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Himeyer war nicht wie die Maler früherer Zeit, wild, wunderbarlich und verthuig, mit Schlapphut und Faltenwurf angethan, sondern hielt auf sich in Umgang, Betragen und Kleidung, ohne jedoch die Vorschriften der Mode mehr zu berücksichtigen als ihm gut dünkte. Er sagte: was die Mode erfände, stehe nicht Jedermann und noch viel weniger jeder Frau, daher käme es, daß es schien, als wenn alle Welt ihre Kleider fertig bezöge. Irgend etwas des Anzuges pflege nicht zu stimmen, weder in Farbe und Muster untereinander, nicht im Schnitt zu dem Körper und seinen Gliedmaßen, noch befriedigend zu der Art des Menschen, der ihn trüge. »Steckt einen Tyroler, den schönst gewachsenen Kerl, in einen Frack: er sieht eben so bedauernswerth aus, wie ein Ballschwerenöther als Bergfex. Und doch finden beide sich außerordentlich in ihrer Verunkleidung, wenn ihnen kein anderer als der Spiegel sagt, wie sie ausschauen. Im Spiegel findet Jeder sich unwiderstehlich, weil er sich von Jugend auf an seinen optischen Zwilling gewöhnt hat und Gewohnheit und Kritiklosigkeit ziemlich auf eins auskommen. Der Eigenliebe fällt es erst recht nicht bei, sich selbst zu richten, und wer wäre von ihr frei? Nun ist unleugbar – so sagte Himeyer – daß im Menschen der sogenannte Uniformsinn liegt, das Bestreben, es ebenso zu haben und ebenso zu machen, wie sein Mitmensch. Ohne den Uniformsinn wäre die Mode nicht zu erklären, die merkwürdige Erscheinung, daß Alle miteinander ohne hinreichenden Grund sich für bestimmte Lebensformen entscheiden, einerlei, ob selbe mit der Vernunft im Einklang stehen oder nicht. Himeyer sagte ferner, so wäre es seit undenklicher Zeit gewesen und er könne nichts daran ändern, aber für einen Maler wäre es verdrießlich, daß das Eigenartige der Trachten im Volke dem Modischen wiche, und da städtische Tracht und ländlicher Träger zusammen eine Karrikatur ergäben, schließlich nur noch Modelle für Fratzenzeichner, nicht aber für ernsthafte Maler vorhanden sein würden. In der Stadt richteten die Herren Kommis geradezu Geschmacksverwüstungen an. Wollten sie irgend eine kunstgewerbliche Mißgeburt, eine Fabrikunthat, Trödel, wie er nur geartet sei, los werden, so sagten sie: »Dies wird sehr viel gekauft«, und die vom Uniformsinn Besessenen ließen sich alles mögliche Widrige in die Hand stecken und freuten sich, genau dasselbe erworben zu haben, wie X. Y. Z. Daher die Allgemeinheit so vieler Scheußlichkeiten. Ferner behauptete er: Alles werde ausgeglichen, die Ladenfenster der einen Stadt zeigten genau dieselben Gegenstände, wie die der anderen, die Häuser würden sich auch immer ähnlicher, ebenso die Straßen und Plätze. »Ich bin gottlob kein Historienmaler,« schloß er seine Betrachtung, »wenn ich aber einer wäre, malte ich ein großes Sammelsurium von modernen Menschen, Sachen und Baulichkeiten und darüber schwebend den alten Kronos, in der einen Hand statt des Stundenglases ein Bandmaß und in der andern statt der Sichel ein Bügeleisen.«
Die Veranlassung zu diesem Vortrage war Pienchen gewesen. – Er ward gehalten in der Doktorengrube am Tage nach der Rantumer Partie.
