Jonathan Swift
Gullivers Reisen
Jonathan Swift

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Kapitel IV.

Die Begriffe des Houyhnhnm von Wahrheit und Unwahrheit. Des Verfassers Rede erregt das Missfallen seines Herrn. Der Verfasser gibt genauern Bericht über sich selber und die Begebnisse seiner Reise.

Mein Herr hörte mir unter den grössten Zeichen der Unruhe in seinen Gesichtszügen zu; denn »Zweifeln« oder »Nicht-Glauben« sind in diesem Lande so unbekannt, dass die Eingeborenen nicht wissen, wie sie sich unter solchen Umständen verhalten sollen. Und ich entsinne mich, wie oft mein Herr in den häufigen Gesprächen, die er mit mir über die Natur der Menschheit in andern Teilen der Welt hatte und in denen ich von »Lüge« und »falscher Darstellung« sprechen musste, nur mit grösster Schwierigkeit begreifen konnte, was ich meinte, obwohl er sonst ein sehr scharfes Urteil hatte. Er schloss nämlich so: der Nutzen der Rede sei der, dass wir uns einander verständlich machen und Belehrung über Tatsachen vermitteln könnten; wenn nun jemand »sage, was nicht sei«, so werde dieses Ziel vereitelt, denn ich könne eigentlich nicht mehr behaupten, dass ich ihn verstehe, und ich sei soweit davon entfernt, Belehrung zu empfangen, dass er mich vielmehr in einen schlimmern Zustand versetze als den des Nichtwissens; ich werde ja geradezu verleitet, zu glauben, etwas sei schwarz, während es weiss, und kurz, während es lang ist. Und das sei die Vorstellung, die er von jener Fähigkeit des »Lügens« habe, die man unter menschlichen Geschöpfen so vollkommen verstehe und so allgemein übe.

Um nun von dieser Abschweifung wieder auf den Gegenstand zu kommen, so wünschte mein Herr, als ich behauptete, die Yahoos seien die einzigen herrschenden Tiere in meinem Lande, was, wie er sagte, seine Vorstellungskraft überstieg, zu erfahren, ob wir Houyhnhnms unter uns hätten und welches ihre Beschäftigung wäre. Ich sagte ihm, wir hätten grosse Mengen; im Sommer grasten sie auf den Feldern, und im Winter würden sie mit Heu und Hafer in Häusern unterhalten, wo Yahoodiener angestellt seien, um ihnen das Fell glatt zu striegeln, die Mähnen zu kämmen, die Hufe zu säubern, sie mit Futter zu versehn und ihnen die Lager zu machen. »Ich verstehe Dich recht wohl«, sagte mein Herr, »jetzt ist es klar: auf wieviel Vernunft die Yahoos auch Anspruch machen, so sind doch die Houyhnhnms Eure Herrn; ich wollte von Herzen, dass unsre Yahoos auch so zähmbar wären. Ich bat Seine Gnaden, er möge mich entschuldigen, wenn ich nicht weiter fortführe, denn ich sei überzeugt, der Bericht, den er von mir erwarte, werde ihm im höchsten Grade missfallen. Doch er beharrte auf seinem Befehl, ihm das Beste und das Schlimmste kund zu tun: ich sagte ihm also, ich wolle gehorchen. Ich gab zwar zu, dass die Houyhnhnms, die wir bei uns Pferde nennen, die edelsten und schönsten Tiere seien, die wir hätten; dass sie sich durch Kraft und Schnelligkeit auszeichneten, und dass sie, wenn sie vornehmen Herrn gehörten und verwendet würden, um mit ihrer Hilfe zu reisen, Rennen zu reiten oder sich in Kutschen ziehn zu lassen, auch sehr freundlich und sorgfältig behandelt würden, bis sie erkrankten oder in den Beinen verschlügen; dann aber würden sie verkauft und bis zu ihrem Tode für allerlei Sklavenarbeit benutzt; schliesslich würden ihnen dann noch ihre Felle abgezogen und um das verkauft, was sie wert seien, während man ihre Kadaver von Hunden und Raubvögeln verschlingen liesse. Das Geschlecht der gewöhnlichen Pferde aber sei nicht so glücklich; sie würden von Landpächtern und Fuhrleuten und anderm geringen Volk gehalten, das sie schwerere Arbeit verrichten liesse, und sie schlechter füttere. Ich schilderte ihm, so gut ich konnte, wie wir reiten und wie Zügel, Sattel, Sporn, Peitsche, Geschirr und Räder gestaltet sind und gebraucht werden. Ich fügte hinzu, dass wir unter ihren Füssen Platten aus einem gewissen harten Stoff namens Eisen anbringen, um zu hindern, dass die steinigen Wege, auf denen wir oft reisen, ihre Hufe zerbrechen.

