutes Ende; ich habe ihn ja auch nicht in meiner Klasse gehabt.«

»Aha!« dachte ich, »der schlägt Kinder. Und Nadeln sind es nicht, die ihn zwicken, es sind hintergewürgte griechische Accente.«

Die blonde Dame in Seegrün rief: »Shakespeare; ich gebe Ihnen Recht. Mattkowski ist zu himmlisch als Romeo und Clara Meier als Julia großartig.«

»Finden Sie?« fragte eine andere. »Das Kleid in der Sterbeszene war doch schrecklich unmodern.«

»Schmeckt es Ihnen?« fragte meine Frau Verlegerin mich huldvoll.

»Ich habe noch nie so delikate Wrucken gegessen.«

»Das sind keine Wrucken, das sind Artischockenböden.«

»O,« stotterte ich hervor und schämte mich; am liebsten wäre ich unter den Tisch gekrochen. Zum Glück kam Meier mit Achtzehnhundertvierundsiebziger Mouton Rothschild. Grand cru, tirage du château und lenkte die Aufmerksamkeit von mir ab. Die Herren prüften die Blume des Weins mit der Nase, dann den Wein selbst mit Lippen, Zunge und Gaumen und sprachen hierauf ihre höchste Anerkennung aus. »Warum bist du Esel nicht Rothwein geworden,« schalt ich mich selbst. Da dieser Einfall mir spaßig vorkam, ward ich innerlich lustig und schaute vergnüglich in die Tafelrunde. Möglicherweise lag es aber auch an Meier, daß ich so vergnügt war. Er hatte schon wieder eine neue Sorte.

Der andere Herr, das Gegenstück zu dem Griesgrämigen, eine Art von Vollmond, der Hungerkur gebraucht hatte, wandte sich jetzt an mich und sagte: »Wissen Sie, was der Indier sagt, das ist Alles Unsinn. Sind wir über den Köhlerglauben hinweg oder nicht?«

»Ach so! Sie meinen, am Anfang war der Kohlenstoff. Ja, darüber sind wir hinweg.«

»Ihr Indier lästert die Wissenschaft!«

»Durchaus nicht. Er will ja nur Freiheit für sein Glauben, wie die Wissenschaft für ihr Forschen. Das Mathematische ist für den Hirnschädel, der Glaube aber für das Herz, und er wehrt sich nur gegen die Einzäunung des Gemüthslebens mit dem Einmaleins. Neulich sagte er zu Dr. Sattler: wenn die exakte Wissenschaft Glauben verlange, wenn sie, sobald sie mit ihren Maßen zu kurz käme, sich auf die dunkeln, vielgestaltigen Molekularkräfte berufe, deren Gesammtheit keinem bisher bekannten Gesetze gehorcht, dann erscheine sie ihm ebenso spukhaft, wie die Versuche, das zu Glaubende durch Experimente zu beweisen.«

»Sind sie sehr interessant, die dunklen Molekularkräfte?« fragte die rosa Atlas-Dame. »Wir waren in der Urania, dort war es auch interessant. Wenn man den Mond durch elektrisches Licht vergrößert, sieht er aus wie ein Napfkuchen, aus dem die Rosinen herausgenascht sind. Es war sehr interessant, nur viel zu lang.«

»Pienchen!« wollte ich rufen, aber ich besann mich noch rechtzeitig. – »Ja,« antwortete ich, »sie sind sehr interessant, höchst interessant sogar, namentlich wenn die dunkelsten erst mit Anilin aufgefärbt werden.«

»Großartig! Was heut zu Tage Alles mit Anilin gemacht wird, ist einfach großartig.«

»Großartig, großartig,« setzte die Grünseidene hinzu.

»Gewiß,« sagte ich. »Die Griechen hatten Platon, wir haben Anilin.«

»Das ist eben der Fortschritt,« sagte der Mondmann.

»Er war es, der von der Seele lehrte, daß sie gelebt habe, lebe und leben werde; aus Indien und Aegypten hatte er solche Weisheit. Und wie konnte es anders sein? Wo wäre Gerechtigkeit, wenn für kurzes irdisches Leben die Strafe oder der Lohn ewig währte? Ewig! In neuen Welten, in neuem Leben aufwärts zum Heil, hin zur Gnade, so ist Herrn Steinbachs Glaube. Nicht kann er begreifen, daß es möglich sei, ein ganzes Leben voller Schurkerei mit einem winzigen Augenblicke der Reue wieder gut zu machen. Kein Winkel des Weltalls, kein Stern, wo sie nicht herrschte … die Gerechtigkeit. Ebensogut wie das Natrium ist die Gerechtigkeit überall im Universum; das Gesetz von Ursache und Wirkung ist nicht nur gültig in der todten Welt der Hebel und Schrauben, sondern auch in der des geistigen Lebens … und … und … ich kann dem Indier nicht Unrecht geben.«

»Ist er hübsch?« fragte die schöne Frau meines Herrn Verlegers.

