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Von den zahllosen Versuchen, die in den Vereinigten Staaten gemacht worden sind, ein Gemeinschaftsleben auf kooperativer Grundlage zu betätigen, ist die Künstlerkolonie »Rose Valley« bei Philadelphia wohl der jüngste. Im Juli 1901 organisierten die Architekten Will Price und Hawley Mc Lanahan die »Rose Valley Association«, eine Aktiengesellschaft mit einem Kapital von 25 000 Dollars. Das Ziel der Gründung war ein Gemeinwesen, das allen Einzelgliedern gleiche Schaffensmöglichkeiten bieten, das dem Individuum volle Unabhängigkeit vom Zwang kapitalistischer Konkurrenz und zugleich die Vorteile einer harmonischen Umgebung gewähren sollte. Die Kolonie besteht heute aus ungefähr zwanzig Famllien – Kunstgewerbler, Maler und Schriftsteller. Sie hat eine Anstalt für künstlerische Hauseinrichtung, eine keramische Werkstätte, eine Holzschnitzerei und eine Buchdruckerei.
Ateliers und Werkstätten mit Wasserkraft werden zu einem Preise vermietet, der nur so hoch bemessen ist, als es die Deckung der tatsächlichen Unkosten – Steuern und die Verzinsung des Aktienkapitals – erfordert. Das Aktienkapital selbst ist eigentlich ein Vorschuß, den Freunde der beiden Gründer zur Verfügung stellten, um das Unternehmen überhaupt in Gang zu bringen. Die Kolonisten hoffen, im Lauf der Zeit die Aktien aufkaufen und das kooperative System in ein rein kommunistisches verwandeln zu können. Schon jetzt ist jegliche Spekulation ausgeschlossen. Der Zinsfuß ist auf das für Amerika niedere Maximum von 5 % beschränkt. Wer sich zur Ansiedlung auf dem Gebiet der Kolonie Land kauft, muß es zum Ankaufspreis zurückgeben, wenn er wegzieht. Alle Ueberschüsse aus Miete und Verkäufen – die keramischen Erzeugnisse Rose Valleys sind sehr gesucht und denen Tiffanys ebenbürtig – werden zu Verbesserungen verwandt, die allen zu gute kommen. So ist auf gemeinsame Rechnung und durch gemeinsame Arbeit ein schönes Klubhaus gebaut worden, das vielleicht den Idealen eines Theodor Fischer entspricht: Dort finden zwanglose Zusammenkünfte statt, monatliche Beratungen über Gemeindeinteressen, Vorlesungen, Theateraufführungen, Spiele, Bälle, Konzerte. Im übrigen lebt jede Familie für sich abgeschlossen; im Gegensatz zu älteren kommunistischen Niederlassungen, in denen das Kasernensystem herrscht. Jeder ist frei, lebt seinen eigenen Neigungen und nimmt doch kameradschaftlichen Anteil an dem Streben der andern. Die Kinder werden zu sozial empfindenden Individualitäten erzogen.
In den Werkstätten sind Arbeiter beschäftigt, die nicht zur Kolonie gehören. Aber auch sie genießen den Segen des konkurrenzfreien Betriebs. Die Arbeitszeit beträgt acht Stunden, und der Lohn so viel als möglich, nicht wie anderswo so wenig als möglich. Von einer Ueberwachung während der Arbeit ist ganz abgesehen. Jeder gibt am Wochenschluß an, was und wieviel er getan hat, und danach wird er bezahlt. Eine Ablösung des Lohnverhältnisses durch Teilhaberschaft müßte für später ins Auge gefaßt werden. Die Kolonisten selbst sind Menschen, die einander nicht nach dem schätzen, was sie besitzen, sondern nach dem, was sie können und sind. Von hastiger Schnellarbeit wie von unfruchtbarem Quietismus gleichweit entfernt, haben sie Zeit und Muße, ihre Kunst aus ihrem eigensten Leben hervorwachsen zu lassen, Leben und Kunst zu wahrer Einheit zu verschmelzen.
Und damit hätte denn die Gesamtheit dieser Gemeinde im kleinen, mit verhältnismäßig bescheidenen Mitteln, ein Ziel erreicht, das bei unserem heutigen Gesellschaftssystem nur einzelnen Reichen zugänglich ist – das irdische Paradies aller kommunistischen Utopien von Platos Politika an.
