Jonathan Swift
Gullivers Reisen
Jonathan Swift

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Tafel IV

Kapitel II.

Die Wunderlichkeiten und Anlagen der Laputianer. Bericht über ihre Gelehrsamkeit. Von dem König und seinem Hof. Wie der Verfasser dort aufgenommen wurde. Die Einwohner Opfer der Furcht und Sorge. Bericht über die Frauen.

Als ich landete, umringte mich eine grosse Volksmenge; die aber, die mir am nächsten standen, schienen Höhergestellte zu sein. Sie sahen mich unter allen Zeichen und wunderlichen Regungen des Staunens an; und ich blieb ihnen darin nichts schuldig, denn noch niemals hatte ich ein Menschengeschlecht gesehn, das in Gestalt, Kleidung und Gesichtszügen so merkwürdig war. Ihre Köpfe waren alle nach rechts oder nach links geneigt; eins ihrer Augen war nach innen gewandt, das andre senkrecht zum Zenith erhoben. Ihre Gewänder waren mit den Figuren von Sonnen, Monden und Sternen geschmückt, die verschlungen waren mit denen von Geigen, Flöten, Harfen, Trompeten, Gitarren, Klavieren und vielen andern Musikinstrumenten, wie sie in Europa unbekannt sind. Hier und dort sah ich viele in der Kleidung von Dienern; die trugen in der Hand einen kurzen Stock, an dessen Ende eine aufgeblasne Blase einem Flegel gleich befestigt war. In jeder dieser Blasen befanden sich ein paar getrocknete Erbsen oder kleine Steinchen (wie man mir später sagte). Mit diesen Blasen schlugen sie jene, die in ihrer Nähe standen, von Zeit zu Zeit auf Mund und Ohren: ein Brauch, für den ich keinerlei Sinn entdecken konnte. Es scheint, der Geist dieser Leute ist so sehr von intensiven Spekulationen in Anspruch genommen, dass sie weder zu reden noch den Reden andrer zu lauschen vermögen, ohne dass sie beständig durch Schläge auf die Organe der Sprache und des Gehörs geweckt werden; aus diesem Grunde halten sich die Leute, die es sich leisten können, stets einen »Klapser« (im Original heisst es »Klimenole«), der zu den Bedienten ihres Hauses gehört; und nie gehn sie ohne ihn aus oder zu Besuchen. Die Obliegenheit dieses Dieners besteht darin, dass er, wenn zwei oder mehr Personen zusammen sind, dem, der reden soll, mit seiner Blase leicht auf den Mund schlägt, dem, oder denen aber, an die der Redende sich wendet, auf das rechte Ohr. Es gehört ferner zu den Pflichten dieses Schlägers, seinen Herrn auf seinen Spaziergängen sorgfältig zu überwachen und ihm gelegentlich einen sanften Schlag auf die Augen zu versetzen; denn der ist stets so in Gedanken versunken, dass er offensichtlich in Gefahr schwebt, jeden Abgrund hinunter zu stürzen und mit dem Kopf wider jeden Pfosten zu rennen oder auf der Strasse andre in die Gosse zu werfen, wenn er nicht selbst hinein geworfen wirdGemeint sind natürlich die Mathematiker. Newton nicht zum mindesten..

Es war nötig, dem Leser diese Auskunft zu geben, ohne die er ebenso sehr in Verlegenheit gewesen wäre wie ich, und das Verhalten der Leute, die mich die Treppen hinauf zum Gipfel der Insel und von dort in den königlichen Palast führten, nicht verstanden hätte. Während wir hinaufstiegen, vergassen sie mehrmals, womit sie beschäftigt waren; sie überliessen mich mir selber, bis ihr Gedächtnis durch ihre Schläger geweckt wurde; der Anblick meines fremdländischen Anzugs und meiner Züge schien sie in keiner Weise zu rühren, und ebenso wenig die Rufe des Volks, dessen Gedanken und Geist freier waren.

