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25

Dann leckte der Föhn mit feuriger Zunge gierig den letzten Schnee von dem Hochpaß. Gelb und braun lag das Land, das kein Getreide tragen konnte, seinen Bewohnern nicht ihr tägliches Brot gab, daraus aber Blumen aufsprießen sollten, die Öden in paradiesische Fluren verwandelnd. Zunächst kamen blasse Krokus, darauf mattgelbe Primeln, denen Blüten von mehr und mehr freudiger, mehr und mehr leuchtender Farbe folgten: Enzianen und Nelken, die orangegelbe Arnika und die purpurblütige Alpenrose. Die Alpenrosenblüte war die Zeit, wo der wilde Maloja einen Kaisermantel über sich warf unter seiner schimmernden Edelweißkrone ...

Maira hatte der »Neuen« Platz gemacht, einem jungen, hübschen, heiteren Frauenzimmerchen aus dem nahen Samaden. Ohne Sang und Klang war die Gründerin der Schule Malojas ausgeschieden. Der Vorsteher wollte eine öffentliche Danksagung veranlassen; aber die Scheidende hatte allen »herzlich« gedankt. Bereits am nächsten Tage nach Mairas Austritt herrschte in der Klasse der Jüngsten ein überaus fröhliches Schultreiben. Es war hohe Zeit gewesen, daß die eine ging und die andere kam.

Gegangen war auch der Lehrer. Vorerst nur aus dem Hause! Maira hatte ihn nicht gehen heißen: mit keinem Wort! Als die Neue eintraf, machte es sich so von selbst. Jetzt wohnte im Mesnerhause die Lehrerin, und den Lehrer hatte der geistliche Herr bei sich aufgenommen: weil doch der junge Mann in der Kirche sang!

Malojas größte Neuigkeit jedoch war: Sivo Courtien war zurückgekehrt! Nicht in sein elterliches Haus am Crap da Chüern, sondern oben auf das Klippeneiland im Eismeer des Gletschergebietes des Monte Sissone und Monte della Disgrazia über dem Fornogletscher. Außer Gian Vital sah niemand ihn wiederkommen. Aber alle wußten: ›Er ist wieder da!‹ Auch das wußten alle: ›Es muß ihm schlecht gegangen sein; denn er sieht jammervoll aus. Um zehn Jahre gealtert.‹

Sivo Courtiens treuer Freund und Haushüter half ihm, sein Atelierhaus einrichten und mit allem Notwendigen versorgen. Auch hernach verließ er ihn nicht. Aber der ehemalige Kapuzinerjäger und Wilderer kam ohne seine Büchse: die hing unten im Hause am Crap da Chüern und sollte dort hängenbleiben. Obgleich ohne Gewehr, wollte Gian Vital oben gute Weidmannswache halten, und unten wachten über Sivo Courtiens Geschick zwei andere Augen. Das aber wußte nur Dionisio Fidora, den es von Maloja nicht fortließ. Gebannt hielt es den jungen Mann auf Malojas Felsenscholle, wie mit unsichtbaren, unzerreißbaren Banden am Orte gefesselt. Es lag darin beinahe etwas Mystisches: als würde sich in Maloja auch sein Schicksal erfüllen! Und seinem Schicksal kann der Mensch nicht entgehen.

Auch mußte Dionisio Fidora mit der Gräfin Oberndorff wieder Italienisch treiben. Sie lasen jetzt Dante zusammen.

 

Vital war heruntergekommen, um in Maloja für das Gletscherhaus verschiedenes einzukaufen. Er besorgte alles auf das beste, wurde aufgehalten, konnte den Rückweg nicht mehr antreten und beabsichtigte am Crap da Chüern zu übernachten. Die Dunkelheit war bereits angebrochen, als er dem Hause sich näherte, darin Sivo Courtien Gericht gehalten: über sich selbst und über die Frau, die ihn gegen sich selbst untreu gemacht hatte.

Vitals scharfes Jägerauge bemerkte schon von weitem vor der Tür eine dunkle Gestalt. Sie kauerte auf der Schwelle wie hingesunken, wie zusammengebrochen. Dann erkannte er sie.

Die Nerina war's!

Die Nerina erwartete ihn vor dem verschlossenen Hause; die Nerina kam zu ihm zurück ... Ein Schwindel ergriff den starken Mann. Für Schwäche war jedoch keine Zeit. Im nächsten Augenblick erreichte er sie.

Sie regte sich nicht, hob ihr Gesicht zu ihm auf, sah ihn an, gleichsam mit erloschenen Augen. Wie elend sie aussah!

»Was tust du hier?«

Sie antwortete nicht.

»Wußtest du, daß ich in Maloja war, mich verspätet habe und hier übernachten muß?«

Sie sagte nichts.