Kapitän Lotz hatte es eingerichtet, daß für die Familie Lahmann am Gasthaustische, unmittelbar neben ihm und dem Kollaborator, gedeckt ward, und sich und Herrn Brömmer pflichtschuldigst vorgestellt. »Herrjeh,« rief die Alte, als sie seinen Namen erfuhr, »ich habe einen Gruß an Sie zu bestellen von Herrn C. F A. Büsing. Wir machten auf der Freia Bekanntschaft.« – »Danke vielmals,« entgegnete Herr Lotz. »War er wohl und munter?« – »Sehr,« erwiderte Frau Lahmann. »Er erklärte uns Manches über die Schifffahrt. Nicht wahr, Pienchen? Ein hochinteressanter Mann.« – »In Rothspohn kennt er sich besser aus,« bemerkte Herr Lotz. »Er hatte wohl Kurs nach Cuxhaven?« – »Ja, da stieg er ab.«
So ging das Gespräch weiter. Mutter Lahmann kramte ihre ganze Liebenswürdigkeit aus. Pienchen versuchte eine Unterhaltung mit dem Kollaborator anzuknüpfen, aber der war außergewöhnlich schüchtern und einsilbig.
Als nach beendeter Mahlzeit Herr Lotz die Herren der Doktorengrube bekannt machte, strahlte die Alte. Nun war der Bann gebrochen, die erste Annäherung geschehen; für den Rest wollte sie schon sorgen. Einen würde sie dingfest machen, entweder für Pienchen oder für Hille. Das Portemonnaie würde nicht umsonst strapaziert.
Die Herren dachten: »Eine ist für das Skelett, entweder die Aeltere oder die Jüngere. Wir thun das Unsrige.«
Dr. Haller schlug vor, den Nachmittag zu einem Ausflug nach Rantum zu benutzen. »Mir aus der Seele gesprochen,« stimmte der Kapitän bei. »Wenn die Damen uns die Ehre schenken wollten …«
»Wir haben noch garnichts von Sylt gesehen. Nicht wahr, Pienchen? Es wäre wirklich zu reizend, wenn die Herren uns unter ihre Fittiche nehmen wollten.«
»Madame, es wird uns eine Ehre sein,« sagte der Kapitän verbindlich.
Ob es Zufall war oder sachkundige Leitung, bleibe dahingestellt, genug, als die Wagen abfuhren, saßen auf dem ersten Herr Lotz bei dem Kutscher, die Mutter und Hille auf dem mittleren Sitze, auf dem letzten Pienchen und der Kollaborator. Die übrigen Herren folgten in einem kleinen Jagdwagen. Dr. Sattler war bereits früher gegangen.
Die Dünen verdeckten den Blick auf die See. Zur Linken aber breitete sich das Wattenmeer aus. Die Zeit der Ebbe war gekommen, das Wasser lief langsam ab und der flache Grund trat hervor. Der Kutscher lenkte sein Gefährt von dem beschwerlichen Sandwege auf den feuchten Meeresboden, der, fest und hart, einen trefflichen Weg gab. Wasservögel suchten Beute in den kleinen Vertiefungen, in denen ein wenig Nässe zurückblieb. Sie scheuten kaum vor dem Wagen.
»Die mit den rothen Schnäbeln, das sind Austernfischer,« sagte Herr Lotz, indem er sich zu der Alten umwandte. Diese drehte sich ihrerseits um und sagte: »Merke Dir das, Pienchen. Oder hast Du sie bei Herrn Wergheim schon gehabt?«
»Treiben Sie Zoologie?« fragte Herr Brömmer, der bis dahin kein Wort geredet hatte.
»Jetzt nicht mehr,« entgegnete Pienchen, »aber ich brauchte sie zum Examen.«
»Es wird viel verlangt,« sagte Herr Brömmer.
»Die Wissenschaft ist eben unendlich. Haben Sie Chemie gerne?«
Herr Brommer lächelte ausweichend.
