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30

Auch am Crap da Chüern wurde über Courtiens Leben, das seine Leidenschaft war, und über seines Lebens Werk von einem Getreuen Wache gehalten. Durch den Knaben Servaz sandte der Blinde an Maira Botschaft hinauf: ›Die arge Frau ist in der Fornohütte. Von der Hexennadel aus übersieht man den Weg bis zu den Adlerwänden und weiter. Nur die hellen Tage sind zu fürchten; und diese nur, wenn auch mittags kein Nebel ist.‹

So kam es, daß Maira an hellen Tagen die aus dem Felsengewirr jäh sich aufbäumende »Hexennadel« erstieg. Courtien merkte ihre lange Abwesenheit kaum: so herrlich konnte der Mann arbeiten! Aber er konnte es nur in dem Bewußtsein: ›Maira ist bei mir. Mein guter Genius, mein Schutzgeist!‹ Und der sonst so tief Schweigende sprach zu seiner Gefährtin von dem, was er empfand: »Nicht meine Krankheit hat mich gerettet, sondern du. Du bist meine Genesung, meine Gesundheit. Weißt du noch, wie ich dir sagte: Von dir geht eine Kraft aus wie von Mutter Erde! Solltest du mich heute verlassen, wäre ich bereits morgen wieder ein siecher Mann. Ich habe zu viel gelitten: durch mich selbst; und ich kann mir selbst noch immer zu wenig zutrauen. Deshalb bedarf ich deiner, wie eine arme Witwe für ihre hungernden Kinder des Brotes. Es mußte einmal gesagt werden; denn du mußt wissen, was du mir geworden bist.«

Was sie ihm geworden war ... Als wüßte sie's nicht? Freundin und Schwester war sie ihm von jeher gewesen; Genossin und Wärterin war sie ihm geworden. Beides für Zeit ihres Lebens, wenn – die andere nicht wiederkam. Diese brauchte nur wiederzukommen, nur da zu sein – und es gab für Sivo Courtien wieder keine Maira à Mara mehr, und Sivo Courtien war wieder ein siecher, ein todkranker Wann. Dieses Mal für Zeit seines Lebens ...

Eines anderen Tages sprach er zu ihr von seinem Bilde. Plötzlich von neuem voller Schwermut und Schwäche, voller Zweifel. Einen kalten Schrecken in ihrer Seele, entgegnete sie mit ihrem Lächeln, das sie schöner schmückte als ein Kranz leuchtender Enzianen: »Damals sagte ich dir, daß ich an dich glaube, und ich glaube heute an dich.«

»Du hattest damals gar nicht das Recht, an mich zu glauben; denn ich war damals noch vollkommen ungeprüft. Ich habe die Prüfung nicht bestanden.«

Mit ihrer starken Milde tröstete sie ihn: »Das ist vorbei!«

Sie wußte jedoch, daß es nicht vorbei war ...

Wenn Courtien nicht arbeitete, erging er sich mit Maira in dem Alpgarten. Sie führten stille Geschwistergespräche und verstummten bei dem für beide täglich neuen Schauspiel der Sonnenuntergangsgluten auf dem Eisgebirge. In keinem Sommer war ihnen der alltägliche Vorgang so übermächtig herrlich erschienen; und wenn nach dem Erlöschen der himmlischen Flammen die bleiche Welt plötzlich wieder in düsterem Purpurglanz geisterhaft auflohte, so ward die Natur zu einem Mysterium, gleich dem Herzen des Menschen: auch im Menschenherzen loderten erloschene Leidenschaft und tote Sehnsucht in wildem Brande plötzlich von neuem auf. Erst danach kam die Nacht, die sternenlose, sturmdurchbrauste Finsternis sein konnte ...

Auch an dieses einsame Menschenpaar gewöhnten sich die Tiere der Alpenwildnis und schauten aus großen Augen auf die beiden, die geschwisterlich miteinander wandelten und deren Geschick sich noch nicht erfüllt hatte.

 

Als das längst Erwartete geschah, und Maira eines nebelfreien Mittags von ihrer hohen Warte aus auf dem Glanz des Gletschers eine dunkle Gestalt gewahrte, mußte die Ruhige und Starke um Fassung und Kraft ringen. Dann stieg sie herab ins Haus, nahm den Alpstecken und rief ins Atelier hinein: »Der Tag ist so schön. Ich habe Lust zu einer Gletscher-Wanderung.«

Courtien fuhr fort zu malen. Also hatte sie ihre Stimme in Gewalt gehabt. Dadurch ermutigt, wagte sie die Aufforderung: »Willst du mich nicht begleiten?«