Schliesslich kamen wir in den Palast und gingen in die Audienzhalle, wo ich den König auf seinem Throne sitzen sah, auf allen Seiten umringt von Leuten des höchsten Standes. Vor dem Thron stand ein grosser Tisch, der beladen war mit Erdkugeln und Himmelssphären und allerlei mathematischen Instrumenten. Seine Majestät beachtete uns nicht im geringsten, und das, obwohl unser Auftreten von genügendem Lärm begleitet war, da alle Leute, die zum Hof gehörten, zusammeneilten. Er war gerade in ein tiefes Problem versunken, und wir warteten wenigstens eine Stunde, bis er es gelöst hatte. Neben ihm stand zu beiden Seiten je ein Page mit Schlägeln in der Hand; und als sie sahen, dass er fertig war, schlug ihn der eine sanft auf den Mund, der andre aber aufs rechte Ohr. Er fuhr empor wie jemand, der plötzlich erwacht, und als er mich und meine Begleiter erblickte, entsann er sich des Anlasses, aus dem wir kamen; denn er war schon zuvor davon unterrichtet worden. Er sprach ein paar Worte, und alsbald trat mir ein junger Mann mit einem Blasenstock an die Seite und schlug mich sanft auf das rechte Ohr; ich aber winkte ihm, so gut ich konnte, dass ich ein solches Instrument nicht nötig hätte, was, wie ich später herausfand, Seiner Majestät und dem ganzen Hof eine sehr geringe Meinung von mir einflösste. Der König stellte mir, so weit ich es erraten konnte, mehrere Fragen, und ich sprach ihn in allen Sprachen an, die ich kannte. Als sich herausstellte, dass ich weder verstand noch mich verständlich machen konnte, wurde ich auf seinen Befehl in ein Gemach seines Palastes geführt (denn dieser Fürst zeichnete sich vor all seinen Vorgängern durch seine Gastfreundschaft gegen Fremde aus), wo man mir zwei Diener für meine Bedürfnisse zuwies. Mir wurde das Mittagsmahl gebracht, und vier Leute von Stande, die ich mich in unmittelbarer Nähe des Königs gesehn zu haben erinnerte, taten mir die Ehre an, mit mir zu speisen. Wir erhielten zwei Gänge, deren jeder aus drei Gerichten bestand. Der erste Gang bestand aus einer Hammelschulter, die zu einem gleichseitigen Dreieck zurecht geschnitten war, einem Stück Rindfleisch in Form eines Rhomboids und einem Pudding in Form eines Cykloids. Der zweite Gang bestand aus zwei Enten, die in Form von Geigen hergerichtet waren, Würstchen und Klössen, die Flöten und Hoboen glichen und einer Kalbsbrust in Gestalt einer Harfe. Die Diener schnitten uns unser Brot zu Kegeln, Zylindern und Parallelogrammen und mehreren andern mathematischen Figuren zurechtDie Bezeichnungen sind natürlich sehr ungenau und sind heftig moniert worden, um zu zeigen, dass Swift etwas satirisierte, was er nicht verstand. De Morgan sagt: »Wenn er Mathematiker verhöhnen wollte, hätte er die streng richtigen Bezeichnungen wählen müssen, um zu hindern, dass sie ihm nachwiesen, wie wenig er auf festem Boden stand.« Aber es sind, wie Dennis sagt, die populären Bezeichnungen für dreidimensionale Dinge, wenngleich De Morgan mit seinem Einwand natürlich recht hat..

Während wir bei Tische sassen, erkühnte ich mich, nach dem Namen mehrerer Dinge in ihrer Sprache zu fragen; und diese vornehmen Personen machten sich, durch ihre Schläger geweckt, ein Vergnügen daraus, mir Antwort zu geben, denn sie hofften, meine Bewunderung ihrer grossen Fähigkeiten zu steigern, wenn ich mit ihnen zu reden lernte. Ich war bald imstande, um Brot und Getränke und alles, was ich brauchte, zu bitten.