»Sie ist hochinteressant. Wir hatten Chemie und Physik bei Herrn Wergheim. Die ganze Welt ist das Spiel der Moleküle. Es sind lauter kleine Körner, die man Atome nennt. Ihre Kleinheit ist ihnen im Wege, sonst wären sie faßbarer. Herr Wergheim hofft aber, daß es der Wissenschaft gelingt, sie darzustellen. Es wäre das von der höchsten Bedeutung. Sprechen Sie englisch?«
»N–ein!«
»Wir hatten englische Konversationsstunde.«
»Wir nicht,« entgegnete Herr Brömmer. »Zu meiner Zeit unterrichtete der Religionslehrer auch in den neueren Sprachen; in der Grammatik und Syntax recht eingehend, das heißt die Anfangsgründe. Und die Grammatik ist doch die Hauptsache.«
»Wir hatten auch Religion, aber Herr Wergheim sagte, sie hindere den aufsteigenden Fortschritt der Menschheit, das sehe man am finsteren Mittelalter. Jetzt hat man überall Gas und elektrisches Licht. Und dann die Alles belebende Lehre des Darwinismus, die dem Menschen seine wahre, hohe Stellung mathematisch beweist.«
»Griechisch hatten Sie wohl nicht?« fragte Herr Brömmer.
»Die Kulturgeschichte der Griechen wurde durchgenommen, sie ist nothwendig wegen der Ausgrabungen, die heute so modern sind. Wie finden Sie den Altarfries von Pergamon? Er zeichnet sich aus durch Kraft der Charakteristik und Verwandtschaft mit dem Laokoon.«
Das Skelett blickte scheu.
Frau Lahmann horchte hinter sich; sie war zufrieden.
Der Nachtrab beobachtete den Vorderwagen.
»Es wäre doch zu hübsch,« meinte Dr. Haller, »wenn aus den Beiden ein Paar würde. Ihm wäre gedient und ihr auch, wegen übertriebener Schönheit brauchen sie sich gegenseitig keine Vorwürfe zu machen.«
»Sie wäre garnicht so übel, wenn sie sich nur zu kleiden verstände,« sprach Himeyer.
»Sie geht nach der Mode,« warf Dr. Addison ein.
»Eben deshalb.«
»Sie unterhalten sich eifrig,« begann Dr. Haller wieder.
»Ich möchte wissen worüber.«
»Ueber das Wetter.«
»Weil man stets mit dem Zunächstliegenden beginnt.«
»Das thut Pienchen nicht, dazu ist sie viel zu gebildet.«
»Wollen wir wetten? Wir fragen nachher das Skelett.«
»Das wird Liebesgespräche verrathen.«
»Es hat so lange im Griechischen und Lateinischen gelegen, daß es mehr einem philologischen Präparat, als einem Menschen des ablaufenden neunzehnten Jahrhunderts ähnlich ist. Von dem Leben, in dem es lebt, weiß es nicht mehr Bescheid wie ein Kind; in Alt-Athen und Rom dagegen kennt es jede Straße. Würde es aber plötzlich nach Alt-Athen versetzt, fände es sich trotz aller Gelehrtheit nicht zurecht. Deshalb muß man sich seiner annehmen und ihn glücklich verheirathen.«
»Ich halte die ganze Geschichte für Ulk,« sagte Herr Runft. »Uebernehmen Sie die Verantwortung, wenn die Ehe später als Unglückspastete ausfällt? Bedenken Sie … die verquere Rasse.«
»Zu malen werden die Kinder nicht sein,« warf Himeyer dazwischen.