Mein Herr fragte nach einigen Ausrufen grosser Entrüstung erstaunt, wie wir uns auf den Rücken eines Houyhnhnms wagen könnten, denn er sei überzeugt, dass der schwächste Diener seines Hauses imstande wäre, den stärksten Yahoo abzuschütteln, oder das Vieh zu erdrücken, indem er sich niederlegte und auf dem Rücken wälzte. Ich erwiderte, unsre Pferde würden von ihrem dritten oder vierten Jahr an für die verschiedenen Dienste, in denen wir sie verwenden wollten, abgerichtet; wenn sich das eine oder andre unter ihnen als unerträglich tückisch erwiese, so benutze man es zum Ziehen von Wagen; sie würden, solange sie jung seien, für jeden Streich, der Schaden anrichtete, streng geschlagen; die Männchen, die man zu Reit- oder Zugtieren bestimme, würden in der Regel etwa zwei Jahre nach ihrer Geburt kastriert, um ihre Wildheit zu brechen und sie zahmer und sanftmütiger zu machen; sie wären zwar empfänglich für Lohn und Strafe, aber Seine Gnaden möge gefälligst bedenken, dass sie nicht die geringste Spur von Vernunft besässen, genau so wenig wie die Yahoos in seinem Lande.

Ich musste die Mühe vieler Umschreibungen auf mich nehmen, um meinem Herrn eine richtige Vorstellung von dem zu geben, was ich sagte, denn ihre Sprache hat, da ihre Bedürfnisse und Leidenschaften weniger zahlreich sind als bei uns, auch keine grosse Mannigfaltigkeit in Worten. Doch ist es unmöglich, seine edle Entrüstung über unsre wilde Behandlung des Geschlechts der Houyhnhnms zu schildern; sie brach besonders da aus, als ich ihm erklärte, wie und weshalb wir die Pferde kastrierten, um sie an der Fortpflanzung ihrer Gattung zu hindern und sie knechtischer zu machen. Er sagte, wenn es möglich sei, dass es ein Land gäbe, wo die Yahoos allein mit Vernunft begabt seien, so müssten sie sicherlich das herrschende Tier sein, denn die Vernunft werde stets im Laufe der Zeit über rohe Kraft den Sieg davontragen. Doch in anbetracht unsres Körperbaus, und besonders meins, scheine ihm, dass kein Geschöpf von gleichem Wuchs so wenig geeignet sei, jene Vernunft in den gewöhnlichen Verrichtungen des Lebens zu benutzen; und jetzt wünschte er zu wissen, ob die, unter denen ich lebte, mir oder den Yahoos seines Landes glichen. Ich sagte ihm, ich sei so wohl gestaltet wie die meisten meines Alters; aber jüngere Leute und Frauen seien viel weicher und zarter, und die Haut der Frauen sei im allgemeinen so weiss wie Milch. Er erwiderte, ich unterscheide mich freilich darin sehr von andern Yahoos, dass ich viel sauberer und nicht ganz so missgestaltet sei, aber in Dingen wirklicher Vorzüge, scheine ihm, unterscheide ich mich zu meinem Nachteil. Meine Nägel seien mir weder an meinen Vorder- noch an meinen Hinterfüssen von Nutzen; meine Vorderfüsse könne er eigentlich nicht einmal so nennen, denn er sehe nie, dass ich auf ihnen ginge; sie seien zu weich, um die Berührung mit dem Boden zu vertragen; ich trage sie meist unbedeckt, und die Hülle, die ich mir zuweilen darüberziehe, sei weder so geformt noch so stark wie die auf meinen Hinterfüssen; ich könne nicht einmal sicher gehn, denn wenn nur einer meiner Hinterfüsse ausgleite, so müsse ich unfehlbar fallen; und so begann er, auch noch andre Teile meines Körpers zu tadeln: mein flaches Gesicht, meine vorspringende Nase und meine genau nach vorn stehenden Augen, mit denen ich nicht zur Seite blicken könne, ohne den Kopf zu drehn; ich könne mich nicht sättigen, ohne einen meiner Vorderfüsse an den Mund zu heben, und deshalb habe die Natur auch diese Glieder so gestellt, dass sie diesem Bedürfnis entsprechen könnten. Er wisse nicht, wozu die Spaltungen und Teilungen an den Hinterfüssen von Nutzen seien; sie seien auch zu weich, um ohne eine Hülle, die aus dem Fell eines andern Tiers gemacht werden müsse, die Härte und Schärfe der Steine zu ertragen, meinem ganzen Leibe fehle es an einem Schutz gegen Hitze und Kälte, und ich müsse einen solchen Schutz jeden Tag langwierig und mühsam anlegen und ausziehn. Und schliesslich beobachtete er, dass jedes Tier in seinem Lande die Yahoos von Natur verabscheue; denn die schwächern mieden sie und die stärkern vertrieben sie. Und angenommen also, wir besässen die Gabe der Vernunft, so könne er doch nicht einsehn, wie es möglich sein sollte, jene natürliche Antipathie, die jedes Tier uns gegenüber verrate, zu überwinden, und also auch nicht, wie wir sie zähmen und dienstbar machen könnten. Er wolle die Sache jedoch (so sagte er) nicht weiter erörtern, da es ihn mehr danach verlange, meine eigne Geschichte kennen zu lernen: in welchem Lande ich geboren sei und was ich getrieben und erlebt habe, ehe ich hierher kam.

