Jonathan Swift
Gullivers Reisen
Jonathan Swift

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Kapitel IV.

Schilderung des Landes. Ein Vorschlag zur Verbesserung moderner Landkarten. Der Palast des Königs und eine Übersicht über die Hauptstadt. Die Art, wie der Verfasser reiste. Schilderung des wichtigsten Tempels.

Ich gedenke dem Leser jetzt eine kurze Beschreibung dieses Landes zu geben, so weit ich es bereist habe; freilich bin ich nicht über einen Umkreis von zweitausend Meilen rings um Lorbrulgrud, die Hauptstadt, hinausgekommen. Denn die Königin, die ich stets begleitete, ging nie weiter mit, wenn sie den König auf seinen Fahrten Gesellschaft leistete, und wartete dann, bis Seine Majestät von der Besichtigung seiner Grenzen zurückkam. Das ganze Gebiet der Herrschaft dieses Fürsten erstreckt sich über eine Länge von etwa sechstausend Meilen und über eine Breite von drei- bis fünftausend. Ich kann daraus nur das eine schliessen, dass unsre europäischen Geographen sich in einem schweren Irrtum befinden, wenn sie zwischen Japan und Kalifornien nichts als Meer annehmen; es war auch von je meine Meinung, dass das grosse tartarische Festland ein Gegenstück an Land haben müsste, das ihm das Gleichgewicht hält; und also sollten sie ihre Landkarten verbessern, indem sie diesen ungeheuren Landstrich an die nordwestlichen Teile Amerikas anhängen, wobei ich ihnen gern meine Hilfe leihen werde.

Das Königreich ist eine Halbinsel, die nach Nordosten durch einen dreissig Meilen hohen Bergrücken abgeschlossen wird; dieses Gebirge ist vermöge der Vulkane auf seinen Höhen völlig unpassierbar. Auch wissen die Gelehrtesten nicht, was für Sterbliche jenseits dieser Berge wohnen und ob jene Gegenden überhaupt bewohnt sind. Auf den drei andern Seiten wird sie vom Meer begrenzt. Im ganzen Königreich gibt es nicht einen einzigen Hafen, und jene Teile der Küste, wo die Flüsse münden, sind so voll von spitzigen Felsen, dass man sich nicht mit dem kleinsten ihrer Boote hinauswagen kann und also ist dieses Volk von jedem Verkehr mit dem Rest der Welt völlig abgeschlossen. Aber die breiten Ströme liegen voller Fahrzeuge und sind reich an vortrefflichen Fischen; denn im Meer fischen sie selten, weil die Seefische von gleicher Grösse sind wie die in Europa und also einen Fang nicht lohnen; daraus erhellt, dass die Natur sich mit der Erzeugung so ausserordentlich grosser Pflanzen und Tiere völlig auf diesen Kontinent beschränkt; die Gründe dafür festzustellen, überlasse ich den Philosophen. Hin und wieder freilich fangen sie auch einen Walfisch, der gelegentlich auf den Felsen strandet, und daran isst das niedere Volk sich dann herzlich satt. Ich habe Walfische gesehn, die so gross waren, dass ein Mensch sie kaum auf der Schulter zu tragen vermochte; und bisweilen bringt man sie in grossen Körben nach Lorbrulgrud; einen sah ich einmal in einer Schüssel auf der Tafel des Königs; er galt als eine Seltenheit, aber ich konnte nicht finden, dass er ihm schmeckte; ich glaube wirklich, dass ihn die Grösse abstiess, obwohl ich in Grönland einen gesehn habe, der noch grösser war.

Das Land ist dicht bevölkert, denn es enthält einundfünfzig Städte, nahe an hundert ummauerte feste Plätze und eine grosse Anzahl von Dörfern. Um meinen neugierigen Leser zufriedenzustellen, wird es genügen, wenn ich ihm Lorbrulgrud schildere. Diese Stadt steht zu zwei fast gleichen Teilen auf den beiden Ufern des Flusses, der sie durchströmt. Sie enthält über achtzigtausend Häuser und etwa sechshunderttausend Einwohner. Der Länge nach misst sie drei Glonglungs (die gleich etwa vierundfünfzig englischen Meilen sind) und der Breite nach zweieinehalbe, wie ich es selbst auf der Karte nachgemessen habe, die auf des Königs Befehl angefertigt worden war und eigens für mich auf dem Boden ausgebreitet wurde; sie mass hundert Fuss. Ich schritt Durchmesser und Umfang mehrmals barfuss ab, berechnete beides nach diesen Massstab und erhielt so ein ziemlich genaues Mass.