»Nein, Liebe. Du siehst ja doch –«

»Verzeih. Ich sehe, du bist wieder herrlich bei Stimmung.«

»Herrlich!«

»Also geh' ich.«

»Sieh, was ich heute machte ... Wo steckst du nur?«

»Ich bin hier.«

Sie trat in die Tür ... Wenn er sich jetzt nach ihr umwandte, so mußte er es ihr ansehen; denn auf ihrem Gesicht mußte geschrieben stehen: ›Eine Frau kommt über den Gletscher. Sie kommt allein. Das ist sie! Denn sie will allein zu dir kommen. Und wenn sie kommt; wenn sie nur zu dir spricht, nur dich ansieht, so –‹

»Gefällt dir nicht, was ich heute machte? Mir scheint, es gehört zu meinem Besten.«

»Ja, lieber Freund.«

Ohne sich umzuwenden, malte er eifrig fort, sagte heiter: »Ein einfaches Ja von dir ist für mich eine lange Rede ... Habe eine gute Stunde.«

»Ich will an dich denken.«

»Als tätest du das nicht immer!«

»Was du dir einbildest ... Ade!«

Ganz heiter hatte sie sprechen können, obwohl sie kaum zu atmen vermochte. Ja – sie würde stark sein. Brauchte sie doch nur des Freundes zu gedenken. Sie wollte gehen. Ihr Blick fiel auf Gian Vitals Büchse. In dem feierlichen Schmuck des Edelweißkranzes hing sie dicht bei der Tür. Maira brauchte die Hand nur auszustrecken, die Waffe nur leise herunterzunehmen ... Das Gewehr war geladen: mit Gian Vitals letzter Kugel! Wollte sie einen Mord begehen, wenn – Sie konnte über dieses verhängnisvolle, dieses unheilbringende »Wenn« in diesem Augenblick nicht nachdenken. Gian Vitals letzte Kugel steckte in dem Lauf; und wenn – Das war ja Wahnsinn! ... In ihrem Wahnsinn streckte sie die Hand aus nach der Büchse, nahm sie leise herab ... Als sie plötzlich auch den Edelweißkranz in der Hand hielt, erschrak sie so heftig, daß ihr die Blumen fast entfallen wären: der weiße Kranz glich einer Totenkrone! ...

Courtien merkte nicht, was hinter seinem Rücken vorging: Maira konnte die gefährliche Waffe wieder an ihren Platz hängen. Sie wollte es tun, hängte jedoch nur den blassen Kranz wieder auf.

Mit Gian Vitals Büchse schlich sie hinaus.

Maira stieg hinab, schritt der Emporsteigenden entgegen und gelangte zu den Wänden, darüber die Schneemassen niederhingen, die ein lauter Schall aus der Höhe herabreißen mußte.

Sie blieb stehen, Gian Vitals geladenes Gewehr schußbereit. War sie hier auf Anstand? Lauerte sie hier auf ein Wild? Wollte sie hier einen Mord begehen?

Der gräßliche Gedanke war ihr vorhin in einem Anfall von Sinnesstörung gekommen ...

Sie ging weiter. Nur eine kleine Strecke, bis zu einer Felsenecke, unmittelbar hinter den gefährlichen, den todbringenden Wänden.

An dieser Stelle wartete Maira auf die Gräfin. Hier wollte sie mit ihr reden – wie sie es Gian Vital versprochen hatte. Seine Büchse lehnte sie neben sich gegen das Gestein.

 

Nun standen die beiden Frauen einander gegenüber, und Maira sprach mit der Feindin: »Sie wollen hinauf?«

»Zu Sivo Courtien.«

»Sie werden nicht zu ihm gehen.«

»Sie verwehren mir's?«

»Ja.«

»Also lauerten Sie mir auf?«

»Ich sah Sie heraufsteigen, wußte, zu wem Sie wollen, und wartete auf Sie.«

»Und Sie glauben mich aufhalten zu können?«

»Ich glaube, daß Sie nicht zu Sivo Courtien gehen weiden.«

»Hören Sie! ... Sie hören mich doch?«

»Gewiß.«

»Weshalb stellen Sie sich zwischen mich und den Mann, der ja wohl – nur Ihr Freund ist?«

»Nur mein Freund ... Sie wollen wissen, weshalb ich Sie hindern werde, zu Sivo Courtien zu gehen?«

»Weil Sie ihn lieben und weil Sie vor Eifersucht toll sind; weil Sie ihn mir nicht lassen wollen.«

»Ja, Frau Gräfin.«

»Sie geben zu, daß ich recht habe?«

»Ich liebe Sivo Courtien und will Ihnen den Mann nicht lassen.«

»Und das sagen Sie mir?«

»Ich werde Ihnen noch mehr sagen.«

Die Gräfin mußte sich besinnen. Träumte sie? In solchem Tone sprach dieses Mädchen mit ihr? Ohne eine Miene zu verziehen, ganz gelassen, fast gleichgültig, fast – verächtlich.

