Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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Anatol war in der letzten Zeit zu Dolochow gezogen. Der Plan der Entführung Natalies war schon seit einigen Tagen von Dolochow überdacht und vorbereitet worden, und an demselben Abend, wo Sonja, an der Tür Natalies horchend, beschloß, sie zu überwachen, sollte dieser Plan wirklich zur Ausführung kommen. Natalie hatte versprochen, um zehn Uhr abends durch die Hintertür hinauszugehen, wo Kuragin sie erwarten werde. Kuragin wollte sie dann in einer bereitstehenden Troika sechzig Werst weit nach dem Dorfe Kamenka fahren, wo ein entlassener Priester sie erwarten und trauen sollte. In Kamenka sollten neue Pferde warten, um sie auf die Straße nach Warschau zu bringen, und von dort wollten sie mit Postpferden nach dem Ausland reisen.

Anatol hatte Paß und zehntausend Rubel bereit, die er von seiner Schwester entlehnt hatte, sowie zehntausend Rubel, die er mit Hilfe Dolochows entlehnt hatte.

Zwei Zeugen, Chwostikow, ein früherer Gerichtsschreiber, welchen Dolochow bei seinen Spielpartien verwandte, und Makarin, ein verabschiedeter Husar, ein gutmütiger, schwacher Mensch, welcher eine unbegrenzte Verehrung für Kuragin hegte, saßen im ersten Zimmer beim Tee.

In dem großen Kabinett Dolochows, dessen Wände bis zur Decke mit persischen Teppichen, Bärenfellen und Waffen behängt waren, saß Dolochow in Reisekleidung und großen Stiefeln vor einem geöffneten Schreibtisch, auf welchem Rechnungen und Geldhaufen lagen. Anatol ging mit aufgeknöpfter Uniform aus dem Zimmer, in dem die Zeugen saßen, durch das Kabinett in das Hinterzimmer, wo sein französischer Kammerdiener mit anderen die Koffer packte, Dolochow zählte Geld und machte Notizen. »Nun«, sagte er, »Chwostikow muß zweitausend bekommen!«

»Nun gut, gib sie ihm!« sagte Anatol.

»Makarin ist uneigennützig und geht für dich durch Wasser und Feuer! Nun, die Rechnung ist abgeschlossen!« sagte Dolochow und zeigte ihm das Blatt. »Ist's richtig?«

»Ja, versteht sich«, sagte Anatol.

Dolochow schob den Schreibtisch zu. »Höre einmal«, sagte er mit spöttischem Lächeln, »gib die Geschichte auf! Noch ist's Zeit!«

»Dummkopf!« erwiderte Anatol. »Sprich keinen Unsinn! Wenn du wüßtest . . .«

»Wirklich, gib sie auf«, sagte Dolochow. »Nimm Vernunft an! Ist das etwa ein Spaß, was du da eingerührt hast?«

»Ärgere mich nicht, zum Teufel!« erwiderte Anatol. »Lasse deine dummen Scherze!« Damit verließ er das Zimmer. Dolochow sah ihm mit verächtlichem Lächeln nach.

»Warte nur«, rief er Anatol nach, »ich scherze nicht, ich spreche vernünftig. Komm her, komm!«

Anatol trat wieder ins Zimmer.

»Höre mich an! Ich spreche zum letztenmal mit dir! Wozu sollte ich mit dir scherzen? Habe ich dir etwa Hindernisse in den Weg gelegt? Wer hat alles vorbereitet? Wer hat den Popen gefunden? Wer hat den Paß besorgt und Geld angeschafft? Das habe ich alles getan.«

»Nun, ich danke dir! Du glaubst, ich sei nicht dankbar?« Anatol seufzte und umarmte Dolochow.

»Ich habe dir geholfen, aber ich muß dir doch die Wahrheit sagen. Es ist eine gefährliche Geschichte, und wenn man sie genau überlegt, eine dumme Geschichte! Nun, du entführst sie, gut. Aber was werden die Folgen sein? Man wird erfahren, daß du schon verheiratet bist und du wirst vor das Kriminalgericht kommen.«

»Ach, Unsinn! Dummheiten!« erwiderte Anatol wieder verdrießlich. »Habe ich dir nicht schon alles auseinandergesetzt?« Und mit jener besonderen Hartnäckigkeit eigensinniger, stumpfer Menschen für ihre eigenen Schlußfolgerungen, zu denen sie durch ihren eigenen Verstand gelangt sind, wiederholte er, was er Dolochow schon hundertmal erklärt hatte.

»Siehst du, wenn diese Heirat ungültig ist, so bin ich für nichts verantwortlich, ist sie aber gültig, dann ist es ganz gleichgültig, jenseits der Grenze wird niemand davon wissen. Ist's nicht so? Und nun schweig! Schweig!«

»Ich sage dir, gib die Sache auf! Du bindest dich nur! . . .«

»Geh zum Teufel!« rief Anatol, fuhr mit den Händen in die Haare und ging ins andere Zimmer. Sogleich aber kehrte er zurück und setzte sich auf einen Stuhl, Dolochow gegenüber. »Der Teufel weiß, was das ist! Sieh doch, wie es klopft!« Er ergriff Dolochows Hand und legte sie auf sein Herz.

»Was für ein Füßchen, lieber Freund! Und diese Blicke! Eine Göttin!« rief er französisch.

