Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

196

In einem unfertigen Hause an der Warwarkastraße, in dessen Erdgeschoß sich eine Schnapskneipe befand, hörte man betrunkenes Geschrei. Auf den Bänken vor den Tischen in dem kleinen, schmutzigen Zimmer saßen etwa zehn Fabrikarbeiter. Sie waren alle betrunken, mit Schweiß bedeckt, mit trüben Augen und sangen mit weit aufgerissenem Mund irgendein Lied. Sie sangen einzeln, mit Mühe, mit Anstrengung, augenscheinlich nicht deshalb, weil sie Lust zum Singen hatten, sondern um zu zeigen, daß sie betrunken seien und schwärmten. Einer von ihnen, ein hochgewachsener, blondlockiger Bursche in einem reinen blauen Rock stand vor ihnen. Sein Gesicht mit einer feinen, geraden Nase wäre hübsch gewesen ohne die beständig beweglichen Lippen und die trüben, finsteren, starren Augen. Während des Gesanges hörte man draußen auf der Vortreppe Geschrei und Schlagen.

»Hört auf« rief er befehlend und ging hinaus. Die anderen folgten ihm. Die Fabrikarbeiter, die in der Schenke sangen, hatten an diesem Morgen unter Anführung des hochgewachsenen Burschen dem Schenkwirt Leder aus der Fabrik gebracht und dafür Branntwein erhalten. Als die Schmiedeknechte aus einer benachbarten Schmiede davon hörten, vermuteten sie, die Schenke sei geplündert worden, und wollten hineindringen. Auf der Vortreppe entstand ein Streit.

Der Schenkwirt schlug sich mit einem Schmied, und in dem Augenblick, als die Fabrikarbeiter hinausgingen, riß sich der Schmied von dem Schenkwirt los und fiel mit dem Gesicht zur Erde. Ein anderer Schmied stürzte auf die Tür zu und fiel über den Schenkwirt her. Ein kleiner Mensch mit aufgeschlagenen Ärmeln schlug dem durch die Tür eindringenden Schmied ins Gesicht und rief mit wildem Geschrei: »Kameraden, zu Hilfe!«

Der erste Schmied erhob sich von der Erde mit blutendem Gesicht und schrie mit weinerlicher Stimme: »Hilfe! Mord! Man schlägt uns tot, Brüder!«

Eine Gruppe sammelte sich um den blutenden Schmied.

»Hast du noch nicht genug das Volk ausgeplündert?« schrie einer den Wirt an. »Warum schlägst du den Menschen?«

Der hochgewachsene Bursche, welcher auf der Vortreppe stand, blickte mit trüben Augen bald den Wirt, bald den Schmied an.

»Schurke!« schrie er plötzlich den Wirt an. »Bindet ihn, Kinder!«

»Wozu einen einzelnen binden?« schrie der Schenkwirt. Er riß sich los von den Leuten, die auf ihn zustürzten, riß die Mütze vom Kopf und warf sie auf die Erde. Als ob diese Bewegung eine geheimnisvolle, drohende Bedeutung hätte, traten die Leute unschlüssig zurück.

»Ich weiß, was sich gehört, ich gehe zur Polizei! Es ist niemand erlaubt, zu plündern!« schrie der Schenkwirt und hob die Mütze auf.

»Wir gehen auch! Wir gehen auch!« wiederholte der hochgewachsene Bursche und ging auf die Tür zu. Der blutende Schmied ging mit ihm, und die Fabrikarbeiter und anderes Volk folgten ihnen schreiend nach. Als das Gedränge sich immer mehr vergrößerte, schlich sich der Schenkwirt beiseite und kehrte nach Hause zurück. Der Anführer, welcher das Verschwinden seines Feindes, des Schenkwirts, nicht bemerkt hatte, sprach fortwährend.

An den Mauern des Kreml hatte sich eine andere kleine Gruppe um einen Menschen in einem Friesmantel gesammelt, der in den Händen ein Papier hielt.

»Ein Ukas! Ein Ukas wird vorgelesen!« schrie die Menge und drängte sich um den Vorleser. Er blickte erschreckt die Menge an und las auf allgemeines Verlangen mit zitternder Stimme die Ankündigung von Anfang an.

»Morgen früh gehe ich zum Durchlauchtigsten Fürsten, um mich mit ihm zu beraten und zu handeln und den Truppen zu helfen, die Bösewichte auszurotten! Wir werden ihnen den Atem ausblasen und diese Gäste zum Teufel schicken! Zum Mittag komme ich zurück und dann werden wir handeln und die Bösewichte vertreiben.«

Alles schwieg. Niemand schien die letzten Worte verstanden zu haben. Das war alles viel zu einfach. Das war so, wie jeder von ihnen hätte sprechen können. Alle standen in weinerlichem Schweigen umher. Plötzlich lenkte sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Droschke des Polizeimeisters, der über den Platz fuhr, begleitet von zwei Dragonern. Der Polizeimeister hatte an diesem Morgen vom Gouverneur den Befehl erhalten, die Barken anzuzünden, und bei dieser Gelegenheit eine große Geldsumme erhalten, die er in der Tasche trug. Als er die Menschenmenge erblickte, ließ er halten.

»Was will das Volk?« schrie er die Leute an, welche sich schüchtern der Droschke näherten. »Was ist das für Volk?« fragte er sie.

»Sie wollten nur die Ankündigung hören, Graf«, sagte der Mann im Friesmantel. »Es sind keine Aufrührer!«

»Der Graf ist noch hier und wird Anordnungen in bezug auf euch treffen!« sagte der Polizeimeister. »Vorwärts!« rief er dem Kutscher zu. Die Leute blieben stehen, drängten sich um diejenigen, welche gehört hatten, was der Beamte gesprochen hatte, und blickten der Droschke nach.

Der Polizeimeister aber blickte sich ängstlich um, rief dem Kutscher etwas zu, worauf die Pferde rascher davonrannten.

»Das ist Betrug, Kinder!« schrie die Stimme des hochgewachsenen Burschen. »Laßt ihn nicht fort, Kinder! Er soll Rechenschaft geben! Haltet ihn! Haltet!« schrien verschiedene Stimmen, und das Volk lief der Droschke nach. Die Menge bewegte sich lärmend nach der Lubjankastraße zu.

»Was soll das heißen? Die Herren und die Kaufleute sind davongefahren, und wir gehen hier zugrunde! Sind wir etwa Hunde?« schrien verschiedene Stimmen aus der Menge.


 << zurück weiter >>