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Du, Zivilisation, du große.

Du bist etwas Großes, Zivilisation. Aber warum sollte ich mich scheuen, dich herauszufordern? Du machst so viel Lärm. Du bist voll von Prahlerei und Prahlern. Du bist viel zu dick für deine Größe. Du bist viel zu klein für deinen Namen. Du hast die Erde in Besitz genommen. Doch warum sollte ich mich scheuen, dich herauszufordern?

Ja, Zivilisation, du machst herrliche Sachen. Du bist eine Zauberin. Du erfindest Wunder der Mechanik. Du hast dich zur Vertrauten der materiellen Kräfte des Weltalls gemacht. Du hast so viel getan, daß du hättest mehr tun können. So vieles ist dir mißlungen, daß ich mich frage, wie dir überhaupt etwas gelingen konnte. Ich stehe da, den Hut in der Hand, deine Pracht verehrend. Ich stehe da, den Hut auf dem Haupt, deine Schmach hassend. Du, Zivilisation, du mit deinen lauten Reden. Du, Zivilisation, du mit deinem großen, grausigen Leib. Warum sollte ich mich scheuen, dich herauszufordern?

Warum sollte sich meine Seele vor einem Wolkenkratzer demütigen? Warum sollte ich zugeben, daß das Größte, was du in der Welt außerhalb meines Herzens vollbringen kannst, auch nur annähernd so groß sei, als dieses Herz selbst? Warum sollte ich der Zivilisation schmeicheln? Ich mag ihr Aussehen nicht, warum sollte ich das nicht aussprechen? Wenn ich ihre Mittel und Wege nicht liebe, warum sollte ich in meinem täglichen Gebet Amen dazu sagen? Warum sollte ich fortfahren, mit der Losung des Marktes zu feilschen? Dies ist die Losung des Marktes: Die Zivilisation ist so groß an Areal und ist so viele Taler wert, deshalb ist die Zivilisation Zivilisation. Warum sollte ich mich einschüchtern lassen, wenn ihr die Eisenbahnkurse gegen mich notiert? Warum sollten sich meine Ideale vor dem Telephon beugen? Warum sollte alles, was an meiner Seele groß ist, sich vor allem erniedrigen, was an der Welt außerhalb meiner Seele klein ist? Jenes kleine Alles, das keine höhere Instanz kennt als die Börse? Warum sollte ich noch die alten Eide schwören? Warum sollte ich mir die Schlagworte der weltlichen Bildung und der Kirche aneignen und als Zeugnisse wirtschaftlicher Offenbarung ehren? Ich lasse mich gern von euch verspotten. Ich dulde gern eure Verachtung. Aber ich will dich, Zivilisation, herausfordern.

Ich will dich fragen, warum du so viel Geld hast und doch so arm bist? Ich will dich fragen, wie du die Hungernden von deinen Kornkammern ausschließen und dich zivilisiert nennen kannst? Du hast zu lange von deinen Formen und Flächen geredet. Zivilisation braucht nicht Quantität, sie braucht Qualität. Es demütigt mich nicht, wenn du mir erzählst, wie viele und wie große Einkommen du hast. Ich bin mit lästigen Fragen gerüstet. Ich will wissen, wie viele und welcherlei Leben du lebst. Bis du alles Leben zur Höhe schönsten Lebens erhebst, gilt dein Kredit nicht. Nicht, bis jedem Kinde die Möglichkeit wird, seine Jugend zu genießen, ohne Furcht vor dem Alter. Nicht, bis den Eltern die Möglichkeit wird, ihr Alter zu genießen, ohne das Schreckgespenst des Arbeitgebers und der Not. Tust du, Zivilisation, etwas, um die Zahl derer, die du verkürzt hast, zu mindern? Warum sind deine Lichter so unnatürlich hell und deine Schatten so unnatürlich finster? Sag mir das. Ich sehe nicht ein, wie irgend eine Frage beantwortet sein kann, ehe diese Fragen gelöst sind. Und ich habe im Sinne, dir diese Fragen so lange zu stellen, bis du sie im Geiste einer Fürsorge für alle beantwortet hast. Sie sind lästig. Sie sind bitter. Du hassest sie, weil sie dir weh tun. Du hassest mich, weil sie die aufrührerische Brut meiner schöpferischen Träume sind. Hasse mich. Ich frage doch. Und du mußt mir antworten bis auf den letzten Punkt.

