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Sie kam nicht zu ihm hinauf; sie kam ihm jedoch näher: in die Fornohütte, am Rande des Fornogletschers, unterhalb des Piz dei Rossi.
Das »Teehaus« des Grand Hotel Maloja ward von der Gräfin Oberndorff um ein kleines Vermögen für den ganzen Sommer gemietet und mit allem in jener Höhe erdenklichen Komfort versehen. Ein junger Koch besorgte die Küche; der von der Gemeinde jählings entlassene, aus dem Dienst gejagte Kapuzinerjäger war Proviantträger, Lakai und Bergführer; die Nerina fungierte als Dienerin und Zofe. Denn die Französin hatte sich geweigert, dieser »Kaprice« ihrer Herrin nachzugeben, und war auf der Stelle entlassen worden: da »Madame la Comtesse« dort oben nicht Toilette machte und sich sogar selbst frisierte, bedurfte sie keiner Kammerfrau.
In Sankt Moritz hatte sie sich für ihre eigentümliche Villeggiatur equipiert: für den Tag und für ihre Exkursionen ein dunkles Lodenkostüm; für den Abend ein kleidsames, aber höchst einfaches Gewand aus weißem Wollstoff. Sie hatte Bücher mitgenommen und eine kunstvolle Stickerei. Beides sollte für die trüben Tage und die vielen einsamen Abende dienen. Ein Tag wie der andere stieg jedoch glanzvoll auf in diese Welt des Glanzes, und abends fühlte sie eine schwere und zugleich süße Ermattung, die ihr neues Leben mit sich brachte und die sie sogar daran hinderte zu denken, zu grübeln: wie wunderlich – wundersam all dieses sei; wie es werden solle; wohin führen? Jedenfalls zum Leben, zum vollen, flutenden, glühenden! Die Leidenschaft, die den starken Mann wie ein Blitzstrahl traf und seine Kraft verzehrte, übte auf die Frau einen Zauber aus, der Ungeahntes in ihr weckte und selbst ihre Schwäche in Stärke verwandelte. Es mag dies in der Natur von Mann und Frau begründet sein. Wenigstens war es begründet in den Naturen dieses Mannes, dieser Frau.
Inzwischen führte Vital die Gräfin ein in die Mysterien des Engadiner Alpengebiets; denn für die Weltdame waren es Geheimnisse, die sich ihr allmählich auftaten. Sie würden ihr auch jetzt verschlossen geblieben sein, wären in ihrer Seele nicht Tore aufgesprungen, durch die sie in das Allerheiligste eines anderen göttlichen Reiches einschritt, staunend über das Wunder, das mit ihr sich begab.
Viel beschäftigte sie sich mit der Frage: ob wohl jede Frau einmal erlebte, was mit ihr jetzt vorging? Und was aus der Frau wurde, wenn das Große unerlebt blieb? War solches Nichterleben des Wunderbaren nicht gleich einem Verkümmern, einem allmählichen Hinsterben der Frau? Nicht gleich einem lebendigen Tode? Kein Wunder, daß Dichter aller Zungen in allen Tönen, bald schwermutsvoll und leise, bald triumphierend und jubelnd das Hohelied der Liebe sangen, dieses Lebenslied der Frau. Auch dann ihr Lebenslied, wenn seine letzte Strophe Unglück und Jammer, Verzweiflung und Sterben sein sollte.
Sie sprach mit ihrem Führer von dessen berühmtem Landsmann, versuchte von dem Wildling alles zu erfahren, was diesem über den Einsiedler vom Monte della Disgrazia bekannt war. Aber Vital war wortkarg. Und wenn es ihrer Kunst gelang, dem Widerstrebenden etwas zu entlocken, war es nicht das, was sie vernehmen wollte, war es so gut wie nichts von Sivo Courtien, dagegen viel von Maira à Mara, die zu Courtien zu gehören, von ihm unzertrennlich zu sein schien wie der junge, schäumende Mairafluß vom Bergell. Einmal sagte er ihr geradeheraus: »Sie ist für Sivo Courtien das rechte Weib. Das einzig rechte! Entweder sie oder keine. Noch erkennt er's nicht. Aber er wird's erkennen, und dann – das gibt dann ein Paar!«
Da wurde die stolze Frau blaß und stumm ...
