Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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»Sie ist als mein Gast mit mir gekommen«, sagte die Fürstin. »Der Graf und die Gräfin werden nach einigen Tagen ankommen. Die Gräfin befindet sich in einem schrecklichen Zustand, aber Natalie muß selber die Ärzte befragen, und man hat sie fast mit Gewalt mit mir hierhergesandt.«

»Gibt es jetzt eine Familie ohne Kummer?« bemerkte Peter zu Natalie. »Sie wissen, es war derselbe Tag, an dem wir befreit wurden, ich habe ihn gesehen! Was war es für ein entzückender Jüngling!«

Natalie blickte ihn schweigend an, und ihre Augen glänzten noch heller. »Was soll ich zum Trost sagen?« fuhr Peter fort. »Warum mußte ein so prächtiger junger Mann voll Leben sterben?«

»Ja, in jetziger Zeit ist es schwer, ohne Glauben zu leben«, bemerkte Fürstin Marie.

»Ja, ja, das ist eine wirkliche Wahrheit«, bestätigte Peter.

»Warum?« fragte Natalie, indem sie Peter forschend ansah.

»Wieso – warum?« fragte Marie. »Schon der Gedanke daran, was uns dort erwartet!«

Natalie blickte wieder Peter fragend an, und deshalb fuhr Peter fort: »Weil nur der Mensch, der an Gott glaubt, einen solchen Verlust ertragen kann wie den Ihrigen.«

Natalie öffnete schon den Mund, um etwas zu sagen, aber Peter wandte sich an Marie mit der Frage nach den letzten Lebenstagen seines Freundes. Seine Befangenheit war schon fast ganz geschwunden, er fühlte aber zugleich, daß auch seine bisherige Freiheit schwand. Er fühlte, daß jedes seiner Worte und jede seiner Handlungen jetzt einem Richter unterlag, dessen Urteil ihm teurer als alles in der Welt war.

Mit einigem Widerstreben erzählte Fürstin Marie, in welcher Lage sie ihren Bruder getroffen habe, aber die Fragen Peters, sein Blick voll Unruhe veranlaßten sie, nach und nach auch Einzelheiten wiederzugeben, deren Erinnerung ihr peinlich war.

»Ja, ja«, sagte Peter, »er hat sich also beruhigt und seine Stimmung ist milder geworden! Er hat mit allen Kräften seiner Seele danach gestrebt, vollkommen gut zu sein, und darum konnte er den Tod nicht fürchten. Welches Glück, daß er Sie wiedersah!« sagte er zu Natalie, indem er sie mit Augen voll Tränen ansah.

Das Gesicht Natalies zuckte, sie schlug die Augen nieder. »Ja, es war ein Glück für mich!« sagte sie mit leiser Stimme, »und auch er . . . er . . . sagte, als ich zu ihm trat, er habe sich danach gesehnt.« Ihre Stimme brach ab, sie errötete und faltete die Hände auf den Knien.

Plötzlich erhob sie den Kopf und begann hastig zu sprechen: »Wir wußten nichts von ihm, als wir Moskau verließen, und ich wagte nicht, nach ihm zu fragen, da sagte mir Sonja plötzlich, er sei bei uns. Ich konnte mir nicht vorstellen, in welchem Zustand er sich befand, aber ich mußte ihn sehen«, sagte sie hastig und zitternd. Dann erzählte sie alles, was sie in diesen drei Wochen an seinem Sterbebett erlebt hatte.

Peter hörte sie mit offenem Munde an und wandte keinen Blick von ihr, solange sie sprach. Er dachte weder an den Fürsten Andree, noch an den Tod, noch an das, was sie erzählte, er hörte sie und bedauerte sie nur wegen des Schmerzes, den sie jetzt empfand. Die Fürstin hielt mit Mühe ihre Tränen zurück, während sie zum erstenmal von diesen letzten Tagen der Liebe ihres Bruders zu Natalie hörte.

Für Natalie war es augenscheinlich ein Bedürfnis gewesen, sich auszusprechen. Es schien, als könne sie kein Ende finden und mehrmals wiederholte sie dasselbe. Vor der Tür hörte man Desalles' Stimme, welcher fragte, ob Nikolai hineinkommen könne.

»Das ist alles, alles . . .« sagte Natalie. Hastig erhob sie sich, als Nikolai eintrat, und eilte zur Tür. Sie stieß den Kopf an, stöhnte halb vor Schmerz, halb vor Kummer und verließ das Zimmer. Peter blickte ihr nach und begriff nicht, warum er plötzlich auf der ganzen Welt allein geblieben war. Er erwachte aus seiner Zufriedenheit, als er den kleinen Nikolai im Zimmer sah. Der Anblick des Kleinen, der seinem Vater so sehr glich, wirkte in diesem Augenblick so stark auf Peter, daß er hastig aufstand, sein Tuch ergriff und ans Fenster trat. Er wollte sich verabschieden, aber die Fürstin hielt ihn zurück.

»Nein, wir schlafen oft nicht vor drei Uhr. Bitte, bleiben Sie und speisen Sie mit uns! Gehen Sie nach unten, wir werden sogleich kommen!«

Ehe Peter ging, sagte die Fürstin: »Das war das erstemal, daß sie so von ihm sprach.«


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