Das vorliegende Buch, dessen Titel im Original »Chants Communal« lautet, Verlag Small, Maynard & Co. Boston 1904. steht im innigsten Zusammenhang mit Rose Valley. Sein Verfasser, Horace Traubel, ist Leiter der Monatsschrift »The Artsman«, »Der Kunsthandwerker.« Außerdem gibt T., unterstützt von seiner hochsinnigen Gattin, noch eine Monatsschrift »Conservator« heraus, die er zum großen Teil selbst schreibt. worin für die Ideen der Kolonie Propaganda gemacht und über die Erzeugnisse ihrer Werkstätten berichtet wird. Obwohl Traubel aus äußeren Gründen nicht selbst in Rose Valley wohnt, so identifiziert er sich doch mit allen Bestrebungen, die an den Namen geknüpft sind. Und man kann sagen, daß sein Buch das bedeutendste künstlerische Dokument ist, das Rose Valley bisher hervorgebracht hat. Es ist nicht der Ausfluß rein theoretischer Schwärmerei.
Horace Traubel ist am 19. Dezember 1858 als Sohn eines deutschen Künstlers in Camden im Staate New Jersey geboren. Er hat immer engste Fühlung mit dem praktischen Leben gehabt und dessen Mühsale voll durchgekostet. Er war Arbeiter, Buchdrucker, Lithograph, Journalist, Kommis, Laufbursche, Zeitungsausträger. Gegenwärtig lebt er in dürftigen Verhältnissen mit seiner kleinen Familie in Camden. Die literarische Welt kennt ihn fast nur als Herausgeber der Schriften Walt Whitmans und behandelt ihn zuweilen geringschätzig als eine Art Anhängsel des Dichters der »Grashalme«.
Gewiß, Traubel war viele Jahre lang der Schüler und intime Freund Whitmans. Aber der Schüler war seines Meisters würdig. Traubel war von derselben allumfassenden Liebe, von demselben unerschütterlichen Glauben an die Vorwärtsentwicklung der Menschheit beseelt, wie Whitman. Traubel war Whitmans Freund und Schüler aus Wahlverwandtschaft. Sogar der äußere Lebensgang der beiden Männer hat gemeinsame Züge. Auch Whitmans Leben war reich an Wechselfällen. Er war Lehrer, Buchdrucker, Journalist, Bauunternehmer, Krankenpfleger gewesen, als er sich wegen körperlichen Gebrechens nach Camden zurückzog. Dort war Traubel fast täglich um ihn. Whitmans Weltanschauung hat befruchtend auf den Jüngeren gewirkt. Aber Traubel ist nicht in Whitman aufgegangen. Durch nichts hat er die natürliche Kraft seines Wesens deutlicher erwiesen, als dadurch, daß er neben einem Whitman seinen individuellen Charakter bewahrte. Träubel ist kein Epigone. Er ist seinen eigenen Weg gegangen.
Whitman hat in die Zukunft geschaut, eine neue Religion, eine neue Kultur verkündet. Aber er selbst stand noch ganz auf dem Boden der amerikanischen Verfassung. Whitman hatte soziale Ideen, ohne Sozialist zu sein. Gegen die Organisation der Arbeiter, die ihm nur als eine neue Art Tyrannei erschien, hat er sich gelegentlich scharf ausgesprochen. Vielleicht hätte er den Gemeinbesitz der Produktionsmittel gebilligt. Jedenfalls war er kein Kommunist. Er ersehnte die Zeit, wo das Gebiet der Union mit Millionen Farmen übersät wäre, die Eigenbesitz und unantastbares Reservat der einzelnen sein sollten. Whitman hätte nicht an den Agrarsozialismus Henry Georges geglaubt. Träubel geht weiter bis zum konsequenten Kommunismus.
Wir brauchen ihm soweit nicht zu folgen. Wir können offen zugeben, daß wir in dem Kommunismus Träubels eine unerreichbare, nicht einmal erstrebenswerte Utopie erblicken. Auf den Privatbesitz wenigstens der Verbrauchsgegenstände werden die Menschen nie verzichten wollen, solange sie Menschen sind. Auch dürfen wir die Bedeutung einzelner kommunistischen Experimente nicht überschätzen. Was in dem kleinen Kreis einiger gleich gestimmten Familien möglich ist, wird um so unausführbarer, je zahlreicher und differenzierter die Interessen werden. Rose Valley wird so gut wie Brook Farm oder die Neue Gemeinschaft Experiment bleiben und früher oder später von der kapitalistischen Umgebung wieder aufgesogen werden. Miniaturkommunismus ändert an den bestehenden Verhältnissen nichts. Die kollektivistische Kultur der Zukunft wird sich nicht aus einzelnen, über die Welt zerstreuten Kolonien herausbilden. Entweder kommt sie als die natürliche Frucht einer sozialen Erziehung der ganzen Menschheit – oder nie. Ein Erziehungsbeispiel, das zum Nachdenken zwingt, weil es über die Wege des Alltags hinaus weist, soll uns Rose Valley sein. Und in solchem Sinne möge auch dieses Buch wirken.