Er führte sie auf Grate und Gipfel; führte sie über die Schrunde des Fornogletschers und die Schneefelder des Bacone. Den Weg in die Wildnisse des Monte Sissone und Monte della Disgrazia schien er nicht zu kennen. Und gerade diesen Weg wollte sie gehen. Um diesen zu gehen, war sie heraufgestiegen: nur darum! Ihm entgegen! Weiter konnte sie nicht, durfte sie nicht. Nur den Weg wollte sie wissen, den er zu ihr gehen würde: oft und oft! Zu ihr über Gletscherschründe; zu ihr an Abgründen entlang; zu ihr bei Nebel und Sturm – bei Todesgefahr. Vom Wege aus wollte sie sein Haus erblicken. In der Ferne wollte sie stehen. So lange in der Ferne, bis der Tag kam, an dem er sie hinauf und in sein Haus führen würde, ihr sagend: ›Siehe meine mehr als mein Leben geliebte Arbeit, du über alles Geliebte!‹ Sie wußte, daß der Tag kommen würde. Aber Geduld mußte sie haben, warten mußte sie können.
Da Gian Vital alle Wege mit ihr ging, außer jenem einen, und da sie ihm nicht sagen mochte: »Führe mich diesen!« – so entschloß sie sich, den gefährlichen Pfad ohne Führer zu gehen, und sandte, damit er sie an ihrem Unternehmen nicht hindern konnte, Vital bereits in aller Frühe mit Aufträgen nach Maloja hinab.
Und in aller Frühe brach sie auf, erfüllt von der dunklen Empfindung eines großen Ereignisses, das der Tag ihr bringen würde, zugleich voll eines unbestimmten Angstgefühls. Denn als sie aus der Hütte trat, umfing sie die Feierlichkeit der Morgendämmerung in dieser gewaltigen Alpenwelt wie etwas Feindseliges, Furchtbares, das sie bedrohte und nach ihrem Leben trachtete.
Es war kalt, sie fröstelte. Einen Augenblick dachte sie an Umkehr. Sie schalt sich jedoch eine Törin, bezwang die Schauer, die solche Erhabenheit ihr einflößte, verließ das Felsengebiet der Hütte, betrat den Gletscher, dieses von einem Orkan gepeitschte, im höchsten Wellengange plötzlich zu Eis erstarrte Meer. Sie schritt darüber hin ...
Mystisch war's, ein Hochamt der Alpennatur! Zwischen Erde und Himmel schwebend eine vom Tagesanbruch entzündete Wolkenschicht, ein flammendes, flutendes Nebelgewoge, daraus die eisigen Gipfel als weißglühende, lodernde Riesenfackeln aufstiegen, zu einem violetten Morgenhimmel empor. Inmitten des Purpurglanzes konnte der Schöpfer erscheinen, um seine Erde mit der Glorie der ersten Sonnenstrahlen zu segnen. Erfüllte sich doch jeden Tag von neuem das göttliche Wort: »Es werde Licht!«; vollzog sich doch jeden Tag von neuem das große Sonnenwunder.
Die religiöse Empfindung, die sich der Seele der Bergsteigerin mehr und mehr bemächtigte, verdrängte schließlich das Grauen vor der überwältigenden Allmacht der Landschaft. Sogar fromm machte die Liebe die Frau, die im Leben das Beten verlernt hatte! An dem Morgen dieses einsamen Kirchgangs wurden ihre Gedanken zum Gebet: ›Glücklich sein heißt gut sein. Ich werde sehr glücklich, also sehr gut sein! Ich muß es werden! Er liebt mich. Die Stunde, in der er mir's sagt, muß kommen. Er ist so stolz, ist so ungewohnt, zu lieben und glücklich zu sein. Seine Liebe muß seinen Stolz brechen.
›Wie alles werden wird? Ich weiß es nicht, will's nicht wissen. Zusammen sein, zusammen glücklich sein. Seine Arbeit, seine Kunst, sein Ruhm. Er soll das alles behalten. Und dazu sein Glück, seine Liebe. Es wird Überschwenglichkeit sein.
Natürlich darf er nicht dort oben bleiben. Er wird mit mir gehen: aus Wolkenhöhen auf die Erde hinab; unter Menschen, in die Kultur. Sein Leben und seinen Ruhm soll er genießen. Ich werde seinem Ruhm die Wege bereiten – ich! Welche Aufgabe für mich, welche Mission! Im Sommer dann ... Nun ja, sommers kehrt er zurück in diese wilde Welt, die nun einmal seine Welt ist. Ich will sie ihm nicht entreißen; will helfen, sie ihm zu erhalten, als Lohn dafür, daß er mir von hier fort in meine Welt folgt. Es soll allmählich die seine werden.‹
Was geschah?