»Ein stattlicher Mann; fesselnde Gesichtszüge, wunderbare Augen, wohlklingende Stimme, aber man merkt es doch, daß die Tropen ihm zugesetzt haben, die gelbliche Gesichtsfarbe deutet auf Leiden.«

»Er ist Hypochonder,« sagte der Mondmann, »sein Arzt hätte ihn nach Karlsbad schicken sollen.« »Aber übrigens warum grübelt der Mensch? Was nützt ihm das? Wer sich ehrlich durch das Leben schlägt und sich anständig beträgt, wozu gebraucht der Religion?«

»Das Gemüth verlangt …« suchte ich einzuwerfen.

»Das kommt auch nicht zu kurz, wenn ich so in den Wald gehe und die Bäume bilden ordentlich einen grünen Dom, und die Vögel singen darin, und man geht weiter und sieht Wiesen und Seen, den blauen Himmel und Alles so feierlich … das ist meine Religion.«

»Schade, daß sie nicht regenecht ist.«

»Wie so?«

»Nun, die ganze Feierlichkeit ist doch hin, wenn's regnet. Das ist Kommunalbeamtenreligion …«

»Herr! Ich bin im Magistrat.«

Die herzensgute Frau meines Herrn Verlegers rettete mich. »Es war nur dichterisch gemeint,« sagte sie, »und keinesfalls beleidigend. Ueber die Thätigkeit der Kommunalbeamten giebt es nur eine Stimme höchsten Preisens.« Und freundlich trank sie dem Mondmanne zu. Der that Bescheid und lächelte, als hätte er zugenommen.

»Sie haben noch nicht erzählt, wie Pienchen wieder nach Hause kam. Was sagte die Mutter, was Hille?« fragte eine ältliche Dame in silbergrauem Rips.

»Beide schrieen laut auf; sie zetern und kreischen ja schon bei jeder Kleinigkeit, jetzt ließen sie die Gelegenheit nicht unverwendet. Eschels Meike sagte, sie hätte auf dem Tonderner Herbstmarkte Kameruner in einer Bude Lärm machen gehört, daß ihr angst und bange geworden wäre, aber sie glaubte nicht, daß die so juchen könnten, wie die Lahmanns, als das Fräulein unversehens in der Thür stand.

Pienchen war einige Tage recht krank und in der Doktorengrube saß der unheimliche, finstere Gast stundenlang wieder da. – Was ärztliche Kunst und Pflege vermochten, das geschah, aber kräftigender als Heiltränke und Fürsorge half das im innersten Herzen erwachte Leben.

Der Schreck hatte die Mutter aufgerüttelt. Sie klagte sich der Lieblosigkeit an, daß sie mehr ihren Eigennutz als das Wohlergehen ihrer Tochter im Auge gehabt. Nun überfloß sie in Güte. Sie versprach hoch und heilig, Pienchen auf Händen zu tragen und sie zu hegen, wie ein Kleinod. Hille wurde der Klempner gestattet.

»Aber Mama,« bat Pienchen, die bleich war wie das Kopfkissen; »Du darfst Dein Wort morgen nicht wieder zurücknehmen.« – Hille küßte ihre Schwester. »Pienchen, mein liebes Pienchen.«

Kein Streit, kein Bosheitsgetröpfele wie sonst. Pienchen schloß die Augen. »Wie Dein Begehren, so Dein Dasein,« hallte es durch ihr Denken und Sinnen. Sie vermochte es nicht zu fassen, aber ihr war, als wenn glückverheißend ein Morgenroth über der trüben, farblosen Welt ihrer Gedanken aufgegangen wäre. »Pienchen, mein liebes Pienchen,« das wärmte, wie Sonnenschein.

Wer aber meint, der Alten wäre durch den Todesschreck die Zornmüthigkeit abgejagt, wie ein Schluckauf, der kennt sie nicht. Ueber die eine Hand hatte sie Zärtlichkeitsfell gezogen, für Pienchen und Hille; an der andern dagegen ließ sie lange, scharfe Krallen wachsen … für Herrn Brömmer.

Der war nicht gekommen, das Jawort zu holen, wie der Kapitän verheißen. Das konnte nicht ungestraft hingehen. Er, der Brömmer, das Skelett, hatte an Allem Schuld, der Kapitän auch und sie, die Lotzen, dito. Es kochte in ihr, wenn sie dieser Drei gedachte.