Ich versicherte ihm, wie sehr ich wünschte, ihn in jedem Punkt zufriedenzustellen; doch ich zweifle sehr, ob es mir möglich sein werde, mich über gewisse Dinge auszusprechen, von denen er keine Vorstellung haben könne, da ich nichts in seinem Lande sähe, womit sie sich vergleichen liessen. Ich wolle jedoch mein bestes tun und versuchen, mich durch Gleichnisse verständlich zu machen, wobei ich ihn demütig um seine Hilfe bitte, wenn mir die rechten Worte fehlen sollten; diese Hilfe geruhte er mir zu versprechen.

Ich sagte ihm, ich sei von ehrenwerten Eltern auf einer Insel namens England geboren worden, die von seinem Lande um soviele Tagereisen entfernt liege, wie der stärkste Diener Seiner Gnaden während des Jahreslaufs der Sonne zurückzulegen imstande sei. Ich sei zum Arzt erzogen worden; es sei dessen Gewerbe, Wunden und Verletzungen des Leibes zu heilen, die durch Unfälle oder Gewalttat entstanden seien; mein Land werde von einem weiblichen Menschen beherrscht, den wir eine Königin nennen. Ich habe es verlassen, um mir Reichtum zu erwerben, mit dem ich nach meiner Heimkehr mich und meine Familie unterhalten könnte. Auf meiner letzten Reise sei ich Befehlshaber des Schiffes gewesen und habe etwa fünfzig Yahoos unter mir gehabt, von denen viele auf See gestorben seien, so dass ich sie hätte durch andre ersetzen müssen, die ich aus verschiedenen Nationen ausgelesen hätte. Unser Schiff sei zweimal in Gefahr gewesen, unterzugehn, einmal in einem grossen Sturm, und ein zweitesmal durch den Zusammenprall mit einem Felsen. Hier unterbrach mich mein Herr, indem er fragte, wie ich Fremde aus verschiedenen Ländern überreden könnte, sich mit mir hinauszuwagen, nachdem ich schon soviel Verluste erlitten und soviel schlimme Unfälle durchgemacht hatte. Ich sagte ihm, es seien Burschen in verzweifelter Lebenslage gewesen, die gezwungen waren, wegen ihrer Armut oder ihrer Verbrechen aus den Ländern ihrer Geburt zu fliehen. Einige seien durch Prozesse zugrunde gerichtet worden, andere hätten ihre ganze Habe durch Trinken, Huren oder Spielen verschwendet, und wieder andre hätten fliehn müssen, weil sie einen Verrat begangen hatten; viele auch wegen Mord, Diebstahl, Vergiftung, Raub, Meineid, Fälschung, Falschmünzerei, oder weil sie Weiber entführt oder widernatürliche Unzucht getrieben hatten; viele wegen Fahnenflucht oder Übergang zum Feinde; die meisten aber wegen Ausbruchs aus Gefängnissen; sie alle wagten nicht in ihre Heimat zurückzukehren, weil sie fürchten müssten, gehängt zu werden oder in einem Kerker zu verhungern; und deswegen seien sie gezwungen, sich an andern Orten ihren Lebensunterhalt zu suchen.

Während dieser Rede beliebte es meinem Herrn mehrmals, mich zu unterbrechen; ich hatte viele Umschreibungen angewandt, um ihm die Art der verschiedenen Verbrechen klar zu machen, um deretwillen die meisten Mitglieder unsrer Mannschaft aus ihrem Lande hatten entfliehn müssen. Diese Arbeit nahm mehrere Tage der Unterredung in Anspruch, ehe er mich zu verstehn imstande war. Er konnte absolut nicht begreifen, wozu die Ausübung dieser Laster nützen oder was sie notwendig machen konnte. Um das aufzuklären, musste ich eine Vorstellung von dem Verlangen nach Macht und Reichtum, von den furchtbaren Wirkungen der Wollust, der Unmässigkeit, der Tücke und des Neides zu geben versuchen. All das musste ich definieren und schildern, indem ich bestimmte Fälle und bestimmte Voraussetzungen annahm. Dann hob er wie jemand, dessen Phantasie etwas aufleuchtet, was er noch nie gesehn und wovon er noch nie gehört hat, in Staunen und Entrüstung die Augen empor. Macht, Regierung, Krieg, Gesetz, Bestrafung, und tausend andre Dinge hatten in jener Sprache gar keinen Namen, mit dem man sie ausdrücken konnte, und daher wurde die Schwierigkeit, meinem Herrn einen Begriff von dem zu geben, was ich meinte, fast unübersteiglich. Da er jedoch ein Wesen von vortrefflichem Verstande war, der obendrein durch viel Nachdenken und vielen Verkehr geschärft war, so brachte er es schliesslich zu einer vollgültigen Kenntnis dessen, was in unsern Gegenden der Welt menschliche Art zu vollbringen vermag; und er bat mich, ihm des genaueren über das Land zu berichten, das wir Europa nennen, vor allem aber über meine Heimat.


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