» Die Krankheiten und die Särgelchen!« rief Schnellbeinchen. »Sie kann sich mit dem Kindtaufskleid gleich das Trauerkostüm bauen lassen. Hoffentlich werden noch einmal Gesetze auf Grund der Darwinschen Vererbungstheorie erlassen, die nur ganz gesunden, normalen Menschen die Ehe gestatten. Die alten Griechen waren bereits so weit und brachten kranke und krüpplige Kinder um. Und wie herrlich war das Volk. Diese Schönheit! Diese Kultur!«
»Und doch auch sehr roh,« entgegnete Dr. Haller ruhig. »Ich mußte behufs meiner Dissertation die Gymnastik der Alten genauer ansehen. Dabei fand ich, daß auf unserer Schule kein zutreffendes Bild der Griechen entworfen wurde, sondern daß man sie auf Kosten der Wahrheit verherrlichte. Würden wir für die Spartaner in gleich idealer Weise geschwärmt haben, wenn wir die Mittheilung des Pausanias gekannt hätten, nach welcher die spartanischen Jünglinge beim Ringkampfe nicht nur mit den Händen kämpften, sondern auch mit den Füßen sich traten, bissen und die Augen mit den Fingern ausbohrten? Schlug doch Alexandros dem weisen Lykurg ein Auge aus, weil ihm dessen Gesetze mißfielen. Und dann lese man Theokrit's zweiundzwanzigste Idylle, in welcher der Faustkampf des Polideukes mit dem Bebryker Amykos besungen wird: englische Boxer sind spielende Lämmer gegen diese blutrünstigen Helden. Es gab sogar eine Statue des Polideukes, an der das zerquetschte Ohr aus jenem Kampfe nicht fehlte. Mehr fällt mir augenblicklich nicht bei; das Skelett wird ergänzen.«
»Also gerauft haben die Alten auch?« fragte Himeyer.
»Feste!«
»So. Und ich war der Meinung, sie hätten nichts weiter gethan, als den Bildhauern Modell gestanden, weil sie es gar so schön konnten.«
»Sie waren groß als Volk und zerfielen,« versetzte das Kind. »Aus ihrem Erlöschen ist mehr zu lernen, als aus ihrem Aufglänzen. Wie die Faustkämpfer sich zerfleischten, so untereinander die griechischen Stämme. In den Parteikämpfen erlag die Vaterlandsliebe und mit der Liebe das Land. Auch hierin wird das Skelett uns Belege an die Hand geben. Wir nehmen es heut Abend mit in den altdeutschen Keller, da muß es so wie so beichten.«
Kurz vor Rantum, dem achthäuserigen Friesendörflein, dessen strohgedeckte Giebel als malerisch Himeyers Beifall erregten, holten die Wagen zwei Wanderer ein, Dr. Sattler und den Indier.
Dr. Addison ließ halten. Man stieg ab, die Herren zu begrüßen; etwas Neugier war mit dabei.
Wider alles Erwarten war der Indier weder ein Fakir im Gehrocke, noch ein Europäer mit zur Schau getragener Fremdländerei, sondern ein einfacher Herr Steinbach, der als gereister Mann sich den Umständen fügte und den Vorschriften der Höflichkeit in jeder Beziehung nachkam. Keine Miene verrieth, daß ihm, der die Einsamkeit geräuschvoller Gesellschaft vorzog, die unerwartete Umzingelung lästig sei. Der prüfenden Betrachtung, die an ihm irgend etwas Sonderthümliches zu erspähen hoffte, begegnete er mit einem Blick aus seinen dunklen Augen, von dem Schnellbeinchen nachträglich versicherte, es habe eine so vornehme Gegenfrage darin gelegen, daß er sich wie ein ertappter Spion vorgekommen sei.
Herr Steinbach schloß sich den Ausflüglern an, ließ sich den Damen vorstellen und widmete diesen liebenswürdige Aufmerksamkeit. Der Gesprächsstoff ergab sich ungezwungen aus dem, was das Auge sah, aus der Eigenart der Insel. Herr Steinbach hatte sie durchwandert und kannte sie eingehend. So war er der Gebende und die Neulinge empfingen. »Auch Sie werden die Insel lieb gewinnen,« sagte er. – Pienchen blickte ihn ungläubig an. »Gewiß,« entgegnete er überzeugt. »Eine Geburtsstätte der Gesundheit ist das Eiland, und wie der Nordvogel aus den Sonnenländern wieder in die Heimath strebt, so sehnt sich der Gesundete hierher zurück und vergißt Sylt nie, als hätte es ihm ein zweites Leben gegeben.«
»Der Wandertrieb,« sagte Pienchen.