Mit kaltem Lächeln sah ihn Dolochow mit seinen hübschen, frechen Augen an, augenscheinlich in der Absicht, sich noch mehr über ihn lustig zu machen.

»Nun, und wenn das Geld ausgeht? Was dann?«

»Dann«, wiederholte Anatol mit aufrichtigem Erstaunen vor diesem Gedanken an die Zukunft. »Was dann? Ich weiß nicht, was dann! Was sprichst du für Unsinn! – Es ist Zeit!«

Anatol ging in das Hinterzimmer.

»Nun, habt ihr bald alles beisammen?« rief er den Dienern zu.

Dolochow nahm das Geld zusammen und befahl einem Diener, Essen und Trinken für die Reise aufzutragen. Dann ging er in das Zimmer, wo Chwostikow und Makarin saßen.

Anatol lag gähnend auf dem Diwan, den Kopf auf die Hände gestützt, lächelte gedankenvoll und flüsterte zärtliche Worte vor sich hin.

»Komm! Iß etwas und trink!« rief ihm Dolochow aus dem anderen Zimmer zu.

»Ich will nicht«, erwiderte Anatol noch immer lächelnd.

»Komm! Balaga ist gekommen!«

Anatol stand auf und ging in das Speisezimmer. Balaga war ein bekannter Mietkutscher, welcher schon seit sechs Jahren Dolochow und Anatol kannte und sie mit seinem Dreigespann gefahren hatte. Nicht selten hatte er Anatol, als dessen Regiment in Iwer stand, abends aus Iwer fortgefahren, in der Dämmerung nach Moskau gebracht und in der folgenden Nacht wieder nach Hause gefahren. Mehr als einmal hatte er sie mit Zigeunerinnen und »Dämchen«, wie Balaga sagte, durch die Stadt gefahren, mehr als einmal hatte er dabei Leute und Fahrzeuge überfahren und immer hatten ihn »seine Herren«, wie er sie nannte, herausgebissen. Mehr als einmal hatte er ein Pferd für sie zu Tode gejagt, oft hatten sie ihn geschlagen, mit Champagner und Madeira betrunken gemacht, den er so sehr liebte, und mehr als einen Spaß wußte er von jedem von ihnen, der einen gewöhnlichen Menschen schon lange nach Sibirien gebracht hätte. Aber er liebte dieses unsinnige Fahren, achtzehn Kilometer in der Stunde, er liebte es, Droschken anzurennen, Fußgänger zu überfahren, und durch die Straßen Moskaus zu rasen. »Das sind wirkliche Herren«, meinte er. Auch Anatol und Dolochow liebten Balaga wegen seiner Meisterschaft im Fahren. Von anderen nahm Balaga fünfundzwanzig Rubel für eine zweistündige Fahrt und fuhr auch nur selten selbst mit ihnen, sondern sandte meist seine Knechte, aber mit »seinen Herren« fuhr er immer selbst und verlangte nie etwas dafür. Aber er wußte durch die Diener zu erfahren, wenn Geld da war und kam einmal im Laufe einiger Monate des Morgens, betrunken, verbeugte sich tief und bat, ihn herauszubeißen. »Väterchen, Erlaucht«, sagte er, »ich habe kein Pferd mehr! Ich muß auf den Jahrmarkt fahren, bitte, leihen Sie mir, so viel Sie können!« Und Anatol und Dolochow, wenn sie bei Geld waren, gaben ihm tausend oder zweitausend Rubel. Balaga war ein untersetzter Bauer von etwa siebenundzwanzig Jahren mit rotem Gesicht und besonders rotem, dickem Hals, mit Stumpfnase, funkelnden kleinen Augen und kleinem Bart. Er trug einen feinen blauen Kaftan mit Seidenfutter. Er bekreuzigte sich in der Ecke des Vorzimmers.

»Guten Tag, Euer Erlaucht!« sagte er zu Anatol und streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich sage dir, Balaga«, sagte Anatol, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte, »liebst du mich oder nicht? Was? Du mußt mir einen Dienst erweisen! Das ganze Dreigespann mag zum Teufel gehen, aber um drei Uhr müssen wir dort sein!«

»Wohin fahren wir?« fragte Balaga, indem er die Augen zusammenkniff.

»Ich werde dir die Schnauze zerschlagen! Mach keine Scherze« schrie Anatol plötzlich, die Augen aufreißend.

»Scherze?« sagte lachend der Kutscher. »Hat es mir je um etwas leid getan für meine Herren? Ich werde fahren, so schnell die Pferde laufen können.«

»Nun, setze dich!« sagte Anatol.

»Was? Setzen?« fragte Dolochow.

»Ich kann stehen, gnädiger Herr.«

»Setze dich, Dummkopf! Trink!« sagte Anatol und goß ihm ein großes Glas Madeira ein.

Balagas Augen funkelten. Anstandshalber weigerte er sich, zu trinken, dann leerte er das Glas und wischte sich mit einem rotseidenen Tuch den Mund ab, das in seiner Mütze lag.

»Wann befehlen Sie zu fahren, Erlaucht?«

Anatol sah nach der Uhr.

»Sogleich! Nimm dich in acht, Balaga, wirst du zu rechter Zeit ankommen?«

»Warum nicht?« fragte Balaga. »Erinnerst du dich, Erlaucht, wie wir nach Iwer fuhren?«


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