Der Dunst, der die Gipfel umlagerte, zog sich plötzlich zusammen; die Wolkenfetzen schoben sich wie durch Zauberschlag ineinander und bildeten mit Blitzesschnelle über dem Eismeer einen gespenstischen Nebelsee.
Die unheimliche graue Decke ward dicht und dichter, senkte sich tief und tiefer, das Tageslicht ausschließend, als legte sich eine schwere, schwarze Scheibe zwischen Erde und Himmel. Eine fahle Dämmerung verbreitete sich.
Die Wandlung erfolgte so rasch, daß die einsame Gletscherwanderin sie erst bemerkte, als sie sich bereits vollzogen hatte. Sie blieb stehen und sah um sich ... Zu ihren Füßen grünliches und bläuliches, ins Graue und Violette schillerndes Eis, vielfach durchfurcht und zerrissen, zu Spalten und Schrunden geborsten; über ihrem Haupte regungslose Nebelnacht, schwarz und schwer, tief und tiefer sich senkend.
Die Gräfin begriff sogleich die Gefahr. Auf dem Wege, auf dem sie Gedanken des Lebens gedacht hatte, konnte ihr Leben ein Ende nehmen. Welch ein Ende! Ein qualvolles, grausiges – wenn sie den Weg zur Hütte nicht zurückfand oder kein aufwehender Windstoß die Nebel faßte, zerriß, auseinandertrieb.
Also zurück! Aber – wie zurück?
Tief und tiefer senkte sich die regungslose, schwere, schwarze Nebelflut. Der Einsamen war zumute, als würde der dichte Dunst zu dem Deckel ihres Sarges, der auf sie herabsank und sie lebendig begrub. Sie stand und streckte beide Hände auf, als könnte sie mit ihren aufgestreckten Händen den schrecklichen Tod von ihrem atmenden Haupte fernhalten. Senkte sich der gespenstische Sargdeckel noch um ein weniges mehr, so mußte sie darunter ersticken.
Und sie wollte doch leben – leben! Sie, die liebte; sie, die geliebt wurde! Es mußte auch sein Herz tödlich treffen, wenn sie auf dem Wege zu ihm so grausig grauenvoll umkam.
Tiefer, tiefer und tiefer das Regungslose und doch Sichniedersenkende. Und jetzt – jetzt traf es sie, begrub es sie!
Sie war eingehüllt in Nebelnacht. Nicht die Hand vor Augen konnte sie sehen; nicht einen Schritt vorwärts, keinen Schritt rückwärts tun.
Wie gefesselt stand sie auf dem Eise des Gletschers, wie eingemauert von dem schwarzen Gewölk. Neben ihr, dicht neben ihr konnte das Eis geborsten sein, konnte ein Abgrund sich öffnen: dicht neben ihr konnte ihr Grab sein. Ein Schritt, eine Bewegung, und sie sank hinab. Sie, die das Leben an sich reißen wollte wie ein Verdurstender den Trunk aus der Quelle fühlte sich von Todesnähe umschauert.
Konnte sie sterben? Feite sie nicht ihre Liebe gegen Untergang? ... Wenn die Nebelnacht auch nicht weichen, der düstere Vorhang sich nicht heben sollte, so würde für sie ein Wunder geschehen.
Neben einer offenen Gruft stehend, von den Nebeln wie von feuchtem Flor, ihrem Bahrtuch, umschleiert, fühlte sie, daß durch ihre Liebe ein Hauch von Ewigkeit sie beseelte, der sie unsterblich machte.
Die Zeit verstrich ... Es verstrich Stunde um Stunde.
Sie stand und regte sich nicht, durfte sich nicht regen, wenn ihr Leben ihr lieb war. Und sie liebte es wie den Geliebten selbst.
Um die regungslose Frau immerfort das schwarze, schwere, regungslose Gewölk. Kein Hauch in der Luft; kein Laut in dem Schweigen. Nur bisweilen ein knisternder, knirschender, klirrender Ton wie aus weiter, weiter Ferne dumpf hinüberdringend: das Bersten des Eises, die Stimme des Gletschers. Und die Zeit verstrich, Stunde um Stunde ...