Das Skelett war verschwunden. Es hatte seine Rechnungen berichtigt und war entflohen. Frau Lotz, die den Kollaborator nie recht gemocht hatte, suchte vergeblich seine Todesgeschichte zwischen den anderen schönen Blutthaten ihrer Zeitung.

»Oha!« sagte der Kapitän, »da kannst Du lang auf lauern … eh'r der aus seinen Büchern herausstudirt hat, wie er sich umbringen muß, ist er vor Altersschwäche gestorben. Er ist zu ein gefährlicher Tünbüdel.«

»Wo ist er denn hin?«

»Ausgeritzt.«

»So ein slechten Menschen, gönnt mir armen kranken Frau nicht das kleinste Vergnügen. Warum hat er sich nicht mit besonderen Umständen getödtet? Da könnte man ihn doch lesen.«

Herr Brömmer war zwar noch auf Sylt, aber nicht in Westerland. Noch an dem Ballabend – sowohl Schnellbeinchen, wie der Kapitän und das Kind hatten ihn und seine Tanzkunst zu niederschmetternd verurtheilt – faßte er den Entschluß, einen Kreis zu meiden, der ihn unwürdig behandelte. Wie durfte er, als Lehrer, der in seiner Klasse unfehlbar, unantastbar alleinherrschte, sich eine Bevormundung gefallen lassen? Sein ganzer Stolz empörte sich. Wäre er Offizier, verstände er zu fechten, zu schießen … er wäre ganz anders aufgetreten. Jetzt blieb ihm nur übrig, Jene durch Verachtung zu strafen. Er ging, gab aber seine Kur nicht auf. Sylt ist ja groß.

Als nun an einem schönen Tage Pienchen den Wunsch äußerte, sie möchte zu dem Leuchtthurm von Kampen, sie habe sein Licht lieb, das Schiffbrüchige rettend aus Nacht und Noth leite, betheiligten sich Alle an der Ausfahrt. Auch der Indier. Der Indier und das Kind waren gute Freunde geworden.

Nun hatte Pienchen auch einen Hofstaat, wie die schöne Lüneburgerin. Und wie freundlich begegnete ihr jeder der Herren. Sie war schweigsamer geworden, und wenn sie sprach, klang es einfach und natürlich.

Auf dieser Fahrt ward in Wennigstedt Halt gemacht und als Schnellbeinchen vorschlug, den Denghoog zu besuchen, das Hünengrab des Friesenkönigs Deng aus der Walkürenzeit, meinte Mutter Lahmann, das sei wohl für sie und Hille zu traurig und für Pienchen zu angreifend. Und doch sprang sie auf, ließ Kaffee und Eierkringel im Stich und eilte über die Haide, dem Grabkegel zu. Ein Mensch nämlich hatte die Herren von der Doktorengrube gesehen und suchte das Weite, und diesen Menschen, der springend floh, hatte Mutter Lahmann entdeckt. Es war Herr Brömmer, der Schutz in dem Steingrab des alten Herrn Deng suchte. Dies war das nächstgelegene Versteck.

Als er sich geborgen wähnte, kam Jemand nachgeklettert. Das war die alte Lahmann.

»So,« sagte sie, »hier brüllt er vergebens nach einem Schutzmann.«

Nun waren sie zu Dritt in der Steinkammer: Herr Brömmer, die Lahmann und die Erklärfrau mit den Stearinkerzen, womit sie den Besuchern die sogenannte prähistorische Zeit erleuchtet. Da das Grab für den Hünen nur als Sitzgelegenheit berechnet war, mußten die Anwesenden hocken oder knieen, je nach Einsicht und Neigung und Maß. Diesmal kniete Herr Brömmer wegen seiner Länge und Dünnbeinigkeit, die Alte hockte.

»Sie, Sie,« zischte sie ihm zu. »Sie nichtswürdiges Subjekt …«

»Dies ist die sagenumwebte Grabstätte des alten Friesenkönigs Deng,« begann die Stearinkerzenfrau die Beschreibung mit eintöniger Stimme.

»Sie schleichen sich in Familien ein, bethören die Töchter und schleichen wieder davon …«

»Man meinte früher, daß der Eingang von Osten nach Westen gerichtet sei,« fuhr die Lichterfrau fort und zündete noch einige Kerzen an.

»Das ist mir ganz egal,« rief die Lahmann ihr zu. »... Und Sie entschuldigen sich nicht einmal, wenn Sie anständiger Familien Töchter ins Gerede gebracht haben?« bekam Herr Brömmer sein Theil.

»Professor Handelmann aus Kiel hingegen behauptete, daß der Steingang von Süden nach Norden,« … leierte die Frau.