Ich lege die Uebersetzung den deutschen Lesern nicht vor, als ob ich mich im Prinzip selbst auf den kommunistischen Standpunkt des Verfassers stellte. Aber ich glaube, daß der kühne Idealismus Traubels manchem Schwachen, der in dem brutalen Kampf ums Dasein verzagen will, Trost und Aufmunterung bringen, daß er manchem Starken, der in gedankenlosem Egoismus seine Nebenmenschen ausbeutet, das stumpfe Gewissen schärfen wird. So eindringlich, so unausweichbar ist der Ruf nach Gerechtigkeit und nach Liebe schon lange nicht mehr erschallt; so unerbittlich, so vernichtend ist das kapitalistische System schon lange nicht mehr unter Anklage gestellt worden, wie es in diesen stürmischen Rhapsodien geschieht.
Die Uebertragung, die bei dem eigenartigen Stil des Verfassers nicht geringen Schwierigkeiten begegnete, kann vom Original nur annähernd einen Begriff geben. Die wunderbar klangvollen, starken, in ihrer gedrungenen Kürze so schlagenden Wörter des Englischen werden im Deutschen gedehnt, verflacht, beinahe verweichlicht. Traubels Stil ist nicht mit Unrecht als ein fortwährendes Stakkato bezeichnet worden. Aus dem Zusammenhang herausgerissen klingen die einzelnen Sätze allerdings abgebrochen, hart, stoßend, wenn man will – unrhythmisch. Und doch fügen sie sich in ihrer Gesamtheit zu einem geschlossenen Rhythmus zusammen. Zu leisem Mahnen hebt ein fragender Akkord an. Fragen, immer wieder Fragen. Der Leser ist irritiert, aufgerüttelt, in die Enge getrieben. Er muß Rede stehen, ob er will oder nicht. Antwort! Antwort! Aber die Antwort ist falsch. Und wieder ertönen Fragen, stärker als zuvor, gell und schneidend wie Trompetenstöße, bis ein brausendes Finale die Lösung bringt: die einzig mögliche Lösung – Liebe, Gerechtigkeit! Immer wieder Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit. So werden diese Gesänge zu einem einzigen gewaltigen Hymnus auf die Gleichberechtigung, auf die Kameradschaft aller Menschen. Das Grundmotiv der Chants Communal ist dasselbe, wie das der »Grashalme«. Aber so wenig wie Whitman redet Traubel einer öden Gleichmacherei das Wort. Nicht für Herdenmenschen fordert er gleiche Rechte und gleiche Möglichkeiten, sondern für freie Individualitäten. Die Gerechtigkeit gegen andere schließt die Gerechtigkeit gegen das eigene Ich nicht aus, sondern geht daraus hervor. Wer sich selbst untreu ist, wer der Stimme seines Innern nicht folgt, wer sein eigenes Ich nicht voll zur Entfaltung bringt, wer keine freie Eigenpersönlichkeit ist, der kann auch seine Pflichten als soziales Wesen nicht erfüllen. Nur der wahrhaft Freie wird die Freiheit seiner Mitmenschen achten. Nur die starke Individualität wird Gesetz und Zusammenhang des Ganzen erkennen und sich als wirkende Kraft dem Ganzen einordnen. Kamerad sein heißt ein ganzer Mensch sein. Mit diesem Sozial-Individualismus setzt Traubel eine Entwicklung fort, die von Goethe, Schiller und der deutschen Philosophie zu dem amerikanischen Idealismus geführt hat, von dessen Vertretern in Deutschland bisher nur Emerson und Whitman gewürdigt worden sind. Dies ist auch Amerikanismus. Die Zukunft der Union wird davon abhängen, ob sie die rechte Mitte findet zwischen diesem und dem andern Amerikanismus, zwischen Traubel und Rockefeller.
Marquartstein, im Sommer 1906.