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20

Courtien ging.

Ihm war zumute, als hätte er seine Seele entblößt. Vor diesen Leuten! Er schämte sich der Nacktheit, in der seine arme, durch Leidenschaft geschändete Seele vor den Augen aller gestanden: im Beisein der geliebten, der gehaßten Frau. Was hatte ihn nur so weit bringen, ihn so tief sinken lassen können? Denn bei allem Wirrwarr seiner im dunkelsten Grunde aufgewühlten Empfindungen war er sich mit grausamer Klarheit bewußt, daß er soeben seinen tiefsten Sturz getan habe.

Ihr Lächeln war es gewesen!

Vor allen diesen Leuten hatte sie ihn angelächelt; seine Qual erkennend, hatte sie ihn angelächelt; in seine Seele blickend und deren Wunden schauend, hatte sie ihn angelächelt! Sie tat es in Gegenwart jenes Verhaßten, mit dem sie spielte, um seine Marter zu verschärfen. Und alle, die ihr Lächeln sahen, die seine Geschichte hörten, wußten es nun. Er hatte diesen Fremden seine und ihre Geschichte erzählt; hatte vor ihnen sein Geheimnis preisgegeben, sein Heiligstes entweiht. Zu diesem Sakrileg hatte ihn ihr Lächeln getrieben.

Mit welchen Mienen blieben sie wohl zurück? ... Mit den allergleichmütigsten, allergleichgültigsten. Diese Leute verstanden die Lebenskunst, über menschliche Qual gelassen hinwegzublicken, sie mit einer leichten Handbewegung abzuweisen: »Wir haben damit nichts zu schaffen! Es ist uns unbequem, davon nur zu wissen! und alles Unbequeme existiert nicht für uns« ... Gewiß unterhielten sie sich bereits wieder über irgendeine Nichtigkeit. Vielmehr, sie machten darüber Konversation. Oder der Sänger mußte ihnen zur Mandoline »Vorrei morir« singen; und sie fanden es »reizend«.

Auch die Gräfin Oberndorff machte bereits wieder Konversation und beteiligte sich an dem allgemeinen »reizend«. War sie doch eine von jenen! Das hatte er freilich von jeher gewußt. Aber erst jetzt hatte er es erlebt ... Eine gewaltige Alpentragödie wollte er mit seiner stärksten Künstlerkraft schaffen und war der schwächste Held einer tristen Liebestragödie geworden. Das eine sollte etwas ohnegleichen, etwas Einziges werden; und das, wobei er mitagiert hatte, war etwas so Alltägliches und Banales wie die Tatsache, daß Menschen geboren werden, eine Zeitlang leben und schließlich sterben.

Liebe, Leidenschaft – unglückliche Liebe, unselige Leidenschaft ... Dem einen streift das Geschoß des großen Gottes kaum die Haut, den anderen trifft es ins Herz oder macht ihn zum Krümel. Es ist die nämliche Kugel, abgeschossen von dem nämlichen Schützen. Wer nur gestreift wird, begreift nicht, wie der andere fallen konnte. Er hätte dem tödlichen Geschoß so leicht nach links oder nach rechts ausbiegen können! Nun liegt er am Boden, ein stiller Mann.

Courtien stand vor dem Hotel, das seinen festlichen Lichtglanz weit hinaus über die schimmernde Schneefläche warf. Gian Vital, sein wilder, treuer Freund, hatte recht mit seinem tollen Haß. Was konnte aus diesem Hause, was von diesen Menschen Gutes kommen für Maloja und diejenigen, die dort ihre Einfalt und alte Sitte, ihre redliche Arbeit und ihren Frieden gehabt hatten? Feinde waren die Fremden! Der Mensch soll sich wehren gegen den Feind, der in sein Land einfallt, soll sein Land verteidigen; und die Malojaleute überließen es dem Einbrecher, womöglich voller Dank, daß er kam, sah und nahm. Gewiß voller Dank! Brachte der Ankömmling doch das Geld zu ihnen hinauf: Gott Mammon, der da ist der alleinige Gott, der Weltenregierer und Seligkeitspender. Erhielten sie auch das göttliche Geld nicht selbst, so konnten sie doch in seinem Abglanz sich sonnen ...

