Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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56

Auf dem rechten Flügel bei Bagration hatte um neun Uhr das Gefecht noch nicht begonnen. Um keine Verantwortung zu übernehmen, schlug Fürst Bagration Dolgorukow vor, beim Oberkommandierenden anfragen zu lassen. Bagration wußte, daß die Entfernung von einem Flügel zum anderen zehn Kilometer betrug, und wenn der von ihm Abgesandte nicht erschossen wurde, was wahrscheinlich war, und wenn er den Oberkommandierenden auffand, was sehr schwierig war, der Ordonnanzoffizier doch nicht vor dem Abend zurückkehren konnte. Bagration sah sich um, erblickte Rostow und sandte ihn ab.

»Aber wenn ich seiner Majestät früher begegne als dem Oberkommandierenden?« fragte Rostow, mit der Hand am Schirm.

»Dann können Sie Seiner Majestät melden«, sprach rasch Dolgorukow dazwischen.

Nachdem Rostow aus der Kette abgelöst worden war, hatte er noch einige Stunden bis zum Morgen geschlafen und fühlte sich ganz frisch, heiter und entschlossen, in der Stimmung, in der alles leicht und möglich erscheint. Alle seine Wünsche erfüllten sich an diesem Morgen. Eine Hauptschlacht wurde geschlagen, er wurde Ordonnanzoffizier beim tapfersten General, und überdies erhielt er einen Auftrag an Kutusow, den er vielleicht dem Kaiser selbst überbringen konnte. Er ritt vergnügt und glücklich auf einem guten Pferd die Linie entlang, vor sich hörte er deutlich Kanonendonner und Gewehrfeuer, die sich mehr und mehr verstärkten.

In der Nähe der Höhe von Pratzen wurde das Feuer so heftig, daß nicht mehr einzelne Kanonenschüsse, sondern nur ein allgemeines Dröhnen vernehmbar war. Er ritt fast in der vordersten Linie, einige Reiter galoppierten ihm entgegen, das waren unsere Leibulanen, die mit zersprengten Gliedern vom Angriff zurückkamen. Im Vorüberreiten bemerkte Rostow, daß einer von ihnen heftig blutete.

»Das ist nicht meine Sache«, dachte er. Kaum war er einige hundert Schritte weitergekommen, als links von ihm, von der Seite her, auf der ganzen Breite des Feldes eine ungeheure Masse Kavallerie in weißen, glänzenden Uniformen im Trab gerade auf ihn zukam. Rostow trieb sein Pferd an, um diesen Kavalleristen aus dem Wege zu kommen, aber sie beschleunigten ihre Gangart, und einige Pferde galoppierten schon. Immer deutlicher hörte Rostow das Klirren ihrer Waffen und sogar ihre Gesichter konnte er schon erkennen. Das war unsere Chevaliergarde, die zum Angriff gegen die französische Kavallerie vorging.

Die Chevaliergarde galoppierte, hielt aber noch die Pferde zurück. Rostow sah schon ihre Gesichter und hörte, wie ein Offizier »Marsch! Marsch!« kommandierte, der sein Vollblutpferd zu vollem Lauf antrieb. Rostow fürchtete, überritten oder in dem Angriff auf die Franzosen umgerissen zu werden und trieb sein Pferd zum schnellsten Lauf an. Der äußerste Gardist, ein schmächtiger, pockennarbiger Mensch, sah mit zorniger Miene plötzlich Rostow vor sich, mit dem er unvermeidlich zusammenstoßen mußte. Dieser Gardist hätte Rostow jedenfalls überritten. Rostow erschien sich selbst so klein und schwach im Vergleich mit diesen riesigen Leuten und Pferden. Aber er gab mit der Reitgerte dem Pferde des Gardisten einen Schlag über das Gesicht. Es fuhr zusammen, legte die Ohren zurück. Der Reiter stieß ihm die Sporen in die Seite, das Pferd aber wedelte mit dem Schweif, zog den Hals in die Länge und galoppierte noch rascher. Kaum war Rostow vorübergekommen, als er das Hurrageschrei hörte und sah, wie die vordersten Reiter sich mit fremden, wahrscheinlich französischen Kavalleristen mit roten Epauletten vermischten. Weiter konnte er nichts mehr sehen, weil gleich darauf in nächster Nähe Kanonendonner ertönte und alles in Rauch eingehüllt wurde. Rostow schwankte, ob er nicht dem Angriff sich anschließen oder dahin reiten sollte, wohin ihm befohlen war. Das war jener glänzende Angriff der Chevaliergarde, den selbst die Franzosen bewunderten. Später hörte Rostow mit Entsetzen, daß von dieser ganzen Masse mächtiger, schöner Leute, von all diesen glänzenden, reichen jungen Offizieren auf teuren Vollblutpferden, die an ihm vorübergaloppiert waren, nach dem Angriff nur noch achtzehn Mann übriggeblieben waren. Als er an einem Garderegiment vorüberritt, hörte er plötzlich seinen Namen rufen und blickte sich um. Er erblickte Boris.

»Siehst du, wir sind in die erste Linie gekommen, unser Regiment ist zum Angriff vorgegangen«, sagte Boris mit glücklichem Lächeln.

»Wirklich?« sagte Rostow. »Nun wie war's?«

»Wir haben sie natürlich zurückgeschlagen«, sagte Boris, der sehr gesprächig wurde, »das kannst du dir denken!« Und er erzählte, wie die Garde vor sich Truppen sah und sie für Österreicher hielt, dann aber an den Kanonen- und Flintenschüssen von diesen Truppen erkannte, daß sie in der ersten Linie stand und sogleich ins Gefecht gekommen war. Noch ehe Rostow alles zu Ende gehört hatte, trieb er sein Pferd wieder an.

»Wohin gehst du?« fragte Boris.

»Zu Seiner Majestät mit einem Auftrag.«

Um nicht wieder in die erste Linie zu geraten, ritt Rostow nun in die Linie der Reserven und umging in weitem Bogen die Stelle, von wo das stärkste Feuer gehört wurde. Plötzlich vernahm er heftiges Gewehrfeuer vor sich und hinter unseren Truppen an einer Stelle, wo er keinesfalls den Feind vermuten konnte.

»Was kann das sein?« dachte Rostow. »Der Feind im Rücken der Unsrigen? Unmöglich!« Und eine Angst um den Ausgang der Schlacht überfiel ihn. »Aber ich muß sofort den Obergeneral suchen.«

Das ängstliche Vorgefühl, das Rostow befallen hatte, wurde mehr und mehr bestätigt, je weiter er kam.

»Was gibt's? Wer schießt?« fragte Rostow, als russische und österreichische Soldaten in wirren Haufen quer über seinen Weg liefen.

»Der Teufel mag's wissen! Alles ist verloren!« wurde ihm auf russisch, auf deutsch und auf tschechisch geantwortet. »Der Teufel soll die Deutschen holen!«

»Zum Teufel, diese Russen!« knurrte irgendwo ein Deutscher.

Das Feuer hörte auf, und wie Rostow später erfuhr, hatten österreichische und russische Soldaten aufeinander geschossen. Obgleich er französische Kanonen und Truppen auf den Höhen bei Pratzen erblickte, an derselben Stelle, wo er den Oberkommandierenden suchen sollte, konnte er doch nicht daran glauben.


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