Des Königs Palast ist kein regelmässiges Gebäude, sondern ein Gewirr von Bauten, das etwa sieben Meilen Umfang hat; die Hauptzimmer sind in der Regel zweihundertundvierzig Fuss hoch, und dementsprechend lang und breit. Glumdalklitsch und mir wurde eine Kutsche angewiesen, in der ihre Gouvernante sie oft ausfuhr, um ihr die Stadt zu zeigen oder in die Läden zu gehn; ich war immer von der Partie und wurde in meiner Schachtel getragen; oft freilich nahm das Mädchen mich auf meinen Wunsch auch heraus und hielt mich in der Hand, damit ich die Häuser und die Leute, während wir durch die Strassen fuhren, bequemer betrachten konnte. Unsre Kutsche schätzte ich auf etwa ein Viereck von Westminster Hall, wenn auch nicht ganz so hoch; doch kann ich unmöglich genau sein. Eines Tags befahl die Gouvernante unserm Kutscher, an mehreren Läden halt zu machen, und als da die Bettler ihre Gelegenheit ersahn und sich an die Seiten der Kutsche herandrängten, sah ich die grauenhaftesten Schauspiele, die je ein europäisches Auge erblickt hat. Eine Frau trat herbei, die ein Krebsgeschwür auf der Brust hatte; das war riesenhaft angeschwollen und voller Löcher; in zwei oder drei von denen hätte ich leicht hineinkriechen und mich in ganzer Länge darin verstecken können. Ferner ein Bursche mit einem Überbein am Hals, das grösser war als fünf Wollballen; und ein zweiter mit einem paar hölzerner Beine, deren jedes ungefähr zwanzig Fuss hoch war. Aber der scheusslichste Anblick von allem war doch der der Läuse, die auf ihren Kleidern krochen. Ich konnte die Glieder dieses Ungeziefers mit blossem Auge deutlich erkennen, viel deutlicher als die einer europäischen Laus durch ein Mikroskop, und ebenso ihre Rüssel, mit denen sie wie die Schweine wühlten. Es waren die ersten, die ich je gesehn hatte, und ich wäre wissbegierig genug gewesen, eine von ihnen zu sezieren, hätte ich nur die nötigen Instrumente gehabt (die unglücklicherweise auf dem Schiff zurückgeblieben waren); freilich war der Anblick so absolut ekelhaft, dass sich mir der Magen im Leibe herumdrehte.

Ausser der grossen Schachtel, in der ich gewöhnlich herumgetragen wurde, liess mir die Königin noch eine kleinere machen, die etwa zwölf Fuss im Geviert und zehn Fuss Höhe hatte; diese war für Reisen bestimmt, da die andre ein wenig zu gross war für Glumdalklitsch's Schoss und in der Kutsche zu viel Raum fortnahm; sie wurde von dem gleichen Handwerker hergestellt, dem ich bei der ganzen Arbeit meine Anweisungen gab. Dieses Reisegemach war ein genaues Quadrat, und in der Mitte dreier der Wände hatte es je ein Fenster, das von aussen mit Eisendraht vergittert war, um auf langen Reisen Unfälle zu vermeiden. Auf der vierten Seite, die kein Fenster hatte, waren zwei starke Klammern angebracht, durch die derjenige, der mich trug, wenn er reiten wollte, einen ledernen Gürtel zog, um ihn über den Hüften umzuschnallen. Es war das immer irgend ein ernster, zuverlässiger Diener, auf den ich mich verlassen konnte, einerlei, ob ich nun den König und die Königin auf ihren Reisen begleitete oder die Gärten sehn oder einer grossen Dame oder einem Staatsminister am Hofe einen Besuch machen wollte, wenn Glumdalklitsch mich gerade nicht begleiten konnte. Denn bald wurde ich unter den grössten Würdenträgern bekannt und gewann mir ihre Achtung, mehr freilich, so vermute ich, weil ich bei Ihren Majestäten in solcher Gunst stand als weil ich grosse eigne Verdienste besessen hätte. Auf Reisen pflegte, wenn ich der Kutsche müde war, ein reitender Diener meine Schachtel umzuschnallen und auf ein Kissen zu setzen, das er vor sich hatte. Von dort aus hatte ich dann durch meine drei Fenster nach drei Seiten hin den freisten Ausblick über das Land. In dieser Kammer hatte ich ein Feldbett und eine Hängematte, die an der Decke hing; ferner zwei Stühle und einen Tisch, die sauber am Boden festgeschraubt waren, damit sie nicht durch die Erschütterung des Pferdes oder der Kutsche umhergeschleudert wurden. Und da ich seit langem an Seereisen gewöhnt war, so machten mir die Bewegungen, obwohl sie bisweilen sehr gewaltsam waren, nicht viel zu schaffen.