»An den Rand des Todes haben Sie mein Kind gebracht. Womit wollen Sie sich vertheidigen. Sie sind ja ein …«

»Die Ausgrabung erwies, daß Professor Handelmann aus Kiel Recht gehabt.«

»Schweigen Sie mit Ihrem Professor Handelmann aus Kiel … Wissen sie, was Sie sind, was Alle sagen: … ein elendes Skelett.«

Einen Blick voller Jammers richtete der Kollaborator auf seine Peinigerin. Dann raffte er sich auf, erkletterte das Leiterchen, wand sich durch die Steinklinze, die den Eingang von Oben bildet, und rannte über die Haide, den Dünen zu. Und bei dem Ausschreiten murmelte er: » Abiit, excessit, evasit, erupit.« Es freute ihn, diese Stelle des römischen Advokaten völlig würdigen zu können, eigentlich jetzt erst richtig zu verstehen.

Nachher hat ihn Niemand auf Sylt wiedergesehen.

»Bekam die Lotz ihn zu lesen?«

»O nein. Er reiste nach Hause.«

»Und was wird dort aus ihm?«

»Er franst aus.«

»Was heißt das?«

»Der Mißerfolg seiner Werbung hat ihn kopfscheu gemacht; jetzt bleibt er Junggeselle, und da er für Niemand sorgt und Niemand für ihn, reißt ihm hier ein Knopf ab und da, ohne angesetzt zu werden. Er wird nähteblank, die Essenflecke züchten sich wie Flechten auf Rock und Weste, die Zähne dunkeln nach, das Waschen geschieht immer oberflächlicher und die Haare starren als Heiligenschein der Ungekämmtheit. Unten an den Beinen aber fängt er an auszufasern, und so fasert er allmälig überall … mit einem Worte: er franst aus.«

»Dann war es ja sehr gut, daß Pienchen ihn nicht bekam?« meinte die blonde Dame.

»Natürlich,« sagte die Frau meines Herrn Verlegers.

»Sagen Sie … wen bekommt denn Pienchen?«

Alle horchten gespannt.

Ich schwieg.

»Sie müssen es doch wissen.«

»Pienchen darf nicht verlobt werden …«

»Warum nicht?«

»Wegen des zweiten Bandes, mein Herr Verleger hat mir strengstens verboten …«

Nun aber der Aufruhr. Die Damen bestürmten den Herrn Verleger, er möchte doch erlauben, daß Pienchen verlobt werde. Sie alle nähmen innigsten Antheil und würden sich unendlich freuen, wenn das arme Mädchen einen Mann bekäme.

Die Seegrüne sagte, sie möchte das ganze Buch nicht, wenn Pienchen ledig bliebe. »Bitte, bitte,« rief sie. »Bitte, bitte, einen Mann.«

Da stand mein Herr Verleger auf und fragte mich: »Was meinen Sie?«

»Ich kann mich doch unmöglich den Wünschen der Damen widersetzen …«

»Mit wem wird sie verlobt?« – »Wen kriegt sie?« – »Ist es Herr Runft?« – »Nein, Schnellbeinchen.« – »O ja, der ist so reizend zum Bräutigam.« – »Das Kind paßt am besten für sie.« – So schwirrte es durcheinander. »O nein, Herr Dr. Haller ist ein edler junger Charakter.« – »Und Herr Dr. Sattler ist so gediegen.« – »Und vermögend!«

Ich erhob mich mit dem Glase in der Hand.

»Meine Damen und Herren,« redete ich. »Der Pienchen ins Leben führte, verläßt sie nicht. Ich würde ja gern einen zweiten Theil liefern, aber die Handlung reicht erst recht nicht aus. Das Glück, dessen sich die Beiden erfreuen, ist nur ein kurzes; Ta'alihene hat's mir gesagt, ich blickte durch seine Augen. Und es läßt sich auch nicht erzählen das Glück, wie sie in dem Garten des Lebens wandeln. Dazu ist es zu groß. Aus Leid erlöst, das ihre Jugend verbitterte, aus dem Zwange selbstischen Wesens befreit, hingebend in irdischer Liebe, das Walten göttlicher Liebe ahnend, schreitet sie, eins mit dem Geliebten, dem Gatten, dem Führer, horcht den Tönen, die den Goldharfen entschweben, und lauscht den singenden Rosen. Und in der Abendkühle tritt Ta'alihene zu ihm und führt ihn hinweg, und sie muß ihn hingeben. Nicht ihn, nur den Staub, denn er lebt in dem Lichte, das er in ihrem Herzen entzündete, da er sie dem Tode entriß. Sie hält ihn ewig in Liebe …«

»Also Herr Steinbach,« rief die blonde Dame. »Sie leben hoch.«

Wir stießen alle an. Die Gläser klangen.

Die Brautfahrt hatte ein

Ende.


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