Du hast den liebsten Traum der Menschheit in die Verbannung geschickt. Aber du mußt ihn heimrufen. Ich scheue mich nicht, mich gegen all deinen Schein zu erklären. Ich würde Tonnen von deinem Schein für ein Gramm deines Seins geben. Du meinst, weil du groß seiest, könne dir nichts zustoßen. Aber dem großen Bösen kann alles zustoßen. Und was die Größe betrifft: Wie groß bist du als Tyrannin? Wie groß bist du, wenn die meisten Menschen nachts ungern zu Bett gehen, weil sie bange sind, du möchtest ihnen einen heimtückischen Streich spielen, während sie schlafen? Wieviel kleiner als klein ist jede Unermeßlichkeit, die nicht die Gerechtigkeit einschließt! Wieviel größer als groß ist jedes Atom, dessen Miniaturkreis die Gerechtigkeit in sich begreift. Zivilisation heißt Gerechtigkeit. Ich lasse mich nicht täuschen, wenn du dich schamlos zum Glanz deiner Privatvermögen bekennst. Die wahre Zivilisation verurteilt das Privateigentum. Sie weigert sich, das Individuum in einer dichtbevölkerten Welt als ausschlaggebend anzuerkennen. Die Zivilisation läßt kein Privatabkommen gelten. Sie wird sich mit keiner Politik zufrieden geben, die das Volk an das Individuum verrät. Ich fürchte mich vor der Zivilisation nicht. Was jetzt Zivilisation genannt wird, eine freche Bastard Zivilisation, hat sich in ihrer ungeheuren Einbildung breitgemacht. Sie hat an die Welt Fragen gestellt. Ich stelle Fragen an sie. Die Welt kann ebenso leicht die Zivilisation los werden, wie die Zivilisation mich. Du bist ein Koloß, Zivilisation. Aber deine eigene Masse kann dich erdrücken. Nur eines würde dich retten: Gleichheit. Wenn der Arme genug hat. Wenn das Privateigentum Gemeinbesitz ist. Wenn das Land wieder dem Volk zufällt. Wenn alles allen gehört – bist du gerettet. Dreitausend Meilen Land oder See helfen dir nicht. Aber eine Welt freier Menschen kann dich retten. Freie Menschen. Menschen, die Eigentum und Besitzer verleugnen. Kinder, von freien Müttern und Vätern gezeugt: Das kann dich retten. Nicht Hütte noch Palast, noch Ferien im Sommer, noch Zigarren, Wein, Speise und Kleidung können dich retten. Noch Sport, noch Behagen und Muße. Denn Behagen und Muße werden immer auf Kosten von andern genossen. Das kann dich alles nicht retten. Es kann dich verdammen oder der Beweis deiner Verdammnis sein.

Ich fragte dich, wie groß du seiest, Zivilisation, und du gabst mir eine Wage in die Hand. Aber wer könnte durch Wägen Zivilisation finden? Du verwiesest mich an den Astronomen. Aber der Himmel gab mir keinen Bescheid. Du verwiesest mich an den Biologen. Aber der Staub gab mir keinen Bescheid. Doch als du mich an das Herz verwiesest, gab das Herz mir Bescheid. Denn das Herz gab die Liebe. Und mit der Liebe brach im Menschen der verdunkelte Glanz seines verbannten Glaubens wieder hervor. Denn der Mensch hat das Recht zu glauben, daß ihm der volle Ertrag der Arbeit von Kopf und Hand gebührt. Und ein voller Ertrag heißt nicht Besitz, sondern Gelegenheit. Der Mensch braucht keinen Besitz. Er braucht Gelegenheit. Er bittet die Zivilisation nicht, daß sie ihm Mark und Pfennig bezahle. Er bittet sie, daß sie ihm Möglichkeiten gewähre. Ein Mensch mit einer Million Mark ohne Möglichkeiten ist so arm wie der elendeste Sklave. Ein Mensch ohne Geld und mit Möglichkeiten ist der unbestrittene Erbe aller Vorteile des Weltalls. Zivilisation, du mußt es lernen, das Geld ewig verschlossen zu halten. Du mußt es lernen, alle Möglichkeiten ewig offen zu halten. Du bist etwas Großes, Zivilisation. Aber bis du die Lehre von dem verschlossenen Geld und den offenen Möglichkeiten gelernt hast, bist du groß im bösen Sinne statt im guten. Du bist etwas Großes, Zivilisation. Aber du bist nicht groß genug, die drückende Last deiner eigenen Fesseln zu tragen. Du bist etwas Großes, Zivilisation. Aber vom Menschenherzen geht ein Schrei aus, der mächtiger ist als die scharfen Worte deines prahlerischen Dogmas. Du bist etwas Großes, Zivilisation. Wir aber werden dich nicht in Ruhe lassen, bis du auch die letzte Forderung des sozialen Willens erfüllt hast. Vielleicht machst du vor deinem eigenen letzten Worte Halt. Aber vor dieser Forderung kannst du nicht Halt machen. Die Schuld ist angewachsen. Du mußt sie bezahlen. Vor der Sonne kannst du dich verbergen. Aber diesem dringenden Ruf der Gerechtigkeit kannst du nicht ausweichen. Du, Zivilisation, du große.


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