»Was willst du von mir?«

Auch jetzt blieb sie stumm. Mit ihren erloschenen Augen sah sie ihn unverwandt an. Er wollte wild werden; aber plötzlich ward es sonderbar still in ihm. Als spräche er zu einer Schwerkranken, fragte er sie: »Sie hat dich fortgeschickt?«

Jetzt sprach sie ... Er mußte sich tief zu ihr herabbeugen, um sie verstehen zu können: »Fortgejagt wie einen Hund.«

›Warum?‹

So wollte er fragen, fragte jedoch nicht. Er wußte es. Ihre erstickte Stimme und erloschenen Augen sagten es ihm.

»Wer? Ich will ihn totschlagen wie einen Hund. Also – wer, wer?«

»Schlag mich tot.«

»Du willst den Namen nicht nennen?«

»Nein.«

»Ich will den Namen wissen!«

»Niemals.«

»Den Namen oder –«

»Schlag mich tot.«

Die nämlichen Worte sagte sie wieder und wieder, als ob es die einzigen wären, die ihr von der Sprache im Gedächtnis geblieben: »Schlag mich tot! Schlag mich tot!«

Es schwamm ihm vor den Augen: Blut! Ihn packte sein Dämon, der ihn zwang, Blut zu sehen – Blut zu vergießen. Sein ganzer Mensch ging unter in der roten, gräßlichen Flut.

Er stieß das Mädchen beiseite, schloß auf, stürzte ins Haus, ins Zimmer, wo an der Wand die Büchse hing. Er riß sie herab, stürzte mit der Waffe hinaus.

Sie war geladen. Er brauchte nur den Hahn zu spannen, nur zu zielen, loszudrücken –

Blut mußte er sehen!

Wie hatte er dieses Geschöpf geliebt! Nicht nur geliebt, auch geachtet, sie gehalten wie sein vor Gott ihm angetrautes Weib. Wäre er mit Sünden beladen, daß er unter ihrer Last zusammenbrach, so hätte seine Liebe ihn reingewaschen, ihn entsühnt von aller seiner Schuld. Und das vor dem strengsten Richter, wäre dieser ein gerechter Richter gewesen. Aber jetzt, da sie wiederkam: so wiederkam –

Blut mußte er sehen!

Wiederum ihre Stimme, klanglos wie die einer bereits Gestorbenen, Getöteten: »Schlag mich tot! Schlag mich tot!«

Ein Weib töten? Ein schuldiges, ein wehrloses Weib? Gian Vital! ... Weshalb nicht? Hatte er doch, wenn die Blutwut über ihn kam, schuldloses Getier getötet! Weshalb also nicht dieses verworfene Geschöpf?

»Schlag mich tot! Schlag mich tot!«

Wieder und wieder aus ihrem Mund diese Worte; immer und immer die Blutflut vor seinen Augen und in seiner Seele ... Er hob die Büchse, die nicht mehr anzurühren er sich selbst gelobt hatte; aber er hob sie nicht gegen das schuldige Weib, sondern gegen sich selbst.

Nicht das schuldige Weib wollte er töten, sondern sich selbst. Was sollte er noch auf der Welt, wo das aus seiner Liebe – das aus seinem Leben geworden war? Und so schied er denn aus der Welt als feiger, elender Selbstmörder.

Ein Aufschrei gellte. Die Nerina schrie so gräßlich auf. Sie sprang in die Höhe, wollte dem Sinnlosen die Büchse entreißen, rang mit ihm. Der Schuß ging los und traf. Aber er traf nicht Gian Vitals Herz, sondern sein Gesicht, seine Augen.

Traf Gian Vital in seine beiden Augen!

 

Courtien verstand nicht, weshalb sein guter Genosse so lange ausblieb? Er hatte versprochen: »Dann und dann bin ich wieder hier.« Und wenn Gian Vital etwas sagte, geschah es, wie er's gesagt hatte. Er mußte daher zur bestimmten Zeit wieder zurück sein.

Er war es nicht.

Am Nachmittag des nächsten Tages wurde Courtien ernstlich beunruhigt. Da Vital nicht kam, mußte ihm etwas zugestoßen sein. Was konnte es sein? Das Wetter war klar – konnte Gian Vital beim Heraufsteigen über den Fornogletscher ein Unglück zugestoßen sein? Es gab Dinge, die eben nicht geschehen konnten! Da waren freilich die Adlerwände mit dem überhängenden Schnee, den ein lauter Schall zum Bersten und Brechen brachte. Der Gletscherpfad zum Monte Sissone führte dicht unter den Wänden hin. Aber Gian Vital kannte die Gefahr. Selbst wenn er sich gestern in Maloja verspätet und den Aufstieg bei Nacht unternommen hätte, wäre für Gian Vital ein Unglück nicht möglich gewesen. Trotzdem begann Courtion sich zu sorgen.