Nach Tisch zogen sich meine Gäste zurück, und auf des Königs Befehl wurde mir jemand geschickt, der von einem Schläger begleitet war. Er hatte Feder, Tinte und Papier bei sich, und ferner drei oder vier Bücher, und er gab mir durch Zeichen zu verstehn, dass er geschickt worden war, um mich die Sprache zu lehren. Wir blieben vier Stunden lang beisammen sitzen, und in dieser Zeit schrieb ich mir in Spalten eine grosse Anzahl von Worten auf, und ihnen gegenüber die Bedeutung. Es gelang mir auch, mehrere kurze Sätze zu lernen. Denn mein Lehrer befahl jeweils einem meiner Diener, mir etwas zu holen, sich umzudrehn, eine Verbeugung zu machen, sich zu setzen oder aufzustehn oder umherzugehn und dergleichen mehr. Dann schrieb ich mir den Satz auf. Er zeigte mir auch in einem seiner Bücher die Figuren der Sonne, des Mondes und der Sterne, den Zodiakus, die Wendekreise und Polarkreise, sowie die Bezeichnungen vieler Flächen und Körper. Er gab mir die Namen und Beschreibungen aller Musikinstrumente und die allgemeinen Kunstausdrücke des Spiels auf ihnen an. Als er mich verlassen hatte, brachte ich all meine Worte nebst ihren Bedeutungen in alphabetische Ordnung. Und so gewann ich in wenigen Tagen mit Hilfe eines sehr treuen Gedächtnisses einigen Einblick in ihre Sprache.

Das Wort, das ich die »fliegende« oder »schwimmende Insel« übersetze, heisst im Original Laputa; die genaue Etymologie dieses Namens konnte ich nie in Erfahrung bringen. Lap heisst in der alten, vergessnen Sprache »hoch« und Untuh heisst »Statthalter«; und so sagen sie, Laputa sei durch Korruption aus Lapuntuh entstanden. Ich aber glaube nicht recht an diese Ableitung, da sie mir etwas gewaltsam erscheint. Ich vermass mich, den Gelehrten unter ihnen eine eigne Vermutung zu unterbreiten, nach der Laputa etwa Lap Uted wäre; denn Lap bedeutet eigentlich das Tanzen der Sonnenstrahlen im Meere, und Uted einen Flügel; ich will jedoch kein Gewicht darauf legen, sondern es dem verständigen Leser überlassenGemünzt auf Bentley und andre Philologen..

Da es jenen, denen der König mich anvertraut hatte, auffiel, dass ich schlecht gekleidet ging, bestellten sie auf den nächsten Morgen einen Schneider, damit er mir zu einem Anzug Mass nähme. Dieser Handwerker versah sein Amt auf eine Weise, die sich von der seines Gewerbes in Europa sehr unterschied. Er nahm zunächst mit einem Quadranten meine Höhe auf; dann beschrieb er mit einem Richtstab und mit Zirkeln die Dimensionen und Umrisse meines ganzen Körpers, notierte alles auf einem Blatt Papier und brachte mir nach sechs Tagen meine Kleider; sie waren sehr schlecht gemacht und sassen nicht im geringsten; denn er hatte in der Berechnung eine Ziffer versehentlich falsch geschrieben. Ich tröstete mich damit, dass ich sah, wie häufig solche Missgeschicke waren und wie wenig sie beachtet wurden.