»Weiß Sivo Courtien, daß Sie wagten, mir entgegenzugehen, um mich von ihm zurückzuhalten? ... Aber wenn er es wüßte, wäre er mir entgegengekommen: glücklich, glückselig! Also weiß er nichts von Ihrem Gange?«

»Nichts.«

»Er soll es erfahren. Alles! Und das in Ihrer Gegenwart. Sie werden dann selbst sehen.«

Ohne eine Miene zu verziehen, erwiderte Maira: »Wenn es so käme – es kommt nicht so! – dann würde ich sehen, daß Sie meinen Freund von neuem unglücklich – unselig machen.«

»Genug. Ich darf mich nicht länger aufhalten. Sie können mich begleiten und mir alles Weitere unterwegs sagen.«

»Ich sage Ihnen hier, daß Sie zu Courtien nicht hinaufkommen werden.«

Während Maira mit so ruhiger und leiser Stimme sprach, als stünden beide unmittelbar unter der Klippe, die den Tod zu ihnen hinabsenden konnte, kreisten ihre Gedanken wie im Fieber: ›Wenn du es vollbringen mußt, wenn sie dich dazu zwingt, so mußt du mit ihr sterben ... Unglückliche, du mußt leben bleiben! Jetzt mußt du noch! So lange noch, bis er sein Werk vollendet hat! Er bedarf deiner noch! Du weißt es ja doch! Also lebe, lebe! ... Dann muß sie allein sterben, wenn –‹

Die beiden Frauen gewahrten nicht den Späher, welcher der einen heimlich gefolgt war und sich in einiger Entfernung von der Stelle, wo Mairas Unterredung mit der vornehmen Dame stattfand, hinter einer Gletscherwoge verborgen hielt. Der Mann zitterte vor Erregung wie vom Fieber geschüttelt.

Was würde geschehen? Welche von den Kämpferinnen würde siegen? Denn ein Kampf war es, von beiden Seiten unerbittlich geführt.

»Bevor Sie weitergehen, hören Sie mich hier ein letztes Mal.«

»Also ein letztes Mal! Seien Sie kurz.«

Maira sagte der Gräfin, daß Courtien sein großes Werk niemals vollenden würde, wenn sie ihre Absicht ausführte; sie gestand der früheren Geliebten ihres Freundes, daß dieser von dem Wahnsinn seiner Leidenschaft noch immer nicht geheilt war und daß eine vollständige Genesung erst mit der Vollendung seines gigantischen Gemäldes erhofft werden konnte; sie beschwor die vornehme Frau im Namen alles Guten und Großen, im Namen des Genius des Mannes, den sie von neuem in ihre Kreise ziehen wollte, von ihm abzustehen. Sie bat und flehte; sie forderte und drohte; sie gebot: »Sie müssen ihn von sich frei bleiben lassen!«

»Ich gehe zu ihm.«

Maira rief mit erstickter Stimme: »Ein Seelenmord an einem großen Künstler begangen, ist ein Totschlag, fluchwürdiger als durch Gift oder Kugel. Begehen Sie den Mord nicht! Er würde an Ihnen als dreifacher Totschlag gerächt werden müssen.«

»Ich gehe zu Sivo Courtien!«

Hätte Mairas Fußfall, hätte ihre tiefste Demütigung die Gräfin von ihrem Vorhaben abhalten können, so wären Fußfall und Demütigung erfolgt. Aber sie erkannte: in der Seele dieser Frau war ein Dämon erwacht, der ihr gebot, auf ihrem Wege weiterzugehen.

 

Die Zurückgebliebene stand wie entgeistert. Einen Augenblick nur! Sie belebte sich, stürzte der Davonschreitenden nach. Einige Schritte nur! Sie kehrte zurück und faßte die Büchse.

Die Gräfin ging weiter, stieg höher ... Wenige Schritte, und sie erreichte die Wand, darüber der Tod niederhing. Sie ahnte nicht die Gefahr. Und sie gedachte doch gerade diesen Augenblick jener schrecklichen Stunden, wie sie sich damals im Nebel verirrte, an den Rand eines Grabes gelangte und von Courtien gerettet ward: von dem Manne, an dessen Künstlerseele sie zum zweiten Male einen Totschlag begehen wollte – wie das vor eifersüchtiger Liebe rasend gewordene Mädchen ihr ins Gesicht gesagt hatte.

Was geschah?

Plötzlich sah der verborgene Späher die Zurückgebliebene mit erhobenem Gewehr. Er wollte aufschreien. Seine Stimme versagte jedoch vor Entsetzen; er wollte vorstürzen, fühlte sich jedoch wie gelähmt.

Der Schuß fiel.

Im nämlichen Augenblick in der Luft ein dumpfes Knarren und Knistern, Poltern und Prasseln, Sausen und Brausen, Dröhnen und Donnern.

Die Lawine stürzte herab.


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