Er unterbrach seine Arbeit, verließ sein Haus und schickte sich an, nach dem Ausgebliebenen auszuspähen. Auf der Gletscherinsel befand sich ein hoher Fels, der eine weite Umschau gewährte. Die »Hexennadel« – wie das Volk das Riff nannte – wollte der Beunruhigte ersteigen, und er war sicher, Vital von dort aus kommen zu sehen. Wenn nicht, mußte er hinab; denn es hatte dann ein Unglück gegeben! Courtien scheute Maloja, als könnte er durch den bloßen Anblick jenes Orts von neuem in Krankheit, in Wahnsinn verfallen: war er doch noch immer erst ein von Krankheit und Wahnsinn Genesender ...

In diesem Augenblick gewahrte er einen Aufgestiegenen. Es war jedoch nicht Vital, sondern die Nerina! Die Nerina in einem schlechten Gewande; die Nerina mit todblassem Gesicht und erloschenen Augen. Sie schleppte die Sachen herauf, die zu besorgen Vital herabgestiegen war; mußte sich selbst mühsam schleppen. Courtien eilte ihr entgegen. »Wo ist Vital?«

»In Eurem Hause.«

»Er ist krank!«

»Blind.«

»Was sagst du? Du redest irr!«

»Er ist blind auf beiden Augen.«

Mit ihrer Last sank sie hin ... Nachdem Courtien sie wieder zur Besinnung gebracht hatte, wollte er wissen, wie das Unfaßliche sich zugetragen hatte. Gian Vital blind auf seinen beiden Augen! Gian Vital!

Mit ihrem erloschenen Blick und ihrer erstorbenen Stimme berichtete die Nerina: »Die Büchse ging eben los.«

»Vitals Büchse?«

»Sie hing in Eurem Hause.«

»Ich weiß!«

»Nun also.«

»Er wollte sie nicht mehr anrühren.«

»Er tat's doch.«

»Der Unglückliche, Unselige! Blind! Tausendmal lieber tot. Denn – Gian Vital seine Berge nicht mehr sehen, nicht mehr sein Maloja, sein Engadin –«

Courtien weinte ... Nach einer langen Weile, während der das Mädchen wie leblos dastand und Gian Vitals Freund weinen hörte, sagte es: »Wenn Ihr die Sachen, die er gestern für Euch einkaufte, mir jetzt abnehmen wolltet. Ich muß nämlich gleich wieder zurück.«

»Das kannst du nicht. Du mußt mit mir ins Haus und dich ausruhen. Morgen früh dann –«

»Ich muß gleich wieder zurück.«

»Zu Vital?«

»Nun ja.«

»Pflegst du ihn?«

»Wer sollte ihn sonst pflegen?«

»Ich!«

»Er läßt Euch grüßen: Ihr möchtet ja und ja nicht herabkommen. Zu ihm herabkommen dürftet Ihr nicht! Er würde nicht ertragen können, Euer Gesicht – nicht sehen zu können.«

Courtien stöhnte: »Gian Vital blind!«

»Ihr sollt ihm durch mich versprechen lassen, ja und ja nicht herabzukommen. Erst später. Erst wenn er's besser ertragen kann.«

»Wie erfuhrst du das Unglück? Schickte er nach dir?«

»Ich erfuhr's eben!«

»Weshalb schickte er nicht nach Maira? Da du von dem treuesten Manne nichts mehr wissen willst.«

»Jetzt bin ich bei ihm.«

»Und bleibst bei ihm?«

Das Mädchen wich der Antwort aus. Sie mußte noch eine zweite Bestellung machen: »Da er nicht bei Euch sein kann – nicht fürs erste – so bittet er Euch, jemand anders bei Euch sein zu lassen. Ihr wüßtet schon wen. Er bittet Euch herzlich darum. Ihr sollt ihm die Wohltat erweisen, wenn Ihr sie Euch nicht selbst erweisen wollt. Auch darüber soll ich ihm Euer heiliges Versprechen zurückbringen. Es würde ihn mehr heilen und ihm besser helfen als alles andere ... Was soll ich dem Blinden sagen?«

»Ich würde jemand anders bei mir sein lassen: um seinet- und meinetwillen.«

»Ich soll sie für Euch rufen – läßt er Euch sagen. Die Stunde sei gekommen – läßt er Euch sagen ... Laßt Ihr ihm darauf durch mich etwas wieder sagen?«

»Sage ihm, daß meine Augen um die seinen geweint haben und daß die Stunde gekommen sei.«

 

Mit Courtiens Botschaft kehrte die Nerina zu dem Blinden zurück. Es war ein Tag so voll Glanzes, daß Gian Vital voller Entzücken auf die Herrlichkeit der Welt geschaut haben würde: auf sein in ewiger Schönheit leuchtendes Engadin.


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