Während ich wegen meines Mangels an Kleidern und infolge einer Unpässlichkeit, die mich noch ein paar Tage länger festhielt, das Zimmer hüten musste, vergrösserte ich meinen Wortschatz sehr; und als ich das nächste Mal zu Hofe ging, war ich imstande, viele Dinge zu verstehn, die der König sagte, und ihm auch einiges zu erwidern, was einer Antwort glich. Seine Majestät hatte Befehl erteilt, dass die Insel nach Nordosten und Osten gleiten sollte, bis zu einem Punkt, senkrecht über Lagado, der Metropole des ganzen Königreichs unten auf dem Festland. Sie lag etwa neunzig Seemeilen entfernt, und unsre Reise dorthin dauerte viereinhalb Tage. Ich merkte die Fortbewegung der Insel durch die Luft nicht im geringsten. Am zweiten Tage spielte der König in Person, umringt von seinem ganzen Adel, seinem Hofstaat und seinen Beamten, die alle ihre Instrumente gerüstet hatten, ununterbrochen drei oder vier Stunden lang, so dass ich von dem Lärm ganz betäubt war; auch konnte ich nicht begreifen, was all das bedeutete, bis mein Lehrer es mir sagte. Er sagte mir, die Ohren der Einwohner ihrer Insel seien so eingerichtet, dass sie die Musik der Sphären hörten, die stets zu gewissen Zeiten spielten, und der Hof sei jetzt gerüstet, dass ein jeder auf dem Instrument mitwirkte, in dem er sich am meisten auszeichnete.

Während unsrer Reise nach Lagado, der Hauptstadt, befahl Seine Majestät, dass die Insel über gewissen Städten und Dörfern halt machen sollte, damit er die Bittschriften seiner Untertanen in Empfang nehmen könnte. Zu diesem Zweck wurden mehrere Bindfäden, die mit kleinen Gewichten beschwert waren, hinabgelassen. An diese Bindfäden banden die Leute ihre Bittschriften, die sofort hinaufstiegen, den Zetteln gleich, wie die Schulknaben sie auf die Schnur ziehn, an der ihr Drache hängt. Bisweilen erhielten wir von unten Wein und Lebensmittel, die mit Flaschenzügen heraufgewunden wurden.

Meine Kenntnisse in der Mathematik halfen mir sehr, ihre Phraseologie zu erlernen, die innig mit dieser Wissenschaft und der Musik zusammenhing; und auch in der letzteren war ich nicht unbewandert. Ihre Gedanken laufen beständig in Linien und Figuren. Wenn sie zum Beispiel die Schönheit eines Weibes oder irgend eines andern Tieres preisen wollten, beschrieben sie sie in Rhomben, Kreisen, Parallelogrammen, Ellipsen und andern geometrischen Figuren, oder in Worten, die der Musik entlehnt waren und die hier zu wiederholen zwecklos ist. In der Küche des Königs bemerkte ich allerlei mathematische und musikalische Instrumente, nach deren Umriss die Gerichte geformt wurden, die auf der Tafel Seiner Majestät serviert werden sollten.

Ihre Häuser sind sehr schlecht gebaut, die Mauern stehn schief, und in keinem Zimmer sieht man einen rechten Winkel; dieser Mangel entspringt der Verachtung, die sie für die praktische Geometrie hegen; denn die verachten sie als gemein und mechanisch, und die Anleitungen, die sie geben, sind für den Geist ihrer Werkleute zu fein, so dass beständige Irrtümer die Folge sind. Und obwohl sie in der Handhabung des Lineals, des Bleistifts und des Teilzählers auf einem Blatt Papier sehr geschickt sind, so habe ich doch nie ein Volk gesehn, das in den gewöhnlichsten Handlungen und in der Führung des Lebens so plump, linkisch und ungewandt wäre noch auch so schwerfällig und ratlos in ihren Begriffen von allem, was nicht mit der Mathematik und der Musik zusammenhängt. Sie sind sehr schlechte Denker und neigen heftig zur Opposition, es sei denn, dass sie der richtigen Meinung sind, was jedoch sehr selten der Fall ist. Einbildungskraft, Phantasie und Erfindungsgabe sind ihnen völlig fremd, und sie haben in ihrer Sprache nicht einmal Worte, durch die sie diese Begriffe ausdrücken können, da sich der ganze Umkreis ihrer Gedanken und ihres Geistes auf die beiden vorerwähnten Wissenschaften beschränkt.

