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Natalie war sechzehn Jahre alt, und jetzt war das Jahr 1809 herangekommen, dasselbe, bis zu welchem sie vor vier Jahren mit Boris die Jahre an den Fingern aufgezählt hatte, nachdem sie sich geküßt hatten. Seit der Zeit hatte sie Boris nicht wiedergesehen, obgleich er mehrmals in Moskau gewesen war. Wenn Sonja oder ihre Mutter von Boris sprachen, so sagte sie ganz unbefangen, die frühere Kinderei sei längst vergessen, aber in der Tiefe ihres Herzens quälte sie die Frage, ob sie nur im Scherz oder in verbindlicher Weise mit Boris verlobt sei. Anna Michailowna hatte in letzter Zeit Rostows selten besucht und beobachtete immer eine gewisse Würde, jedesmal aber sprach sie feierlich und dankbar von den Verdiensten ihres Sohnes und seiner glänzenden Karriere. Als Rostows in Petersburg lebten, machte Boris einen Besuch.
Er war nicht frei von Aufregung. Die Episode mit Natalie war die glänzendste poetische Erinnerung Boris', aber er erschien mit dem festen Vorsatz, sowohl ihr als auch den Eltern anzudeuten, daß ihre Jugendbekanntschaft weder für Natalie noch für ihn verbindlich sein könne. Er hatte Pläne zur Verheiratung mit einer der reichsten Erbinnen Petersburgs, welche sich sehr leicht verwirklichen konnten. Als Boris in den Salon Rostows trat, war Natalie in ihrem Zimmer. Sobald sie von seiner Ankunft hörte, eilte sie errötend und strahlend in den Salon.
Boris erinnerte sich nur jener Natalie im kurzen Kleidchen, mit schwarzen, glänzenden Augen, mit mutwilligem, kindlichem Lachen, die er vor vier Jahren gekannt hatte, und deshalb wurde er beim Eintritt einer ganz anderen Natalie verlegen, und sein Gesicht drückte entzückte Bewunderung aus. Natalie war erfreut, als sie dies bemerkte.
»Nun, erkennst du deine kleine, mutwillige Freundin wieder?« fragte die Gräfin.
Boris küßte Natalie die Hand und sagte, er sei erstaunt über die mit ihr vorgegangene Veränderung.
»Wie schön sind Sie geworden!«
»Das will ich meinen«, erwiderten die strahlenden Augen Natalies. »Ist Papa alt geworden?« fragte sie.
Natalie nahm nicht weiter am Gespräch teil und betrachtete genau ihren Bräutigam aus den Kinderjahren. Er fühlte, wie ihr freundlicher Blick beständig auf ihm ruhte und blickte zuweilen nach ihr hin.
Uniform, Sporen, Halsbinde, Frisur, alles war elegant und comme il faut an Boris, das bemerkte Natalie sofort. Er sprach von den Vergnügungen der höchsten Petersburger Welt und erwähnte mit mildem Spott die früheren moskauischen Zeiten und Bekannten. Nicht ohne Absicht, wie Natalie wohl bemerkte, sprach er auch von der höchsten Aristokratie, von dem Ball eines Gesandten, auf dem er gewesen war, von Einladungen zu N. N. und S. S.
Die ganze Zeit über schwieg Natalie. Ihr Blick brachte Boris mehr und mehr in Erregung und Verlegenheit, immer öfter blickte er nach Natalie hinüber. Nach kaum zehn Minuten erhob er sich, immer noch blickten ihn diese neugierigen, herausfordernden und etwas spöttischen Augen an. Nach seinem ersten Besuch gestand sich Boris, daß Natalie für ihn noch immer ebenso verführerisch sei wie früher, daß er sich aber diesem Gefühl nicht hingeben dürfe, weil eine Verbindung mit ihr – einem Mädchen fast ohne Vermögen – seine Karriere ruinieren würde, und weil es nichtswürdig wäre, die früheren Beziehungen zwecklos zu erneuern. Er beschloß, Natalie zu vermeiden, trotzdem aber kam er nach einigen Tagen wieder und dann immer öfter und brachte endlich ganze Tage bei Rostows zu. Er sagte sich selbst, daß es notwendig wäre, sich mit Natalie auszusprechen und ihr zu sagen, daß alles frühere vergessen sein müsse, daß sie seine Frau nicht sein könne, daß er kein Vermögen habe, und daß man sie ihm nie zur Frau geben werde, aber dazu kam er nicht. Mit jedem Tag verwickelte er sich tiefer. Die Mutter und Sonja bemerkten wohl, daß auch Natalie noch ebenso wie früher in Boris verliebt war. Sie sang ihm seine Lieblingslieder vor, zeigte ihm ihr Album, forderte ihn auf zu einer Inschrift darin und erlaubte nicht, an die frühere Zeit zu erinnern, wodurch sie ausdrückte, wie schön die neue Zeit sei. Jeden Tag fuhr er davon, ohne gesagt zu haben, was er sich vorgenommen hatte, ohne zu wissen, was er tat, warum er gekommen war und wie das endigen werde. Bei Helene erschien er seltener und erhielt fast täglich briefliche Vorwürfe von ihr, dennoch aber verbrachte er ganze Tage bei Rostows.