»Führt hinaus,« erwiderte Herr Steinbach. »Ein ebenso unerklärlicher Zwang aber führt zurück heimwärts. Draußen im Wattenmeer liegen die Halligen, Reste von den Wogen zernagter Inseln, von steter Gefahr bedroht, arm und einsam, oft nur von einer Familie bewohnt. Und dennoch tauscht der Halligbewohner sein Seegefängniß nicht mit der Freiheit des Festlandes, und ging er fort und fand er draußen Gewinn und Ueberfluß: dennoch sucht er die Hallig wieder auf, wenn das Meer sie inzwischen nicht verschlang.«
»Die Menschen haben eben verschiedene Laufbähne,« nahm Mama Lahmann das Wort, da Pienchen schwieg. »Alle können sie nicht in Berlin leben, dazu gehören Mittel.«
Sie sah Herrn Steinbach an, als wollte sie fragen: »Was glaubst Du, wie viel Miethe und Steuern ich zahle? Nur keine Unterschätzung.«
Bei dem Rantumer Kartoffelland trafen Alle zusammen. Ein Fleckchen Feld am Fuße der Düne, auch schon mit weißem Sande überpudert, aus dem Kartoffelstauden sich in die Höhe quälten, das war die letzte Ecke Fruchtlandes der einst ansehnlichen Gemeinde Rantum. Der Flugsand ward zum wandelnden Berge und begrub die Aecker; dem Sande mußte die Kirche weichen, die Schule und manches Haus.
»Sie müssen fort,« sagte Lotz. »So viel fegen kann kein Mensch, wie sich Sand heranschleicht. Anfangs nur ein klein Bischen, kaum zu merken; an der Westseite setzt er sich an, denn da kommt er her. Allmälig wird er höher; wird er weggeschaufelt, kommt neuer, denn die Düne rückt ganz sachte, sachte dichter heran und streut immer ebenzu Sand in den Wind. Nach ein paar Jahren ist er so hoch wie das Fensterbrett und sieht durch die Scheiben ins Haus hinein.«
»Deshalb braucht man doch nicht gleich ausziehen,« sagte die alte Lahmann.
»Fällt auch Keinem ein,« entgegnete Herr Lotz. »Aber sehn, Sie Madame, oben auf den Sand setzt sich der Schnee und das Haus ist warm. Der Schnee, der thaut auf und giebt Drängwasser. Nach außen kann es nicht weg, da ist Alles hartgefroren, also läuft es nach innen und kommt unterm Fußboden in der warmen Stube hervor. Sie haben Winters in dem Schulhause Stroh gelegt, daß die Kinder trocken an den Füßen sitzen sollten, aber das ward eine Mulsche und eine Jauche und da brachen sie das Haus ab und bauten es weiter bis lang wieder auf. Hätten sie es stehn lassen, dann kommt die Düne zuletzt und begräbt es und dann ist es gänzlich in'n … in'n Sand.«
»Daß sich noch Leute finden, hier zu wohnen!« rief Mutter Lahmann. »Täglich den gräßlichen Sandberg vor Augen. Man ist ja keinen Augenblick sicher, ohne daran zu denken, daß man schließlich fort muß … Das hielte ich nicht aus.«
»Darüber machen sich die Rantumer keine Sorge. Das sind sie so gewöhnt,« sagte Herr Lotz.
»Sollten wir nicht alle in der gleichen Lage sein?« trat Herr Steinbach freundlich für die Rantumer ein.
Pienchen sah ihn fragend an, erstaunt und zweifelnd. Die Herren hofften auf einen längst erwarteten schrulligen Ausspruch. Dr. Sattler nickte ihm beifällig zu. Hille pflückte Strandastern. Mutter Lahmann aber sagte:
»Dazu gehört doch Sand!«
»Ein Blick auf die Uhr genügt. Ist nicht jede Sekunde ein Körnlein Flugsand, ein Muß, dem wir alle weichen.«
»Man kann doch eine Sekunde nicht gut mit einem festen Stück Quarz vergleichen,« bemerkte anbohrend das Kind.
