Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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57

Beim Dorfe Pratzen fand Rostow keinen einzigen Befehlshaber mehr, sondern nur wirre Haufen von Truppen. Er trieb sein ermüdetes Pferd an, um schneller vorüberzukommen, aber je weiter er kam, desto größer wurde die Unordnung. Auf der Landstraße drängten sich Wagen und Equipagen aller Art, russische und österreichische Soldaten, Verwundete und Nichtverwundete, alles das lärmte und drängte sich unter dem Geheul der Kanonenkugeln von den französischen Batterien, die auf den Höhen von Pratzen aufgestellt worden waren.

»Wo ist der Kaiser? Wo ist Kutusow?« fragte Rostow alle, die er anhalten konnte, aber von keinem erhielt er Antwort. Endlich ergriff er einen Soldaten am Kragen und zwang ihn, zu antworten.

»Ach, Brüderchen, die sind alle schon lange ausgerissen«, sagte der Soldat lachend und riß sich los. Dann hielt Rostow das Pferd eines Offiziersburschen oder Reitknechts einer vornehmen Persönlichkeit an, um ihn zu befragen. Von dem Burschen erfuhr Rostow, der Kaiser sei vor einer Stunde im schnellen Trab auf eben dieser Straße fortgefahren, und der Kaiser sei gefährlich verwundet.

»Das kann nicht sein«, erwiderte Rostow, »das war wahrscheinlich jemand anders.«

»Ich habe ihn selbst gesehen«, erwiderte der Bursche. »Ich werde doch den Kaiser kennen! Wie oft habe ich ihn in Petersburg gesehen! Er saß ganz bleich im Wagen, ich werde doch den kaiserlichen Kutscher kennen!«

Rostow wollte weiterreiten, als sich ein vorübergehender, verwundeter Offizier an ihn wandte.

»Wen suchen Sie?« fragte der Offizier. »Den Oberkommandierenden? Eine Kanonenkugel hat ihn zerrissen.«

»Er ist nur verwundet«, berichtigte ein anderer Offizier.

»Wer? Kutusow?« fragte Rostow.

»Nicht Kutusow, wie heißt er doch? Nun, gleichviel, es sind nicht viele am Leben geblieben. Gehen Sie einmal dorthin, nach jenem Dorf, dort hat sich das Oberkommando versammelt«, sagte dieser Offizier, auf das Dorf Gostjeradek deutend, und ging vorüber.

Rostow ritt im Schritt weiter. Er wußte nicht, wohin und zu wem er jetzt gehen sollte. Der Kaiser verwundet, die Schlacht verloren! Er konnte dies jetzt noch nicht glauben. Rostow ritt in der angegebenen Richtung weiter. Wohin sollte er sich wenden? Was sollte er jetzt dem Kaiser oder Kutusow sagen, selbst wenn sie noch am Leben und unverwundet waren?

»Reiten Sie diesen Weg, Euer Wohlgeboren!« rief ihm ein Soldat zu. »Wenn Sie geradeaus reiten, werden Sie totgeschossen!«

Rostow dachte nach und ritt in der Richtung weiter, die, wie man ihm sagte, so gefährlich sein sollte.

Er ritt über das Feld, auf dem am meisten Leute gefallen waren. Die Franzosen hatten Pratzen noch nicht besetzt, aber die Russen hatten es schon lange verlassen. Auf dem Feld lagen die Toten wie Garben auf einem guten Ackerfeld. Die Verwundeten krochen zu zweien und dreien zusammen, und er hörte ihr Schreien und Stöhnen, das ihm zuweilen wie Verstellung vorkam. Er setzte sein Pferd in Trab, nicht weil er für sein Leben fürchtete, sondern weil er fühlte, daß sein Mut den Anblick dieser Unglücklichen nicht ertragen konnte.

Die Franzosen hatten aufgehört, auf dieses mit Toten und Verwundeten besäte Feld zu schießen. Als sie den auf sie zukommenden Adjutanten bemerkten, richteten sie eine Kanone nach ihm und schossen einige Kugeln ab.

Beim Dorfe Gostjeradek traf er russische Truppen, die in besserer Ordnung vom Schlachtfeld abmarschierten. Nur noch aus der Ferne hörte man Gewehrfeuer. Hier sahen schon alle klar, daß die Schlacht verloren war. Ein Offizier sagte Rostow, er habe in einem Dorfe zur Linken einen der höchsten Generale gesehen, und dorthin ritt Rostow, wenn auch ohne Hoffnung, jemand zu finden, nur um sein Gewissen zu beruhigen. Nachdem er etwa drei Kilometer weitergeritten war, hatte er die letzten russischen Truppen überholt. Bei einem Garten, der von einem Graben umgeben war, erblickte er zwei Reiter, der eine erschien Rostow bekannt, der andere, dessen Pferd Rostow gleichfalls bekannt erschien, ritt an den Graben und spornte das Pferd an, welches leicht über den Graben setzte. Er wandte das Pferd, übersprang nochmals den Graben und näherte sich ehrerbietig dem anderen Reiter, dem er wahrscheinlich vorschlug, seinem Beispiel zu folgen. Der andere antwortete mit einer verneinenden Gebärde, und an dieser erkannte Rostow sofort seinen beweinten verehrten Kaiser. »Aber das kann er nicht sein! Allein in dieser Einöde?« dachte Rostow. In diesem Augenblick wandte Alexander den Kopf, und Rostow sah die in sein Gedächtnis eingegrabenen, geliebten Züge. Rostow war glücklich, ihn zu sehen. Er wußte, daß er sich direkt an ihn wenden konnte und er mußte ihm sogar berichten, was ihm von Dolgorukow aufgetragen worden war. Aber wie ein verliebter Jüngling zittert und verstummt, wenn er die Geliebte erblickt, so wußte auch jetzt Rostow in dem Augenblick, den er so lange herbeigewünscht hatte, nicht, wie er es wagen sollte, sich dem Kaiser zu nähern.