So oft ich Lust hatte, mir die Stadt anzusehn, geschah es stets in meiner Reisekammer, die Glumdalklitsch in einer Art offner Sänfte auf dem Schoss hielt; diese Sänfte wurde nach der Sitte des Landes von vier Leuten getragen und von zwei weiteren in der Livree der Königin begleitet. Das Volk, das oft von mir gehört hatte, drängte sich neugierig um die Sänfte zusammen, und das Mädchen war gefällig genug, um die Träger halten zu lassen und mich in die Hand zu nehmen, damit man mich bequemer sehn könnte.

Ich hatte den grossen Wunsch, mir den wichtigsten Tempel anzusehn, besonders aber den Turm, der dazu gehörte, und der als der höchste im Reiche galt. Eines Tages also brachte meine Amme mich dorthin, aber ich kann der Wahrheit gemäss sagen, dass ich enttäuscht zurückkehrte; seine Höhe nämlich beträgt nicht mehr als dreitausend Fuss, gerechnet vom Boden bis zur höchsten Zinnenspitze; in anbetracht des Grössenunterschiedes zwischen diesen Leuten und uns Europäern ist das keiner besonderen Verwunderung wert, und verhältnismässig kommt dieser Turm (wenn ich mich recht erinnere) keineswegs dem von Salisbury gleich. Um aber nicht gegen ein Land, dem ich mich während meines ganzen Lebens sehr verpflichtet fühlen werde, ungerecht zu sein, so muss ich zugeben, dass dieser berühmte Turm, was ihm an Höhe abgeht, reichlich durch seine Schönheit und seine Kraft wieder ausgleicht. Denn die Mauern sind nahe an hundert Fuss dick und aus gehauenem Stein erbaut; jeder Stein ist etwa vierzig Fuss im Kubik, und der Turm auf allen Seiten mit den Statuen von Göttern und Kaisern geschmückt, die überlebensgross in Marmor gehaun in ihren verschiedenen Nischen stehn. Ich habe einen kleinen Finger, der einer dieser Statuen entfallen war und unbemerkt in allerlei Kehricht lag, gemessen und gefunden, dass er genau vier Fuss und einen Zoll lang war. Glumdalklitsch wickelte ihn in ihr Taschentuch und nahm ihn in der Tasche mit nach Hause, um ihn unter andern Kleinigkeiten, die das Mädchen liebte, wie es Kinder ihres Alters tun, aufzubewahren.

Die Küche des Königs ist ein herrlicher Bau von etwa sechshundert Fuss Höhe, und die Decke ist gewölbt. Der grosse Ofen ist um zehn Schritt kleiner, als die Kuppel der Paulskirche, die ich nach meiner Heimkehr eigens gemessen habe. Aber wenn ich das Küchentor, die ungeheuren Töpfe und Kessel, die Fleischkeulen, die sich auf den Spiessen drehten, und andre Einzelheiten schildern wollte, so würde man mir vielleicht kaum glauben; wenigstens könnte ein strenger Kritiker meinen, ich übertriebe ein wenig, wie man es oft von Reisenden annimmt. Ich fürchte aber eher, dass ich, um diesen Tadel zu vermeiden, ein wenig dem andern Extrem verfallen bin; und würde dieser Traktat in die Sprache von Brobdingnag übersetzt (denn das ist der allgemeine Name jenes Königreichs) und dorthin geschickt, so hätten vielleicht der König und sein Volk vollen Grund, sich zu beklagen, dass ich ihnen durch eine falsche, verkleinernde Darstellung einen Schimpf angetan habe.

Seine Majestät hält selten mehr als sechshundert Pferde in seinem Marstall: sie sind in der Regel vierundfünfzig bis sechzig Fuss hoch. Doch wenn er an grossen Festtagen ausreitet, wird er des Prunks halber von einer Milizgarde von fünfhundert Reitern begleitet, die mir stets als der glänzendste Anblick erschien, den man je sehn konnte; doch davon werde ich noch bei einer andern Gelegenheit reden.


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