»Verzeihen Sie, daß es meinem Beispiele an Folgerichtigkeit gebricht. Es ist auch überflüssig, erweckt doch jeder anbrechende Tag das Gefühl der Vergänglichkeit.«
»Neues Leben, wollten Sie sagen,« entgegnete Schnellbeinchen.
»Sie, die da glüht, ist der Tod!« erwiderte Herr Steinbach mit schwärmerischem Ernste. »Was unter ihr wohnt, muß sterben. Ihre Strahlen sind die Zügel, womit sie alle Geschöpfe in das Leben spannt und irdisches Leben eilt zu irdischem Tode. – Doch entschuldigen Sie, ich vergaß, daß ich in Europa bin, wo die Sonne Lebensspenderin und Lebenserhalterin ist – ich weiß: ohne Licht und Wärme kein Leben – es war nur ein Satz altindischer Weisheit, auf den ich gerieth. Ich verspreche Ihnen, es soll nicht wieder geschehen.«
Höflich bot er der alten Lahmann den Arm und geleitete sie an den weidenden Schafen vorbei in das Gasthaus. Die Herren folgten.
»Die Leute haben doch recht,« sagte Schnellbeinchen, »er hat verschrobene Ansichten.« – »Hat Sand in der Uhr,« lachte Herr Lotz. – »Er wurde innerlich erregt,« sagte das Kind, »beherrschte sich aber wunderbar. Andernfalls hätte ich angenommen, er wolle uns zum Besten halten.« – »Das liegt ihm ferne,« bemerkte Dr. Sattler. »So viel ich vermuthe, ist es der Widerstreit zwischen der Weisheit des Ostens mit dem Wissen des Westens, der ihn bewegt. Was er soeben im Eifer unfreiwillig leistete, war eine Probe davon.«
»Diesmal hatte das Bohren wirklich einmal Nutzen,« sagte Schnellbeinchen. »Und was meinen Sie, Herr Brömmer?«
»Ich würde im Interesse des griechischen Unterrichts nicht über Helios hinausgehen.«
»Ist auch herrlich, Phoebos Apollon,« rief Schnellbeinchen, »himmlisch! Phaeton! Apoll von Belvedere! Kommen Sie, meine Herren, in Rantum giebt es vorzügliche Milch.«
Pienchen und Hille pflückten Strandastern, hochaufgeschossene, trüblavendelfarbene Blüthen, mit einem gelblichen Stern in der Mitte. Keine sprach ein Wort. –
Als man wieder nach Westerland aufbrach, wurden Dr. Sattler und der Indier mit verpackt. Es ging ohne Beschwer. Die drei Damen pferchten sich zusammen, und Dr. Sattler kam neben das Skelett. Der Indier fand Platz auf dem voranfahrenden Jagdwagen. Die Herren waren ungemein heiter, der Westwind wehte das lustige Lachen dem langsam folgenden Familienbeförderer zu, auf dem sich keine Unterhaltung gestaltete. Dr. Sattler fühlte sich nicht vom Skelett angezogen, und dieses bedurfte stets einiger Anstöße, bevor es von seinem Sprachvermögen Gebrauch machte. Da es jetzt nicht gestoßen ward, blieb es stumm.
Von den drei Damen hing jede ihren eigenen Gedanken nach. Die Alte dachte: Gottlob! – Hille dachte: ob wohl ein Brief angekommen ist? – Pienchen sah das Feuer von Kampen, wie es wuchs und abnahm. »Wird erfüllt, was ich wünsche?« fragte sie das Licht.
Das Licht dunkelte ein.
»Keine Hoffnung?« fragte sie schmerzlich.
»Keine?«
Das Licht lohte hell auf und strahlte sonnengleich durch die Dämmerung.