»Wie, ich sollte es wagen, den Zufall zu benutzen? Ein unbekanntes Gesicht in diesem kummervollen Augenblick könnte ihm peinlich sein. Und was sollte ich ihm auch sagen?« Nicht eine jener zahlreichen Reden, die er sich zuvor zurechtgelegt hatte, kam ihm jetzt ins Gedächtnis. Diese Reden paßten zu ganz anderen Gelegenheiten, meist für Augenblicke des Triumphs und hauptsächlich zu einem Totenbett, wo der Kaiser ihm für seine Heldentaten dankte, und er sterbend seine hingebende Verehrung aussprach.

»Und was sollte ich auch jetzt den Kaiser um Befehle für den rechten Flügel bitten, wo die Schlacht schon verloren ist? Nein, ich kann mich ihm jetzt nicht nähern, lieber tausendmal sterben, als einen mißfälligen Blick von ihm zu ertragen!«

Während Rostow betrübt weiterritt, kam der Kapitän von Toll zufällig an dieselbe Stelle. Als er den Kaiser erblickte, ritt er sogleich auf ihn zu, bot ihm seine Dienste an und half ihm, den Graben zu Fuß zu überschreiten. Der Kaiser fühlte sich unwohl und erholungsbedürftig und setzte sich unter einen Apfelbaum. Toll stand vor ihm, und Rostow sah von fern, wie Toll lange und lebhaft mit dem Kaiser sprach, welcher zu weinen schien, die Augen mit der Hand bedeckte und Toll die Hand drückte.

»Und ich könnte an seiner Stelle sein!« dachte Rostow. Er vermochte kaum seine Tränen zurückzuhalten und ritt verzweifelt weiter, ohne zu wissen, wohin. Er hatte die einzige Gelegenheit verscherzt, dem Kaiser seine Ergebenheit zu beweisen.

»Was habe ich getan?« dachte er. Er wandte sein Pferd und galoppierte zurück an die Stelle, wo er den Kaiser gesehen hatte, fand aber niemand mehr außer Equipagen und Wagenzügen. Von einem der Fuhrleute erfuhr Rostow, der Stab Kutusows befinde sich in der Nähe in einem Dorf, wohin die Wagen fuhren, und Rostow folgte ihnen nach.


Um fünf Uhr abends war die Schlacht auf allen Punkten verloren. Mehr als hundert Kanonen blieben in den Händen der Franzosen, Prschebischewsky legte mit seinem ganzen Heeresteil die Waffen nieder, andere Kolonnen, welche die Hälfte ihrer Leute verloren hatten, zogen sich in wirren Haufen zurück. Um sechs Uhr hörte man nur noch eine heftige Kanonade von französischer Seite, welche zahlreiche Batterien am Abhang der Höhe von Pratzen errichtet hatten und unsere Truppen beschossen. Bei der Nachhut hatten Dochturow und andere einige Bataillone gesammelt, welche die verfolgende französische Kavallerie beschossen und aufhielten. Es begann bereits zu dunkeln. Auf dem schmalen Damm der Augest drängten sich jetzt Wagen, Pferde und von Todesfurcht gejagte Menschen, die über Sterbende hinwegschritten. Alle zehn Sekunden schlug eine Kanonenkugel oder eine Granate in diese dichte Masse. Dolochow, welcher schon Offizier geworden war, bildete mit einem Dutzend Soldaten und seinem Oberst den ganzen Rest seines Regiments. Die ganze Masse auf dem schmalen Damm kam zum Stehen, weil vorn ein Pferd gefallen war. Die Masse staute sich auf, eine Kanonenkugel schlug hinter ihnen ein, eine andere vor ihnen und überschüttete Dolochow mit Blut.

»Nur noch hundert Schritte und ich bin gerettet, wenn ich aber nur zwei Minuten hier stehe, so ist mir der Untergang sicher«, dachte jeder. Dolochow riß sich aus der Masse los. »Fahre aufs Eis!« rief er einem Kanonier zu. »Es hält.« Das Eis trug ihn, bog sich aber und es war klar, daß es weder eine Kanone noch auch nur eine Menschenmasse tragen konnte. Die Leute blickten ihm ängstlich von fern aus zu. Der Oberst erhob die Hand und öffnete den Mund, um Dolochow etwas zu sagen, aber plötzlich flog eine Kanonenkugel so niedrig über die Masse hin, daß alle sich bückten. Der Oberst fiel in einer Blutlache vom Pferd, niemand blickte sich nach ihm um, keiner dachte daran, ihn aufzuheben.

»Aufs Eis! Aufs Eis!« schrien zahlreiche Stimmen, ohne zu wissen, warum. Eine der Kanonen fuhr aufs Eis und brach sogleich ein. Der Führer ließ sein Pferd im Stich, von hinten her schrien aber immer noch Leute: »Aufs Eis! Rasch, aufs Eis!« Man schlug auf die Pferde, um die Kanone herauszuziehen, ein großes Stück Eis senkte sich plötzlich herab, und etwa vierzig Mann ertranken und zogen einander hinab.


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