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Winter auf Maloja!
Eingeschneit, in Schnee begraben, die beiden in dem hohen Hause über dem Fornogletscher, angesichts des Monte Sissone und des Monte della Disgrazia ...
In der arktischen Welt konnten kühne Nordpolfahrer ein ähnliches Winterquartier haben. Nur daß ihnen arktische Winternacht dunkelte, während auf Sivo Courtiens Haus die himmlische Sonne herabschien, über all das Winterleuchten ein Glanzmeer sich wälzte.
Der junge Servaz hatte sich mit begraben lassen und erwies sich mehr und mehr als nützlicher, dienstbarer Geist. In dem ungeheuren Schweigen erscholl seine helle Stimme wie eine Stimme des Lebens selbst. Keine Schauer und Schrecken dieses Malerateliers ohnegleichen konnten seine Heiterkeit trüben. Im Morgengrauen begann er bereits sein Tagewerk, das hauptsächlich darin bestand, das Haus von den hohen Schneemauern freizulegen; und jede müßige Stunde benutzte er zu kecken Weidmannsunternehmungen: auf seinen Schneeschuhen stellte er dem um diese Jahreszeit jagdbaren Wild nach: den Schneehühnern und Schneehasen, so daß Mairas Küche stets mit Braten versehen war. Dann verwandelte sich der junge Alpennimrod zum gewandten Küchenjungen, der häufig auch den geschickten Koch machte. Die in dieser Gipfelregion Überwinternden hatten es im Hanse nicht nur hell, sondern behaglich warm. Auch dafür hatte Servaz gesorgt, den guten Rat des getreuen Gian Vital eifrig befolgend. Während des ganzen Sommers hatte er auf seinem Rücken aus der Tiefe das Material, das den Menschen die heitere Flamme spendete, zur Höhe geschleppt: eine ganze Latschenwaldung war seinem unersättlichen Beile gefallen! Sie ward oben zerstückt und kunstgerecht rings um das Haus hoch aufgeschichtet, daß es die Wände mit einer, Sturm und Kälte abwehrenden, dichten Hülle umschloß. Für genügende Vorräte an Speck und Geräuchertem, an Mais und Mehl, Salz und Schmalz war Gian Vital bedacht gewesen. Es fehlte sogar nicht an allerlei Leckerbissen für Sonn- und Festtage, in langen Reihen schimmernder Blechdosen bewahrt. Als Trank diente kondensierte Milch, in Eiswasser gelöst. Hunger und Durst hatten die von aller Menschheit Abgesperrten daher nicht zu befürchten.
Der Winter in dieser Höhe war noch um vieles erhabener als auf dem hohen Maloja; und selbst Sivo Courtien hatte sein Engadin niemals von solcher Majestät umkleidet gesehen. Die Landschaft gab ihm durchaus neue, mächtige Eindrücke, also ganz neue bedeutende Wirkungen für seine Kunst und sein Bild. Daß er dieses infolgedessen in einigen Teilen wieder umarbeiten mußte, bereitete ihm jetzt reines Glück; denn seine Arbeitskraft besaß nicht nur Dauer, sondern wuchs von Tag zu Tag. Es war ein freudiges, ein seliges Schaffen! Augenblicke kamen von einer stillen Heiterkeit, wie er sie selbst in seinen besten Zeiten nicht gekannt; und die Augenblicke dehnten sich bisweilen zu Stunden. Das geschah hauptsächlich an den langen Abenden, die für die Eingeschneiten anfangs doch etwas Gespenstisches hatten. Nachdem sie in der warmen Küche gespeist, zündete Servaz im Atelier nochmals den Ofen an und begab sich auf seine Lagerstatt. Dann waren die beiden allein. Im Ofen flammte und knisterte das harzige Kienholz, die Lampe brannte, durch das mächtige Fenster strahlte der gestirnte Himmel, leuchtete die weiße Gipfelwelt, von der Courtiens Riesenbild ein Teil zu sein schien: Natur von dieser Natur!
An dem Tisch aus rötlichem Arvenholz saß Maira. Der Lichtschein fiel auf ihr Gesicht, das sich von dem dunklen Kleide seltsam blaß abhob, verklärt vom Flammenschein und einem Leuchten der Seele. Dieses schöne, stille Gesicht zeigte jetzt immer einen Ausdruck, wie solchen Abgeschiedene zu haben pflegen, die im Leben ein schweres, heimliches Leiden getragen, daran sie gestorben sind. Aber gestorben als Menschen, die das Leben überwunden hatten; gestorben als Erlöste, als Sieger. Das lichte Frauenantlitz betrachtend, fühlte sich Courtien durch den Anblick stets an jene Maira erinnert, die er auf seinem »Totenvolk von Maloja« als Braut aus dem Grabe auferstehen ließ, damit sie in der Geisterstunde mit ihrem gestorbenen Geliebten vermählt wurde.