Die meisten von ihnen, und vor allem jene, die sich mit der Astronomie befassen, glauben an die Astrologie, die das Schicksal der Menschen weissagt, obwohl sie sich schämen, es öffentlich einzugestehn. Was ich aber vor allem bewunderte und was mir ganz unerklärlich schien, das war ihr starker Hang zu Neuigkeitskrämerei und Politik; sie kümmerten sich um die öffentlichen Geschäfte, gaben in Staatsangelegenheiten ihr Urteil ab und stritten um jeden Zoll eines Parteistandpunktes. Ich habe die gleiche Neigung auch unter den meisten Mathematikern beobachtet, die ich in Europa kennen lernte, obgleich ich zwischen den beiden Wissenschaften nie die geringste Analogie entdecken konnte, es sei denn, dass diese Leute annehmen, da der kleinste Kreis ebenso viele Grade hat wie der grösste, so erfordere die Regierung und Leitung der Welt nicht mehr Fähigkeiten, als die Handhabung und Einstellung eines Globus. Ich denke mir aber, dass diese Eigentümlichkeit einer sehr verbreiteten Schwäche der Menschennatur entspringt, vermöge derer wir in Dingen, die uns am wenigsten angehn und für die wir weder durch Studium noch durch Naturanlage vorbereitet sind, die grösste Neugier und die grösste Anmassung entfalten.

Das Volk schwebt in beständigen Sorgen und erfreut sich keine Minute lang geistigen Friedens; und diese Störungen entspringen Ursachen, die dem Rest der Sterblichen sehr wenig Unruhe bereiten. Ihre Befürchtungen entstammen allerlei Veränderungen unter den Himmelkörpern, die sie beängstigen. Zum Beispiel dass die Erde, da die Sonne sich ihr fortwährend nähert, im Laufe der Zeit von ihr erreicht oder verschlungen werden muss. Dass die Oberfläche der Sonne sich allmählich mit den eignen Ausdünstungen umgeben und dann der Welt kein Licht mehr spenden werde. Dass die Erde bei dem letzten Kometen einer Berührung mit dem Schweif nur eben entgangen war und sonst unfehlbar zu Asche verbrannt worden wäre; und dass der nächste Komet, dessen Ankunft sie in einunddreissig Jahren erwarteten, uns wahrscheinlich vernichten wird. Denn wenn er (wie sie nach ihren Berechnungen zu befürchten Grund haben) bei seiner Sonnennähe der Sonne bis zu einem gewissen Grade nahe kommt, so wird er in einen Hitzegrad geraten, der zehntausendmal intensiver ist, als der rotglühenden Eisens; und während seiner Sonnenferne wird er einen glühenden Schweif hinter sich herziehn, der eine Million und vierzehn Meilen lang ist; wenn dann die Erde bei ihrem Durchgang auch hunderttausend Meilen vom Kern oder von der Hauptmasse des Kometen entfernt ist, so muss sie bei ihrem Durchgang doch in Flammen aufgehn und zu Asche verbrennen. Dass die Sonne, die ihre Strahlen täglich verschwendet, ohne neue Nahrung für sie zu erhalten, schliesslich ganz verbraucht und vernichtet werden muss; dann aber muss die Vernichtung der Erde und aller Planeten, die ihr Licht von ihr erhalten, folgen.

In der Besorgnis vor diesen und ähnlichen drohenden Gefahren leben sie in so beständiger Angst, dass sie weder in ihren Betten ruhig schlafen können noch auch irgend welchen Geschmack an den gewöhnlichen Genüssen und Freuden des Lebens finden. Wenn sie morgens einem Bekannten begegnen, gilt die erste Frage dem Befinden der Sonne: wie sie ausgesehn habe, beim Untergang und beim Aufgang, und welche Hoffnung sie hegen dürften, dem Stoss des nahenden Kometen zu entgehn. Diese Unterhaltung spinnen sie oft in derselben Stimmung an, die Knaben verraten, wenn sie entzückt auf Geschichten von Geistern und Kobolden lauschen, auf die sie so gierig sind, und nachher nicht zu Bett zu gehn wagen.