Sie wußte nicht, wie weit sie sich von der Hütte entfernt hatte; sie hatte jede Erinnerung an Weg und Richtung verloren. Jedenfalls war von ihr die Richtung eingeschlagen worden, die sie, längs des Fornogletschers, dem Monte Sissone zuführte: dem Hause des Geliebten zu! Vielleicht war sie diesem schon nahegekommen? Die Nebelschicht konnte es ihr verborgen haben. Ganz nahe von dem Geliebten stand sie gefesselt, eingemauert, lebendig begraben.
Wenn er es wüßte! Wenn er wüßte, daß sie ganz nahe von ihm sterben mußte ... Er würde zu ihr kommen, um mit ihr zu sterben, konnte er sie nicht retten.
Aber seine Arbeit, sein Gemälde, sein Lebenswerk?
Was kümmerte ihn das, wenn es seine Liebe – wenn es sein Leben galt? Denn sein Leben war ihre Liebe. Er wußte es nur nicht. Wenn er sie dem Tode nahe fand, würde ihm die Erkenntnis zuteil werden.
Sie mußte rufen, schreien. Vielleicht hörte man sie in der Fornohütte; oder es hörte sie Sivo Courtien.
Er mußte sie hören!
Sie rief, sie schrie. Aber sie rief nicht um Hilfe: seinen Namen rief sie; immer wieder seinen Namen: »Sivo! Sivo! Sivo!«
Der Name des Geliebten war ihr Ruf nach Hilfe und Rettung, nach Leben und Glück.
»Sivo! Sivo! Sivo!«
Konnte sein Ohr sie nicht hören, so würde doch sein Herz ihren Ruf vernehmen. Unmöglich, daß sie in Todesangst nach ihm rufen konnte und von ihm nicht gehört ward! Daß sein Herz ihren Hilferuf vernahm, würde das große Wunder sein, das für sie und ihn sich erfüllen mußte. Daran glaubte sie, und ihr Glaube gab ihr Kraft, auszuharren. Ohne diesen Glauben wäre sie zusammengebrochen, wäre sie hingesunken. Oder wäre fortgetaumelt, wäre in den Abgrund zu ihren Füßen gestürzt, in das offene Grab. Und die Zeit verstrich, Stunde um Stunde.
Immer noch die Nebelnacht, von keinem Windhauch bewegt ...
Sie rief nicht mehr. Auch ohne ihren Ruf würde er die Stimme ihres Herzens vernehmen, die ihn anrief in ihrer höchsten Not.
Sie wurde matt und matter. Trotz ihres Glaubens an die Erfüllung des Wunders verließ ihre Kraft sie allmählich.
Dann ward es so dunkel um sie, daß sie annehmen mußte, sie hätte seit dem Morgen, hätte den ganzen Tag über dagestanden und die Nacht wäre angebrochen.
Sie fühlte die erstarrende Kälte des Eises. Vom Boden zog es zu ihr hinauf: Eiseskälte bis in ihr Haupt, bis in ihr Hirn, ihre Gedanken erstarrend.
Wenn sie hinsänke, würde sie einschlafen, würde sie nicht mehr erwachen ...
Um nicht hinzusinken, mußte sie sich bewegen. Also zwang sie ihre starren Glieder, bewegte sie sich. Tastend schritt sie vorwärts, fühlte plötzlich den Boden unter sich weichen, riß sich von dem Gletscherspalt zurück, schlug eine andere Richtung ein, befand sich über einem anderen furchtbaren Schrund, mußte wiederum stehenbleiben: regungslos mit schwindenden Kräften – schwindendem Glauben.
»Sivo! Sivo! Sivo! Hilf mir! Rette mich! Komm! Laß mich nicht sterben! Nicht sterben, ohne gelebt zu haben! Sivo! Sivo! Sivo!«
Sie wußte nicht mehr, daß sie rief. Ihre Sinne verwirrten sich. Mit ihren verwirrten Sinnen hörte sie einen Ton, einen Ruf: den Ruf einer Stimme, die sie kannte. Aber es war wie im Traum, wie Alpdruck, Fieberphantasie.
Sie sank hin in ihrem Traum, in ihren Phantasien, beständig ihn rufend und zu ihm redend; ihm ihre Liebe in allen Tönen sagend; ihm sagend, daß sie ohne ihn starb und daß ihr letzter Seufzer sein Name war: »Sivo! Sivo! Sivo!«
Sie wußte nicht mehr, daß es seine rettenden Arme waren, die sie umfingen; daß das Wunder für sie sich erfüllt hatte.