Maira hatte ihre Bücher mit heraufgebracht. Sie las dem Freunde vor: Homer und Goethe und Gottfried Kellers »Grünen Heinrich«. Courtien saß und hörte zu, bald sein Gemälde, bald Maira betrachtend. Es tat ihm wundersam wohl, auf ihre ruhige Stimme zu lauschen. Wie anders wirkte sie auf ihn als jener umstrickende Wohllaut! Etwas alles Unheil Beschwörendes lag in Mairas Stimme; etwas, das böse Gewalten vertrieb, Zauber löste und von Banden befreite. Wenn ihre Stimme in der Sprache jener großen Dichter zu ihm redete, hielt seine Seele Kirchgang ...
Aber wie still sie jetzt immer war! Oft von einer Feierlichkeit, als nähme ihr Geist Abschied von der Erde, Abschied von ihm.
Maira von ihm sich trennen – Ein jähes Weh durchzuckte ihn bei der Vorstellung, als ob Mairas Trennung von ihm das Scheiden seines besten Lebens bedeute. War diese Schmerzempfindung etwa das Anzeichen beginnender Heilung von dem seelischen Todübel, daran er im geheimen immer noch krankte, davon alle Pflege des getreuen Mannes bei seiner schweren Erkrankung ihn nicht hatte befreien können? Sollte er erst jetzt, erst durch Maira seine völlige Genesung finden? War es möglich, daß des Menschen Leben so voller Wunder sein konnte?
In den Abendstunden, wo Maira nicht vorlas, pflegte sie irgendeine Handarbeit zu verrichten. Dann ging er durch den großen Raum auf und ab und sprach zu ihr; dann hörte sie ihm zu. Und auch das war wundersam: wie Sivo Courtien zu Maira sprechen konnte! Wie er niemals zu der anderen hatte sprechen können. Nicht einmal zu sich selbst. Mairas stille Gegenwart machte ihn beredt! Nur durch ihr aufmerksames Zuhören bewirkte sie dieses Aufschließen und Emporströmen seines innersten, höchsten Wesens. Sie saß vor ihm, richtete ihr dunkles, schwermütiges Auge auf ihn; und er hatte nie zuvor gedachte Gedanken: große Gedanken über Kunst und Leben, über Menschheit und Gottheit. Seines Genius Schwingen regten sich in der Nähe der Ernsten und Bleichen, breiteten sich mächtig aus, trugen seinen Geist zur Sonne empor, die Freundin mit sich hinanführend.
In solchen Augenblicken konnte sie zu ihm aufschauen mit einem Ausdruck, einem Blick, dafür es keine Worte gab. Es war der Ausdruck einer Beseligten, der Blick einer in Verzückung Scheidenden. Einer Sterbenden Blick war's. Aber – ihr tat das Sterben nicht weh.
Wieder kam Weihnacht. Dieses Mal feierten Courtien und Maira das schönste und heiligste der christlichen Feste. Sie begingen es zusammen, das einsame Menschenpaar, für das in den Kirchen aller christlichen Länder die Weihnachtsglocken erklangen: »Friede auf Erden!«
Sogar einen Weihnachtsbaum und eine Weihnachtsbescherung hatten sie. Der junge Servaz brachte es fertig, zu Tal zu fahren. Mit einem Fichtenbäumlein, mit bunten Kerzen und allerlei schimmerndem Ausputz kam er zurück. Und mit Grüßen von Gian Vital!
Der Sohn, den ihm die Nerina geboren, gedieh prächtig; und die Nerina hatte für Courtien eine Kappe aus Bärenfell, für Maira einen Kragen aus dem Pelz des nämlichen Tieres verfertigt. Es stammte von Gian Vitals eigenhändig gewürgter Bärin ...
Der Weihnachtsbaumbringer erhielt seine erste Pfeife; dazu den Stoff, der sie füllte und der sie erst zu einem köstlichen Eigentum machte. Pfeife und Tabak schufen aus dem Knaben Servaz über Weihnacht einen Mann. Jetzt hätte der Winter dort oben bis übers Jahr dauern können!
Unter dem brennenden Baume wurde der Weihnachtsbraten verzehrt: ein dampfender Schinken! Courtien braute Glühwein als Festtrunk, und Maira überraschte die Männer mit selbstgebackenem Weihnachtskuchen. Es ging bei den dreien fast lustig zu.
Ja – und unter dem brennenden Baume sprach Sivo Courtien zum ersten Male von der Zukunft: von seiner Zukunft als Künstler und Mensch; von seiner Zukunft zusammen mit Maira.
Wie blaß sie war! Aber so leuchtend, so verklärt ...
In der Christnacht war Vollmond. Da gingen die beiden um die Mitternachtsstunde hinaus. Sie schnallten sich die Schneeschuhe an, faßten sich bei der Hand und flogen Hand in Hand durch den Glanz: Glanz über, Glanz unter sich.
Sie flogen über Schründe und Abgründe, über Vernichtung und Tod; sie fühlten sich wie von Schwingen getragen, fühlten sich emporgehoben, zu strahlenden Gipfeln ausschweben: zwei ewig Vereinte.