Die Frauen der Insel sind von übergrosser Lebhaftigkeit: sie verachten ihre Gatten und lieben die Fremden ausserordentlich; es ist ihrer auch stets eine beträchtliche Anzahl oben, die vom untern Festland kommen und entweder in Geschäften der verschiedenen Städte und Gemeinden oder in eignen Angelegenheiten zu Hofe gehn, wo man sie freilich sehr gering schätzt, weil ihnen die gleichen Begabungen fehlen. Unter ihnen suchen die Damen sich ihre Liebhaber: das Ärgernis besteht nur darin, dass sie allzu offen und unbesorgt vorgehn, denn der Gatte ist stets so in Spekulationen befangen, dass Liebhaber und Geliebte sich vor seinen Augen den grössten Vertraulichkeiten überlassen können, wenn er nur mit Papier und Geräten versehn ist und seinen Schläger nicht zur Seite hat.

Die Frauen und Töchter beklagen, dass sie auf die Insel beschränkt sind; mir freilich erscheint sie als der reizendste Fleck Landes der ganzen Welt; und obwohl sie in der grössten Fülle und Pracht leben und tun können, was sie wollen, so sehnen sie sich doch danach, die Welt zu sehn und die Vergnügungen der Hauptstadt zu geniessen; das aber dürfen sie nur mit einer eignen Erlaubnis des Königs, die nicht leicht zu erhalten ist, denn die vornehmen Leute haben durch häufige Erfahrung gelernt, wie schwer es ist, ihre Frauen zu überreden, dass sie von unten zurückkehren. Ich hörte, dass eine grosse Hofdame, die mehrere Kinder hat, mit dem ersten Minister, dem reichsten Untertanen des Reichs, und einer sehr anmutigen Erscheinung, der sie zudem von Herzen liebt, verheiratet ist und im schönsten Palast der Insel lebt, einmal unter dem Vorwand der Erholung nach Lagado hinunterging und sich dort mehrere Monate verbarg, bis der König Befehl hinunterschickte, nach ihr zu suchen; da fand man sie denn völlig zerlumpt in einem elenden Speisehaus; ihre Kleider hatte sie verpfändet, um einen alten verwachsenen Diener, der sie täglich schlug, zu unterhalten; man nahm sie ihm, sehr gegen ihren eignen Willen. Und obwohl ihr Gatte sie mit jeder nur erdenklichen Güte empfing, ohne ihr den geringsten Vorwurf zu machen, brachte sie es doch bald darauf wieder fertig, sich mit all ihren Juwelen von neuem zu demselben Liebhaber hinunterzustehlen; und seither hat man nichts wieder von ihr gehört.

Das mag dem Leser vielleicht eher als eine europäische oder englische Geschichte erscheinen und nicht als eine, die in einem so fernen Lande spielt. Aber er möge gefälligst bedenken, dass die Launen der Weiber durch kein Klima und keine Nation begrenzt und dass sie gleichförmiger sind, als man sich so leicht vorstellt.

In etwa einem Monat hatte ich ihre Sprache einigermassen erlernt; und wenn ich die Ehre hatte, dem König aufzuwarten, konnte ich die meisten seiner Fragen beantworten. Seine Majestät verriet nicht die geringste Wissbegierde inbetreff der Gesetze, der Regierung, der Geschichte, der Religion und der Sitten der Länder, in denen ich gewesen war; er beschränkte seine Fragen lediglich auf den Stand der Mathematik und nahm den Bericht, den ich ihm geben konnte, mit grosser Verachtung und Gleichgültigkeit entgegen, obwohl ihn seine beiderseitigen Schläger oft genug weckten.


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