Wie gelähmt an Seele und Leib stand Courtien vor dem Hause der Fremden in dem von ihm ausgehenden grellen Lichtschein und starrte in den weißen Dämmer der Winternacht, darüber die Gestirne funkelnde Schleier wirkten. In seiner Kindheit hatte Courtien die schönen schimmernden Sterne für die Gedanken des Schöpfers gehalten, der seine Menschenkinder liebt. Nun stand er wie ein von der Gottheit Verlassener, und kein göttlicher Gedanke fiel von dem funkelnden Himmelsgewölbe in die Nacht eines Menschenherzens herab, das sich selbst verlassen und verloren hatte.

Er mußte gehen ... Wohin? ... Nach Hause!

Er bewegte sich mit Anstrengung, entfernte sich auf unsicheren Füßen, glaubte den Weg nach Crap da Chüern anzutreten, schlug eine andere Richtung ein: nach Kirche und Kirchhof. Er gelangte zu diesen Stätten, schritt schwankend daran vorbei, ohne es zu merken; schritt weiter, wandte sich der Paßhöhe zu, erreichte sie, erkannte, wo er sich befand: vor dem altertümlichen Hause, darin Maira wohnte, jene reine Jungfrau, die retten und erlösen konnte durch eine Liebe mit einem Glauben, der Berge versetzte; durch eine Liebe, deren Kraft Wunder vollbrachte, deren Stärke den Tod bezwang. Aber der Mann mußte solcher höchsten Liebe würdig sein. Also nicht ihn konnte Maira aus den dunklen Tiefen der Leidenschaft zu dem himmlischen Glanz des Tages emporziehen.

Er stand vor dem Hause, das schwarz dalag, als sei es der Fels, daraus es aufwuchs, und keine menschliche Wohnstätte. Seltsam, daß im Hause alles dunkel war. Es hätte darin ein Licht leuchten müssen – für ihn! Wenn Maira ihn auch nicht retten konnte, so saß sie doch gewiß Nacht für Nacht auf bei der Kerze, die sie Nacht für Nacht anzündete. Denn es mußte einmal die Nacht kommen, wo er durch das Dunkel seines Lebens den Weg zur Höhe suchte und wo Mairas Licht ihn den Weg finden ließ: zurück zu ihr, der Freundin, Gefährtin, Schwester.

Den Weg zu ihr zurück ... Abgründe lagen dazwischen, Eiseswüsten mußten unter einem sternenlosen Nachthimmel durchschritten werden; und seiner Seele Schwingen waren gebrochen, seine Füße voller Wunden, zerrissen auf dem Dornenwege der Leidenschaft. Vor ihrem Hause stehend, ihr so nahe, daß sie seinen Seufzer hatte hören können, fühlte er sich durch Unermeßlichkeiten von ihr getrennt. Wenigstens wollte er in ihrer Nähe kurze Rast halten, allein ihre Nähe würde ihm Kraft geben ... Kraft wozu? Um dieses Leben weiterzuleben –

Vor ihrem Hause sank er hin in der weißen Winternacht, über sich das Sternenheer, ein funkelnder Ozean von Welten, flimmernde Unendlichkeiten, die ihre Bahnen wandelten von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und da krümmte sich der Menschenwurm in seiner winzigen Qual, weniger als ein Atom in diesem ungeheuren All ... Ringsum erhoben sich die Alpen, als wollten sie hinaufweisen von der Erde zum Himmel, vom Menschlichen zum Göttlichen. So wiesen sie bereits seit dem ersten Schöpfungstage den Seelen den Weg, würden ihn weisen bis zum letzten Tag. Aber starr wie diese Empordeutenden sah die Gottheit den Jammer ihres hingeworfenen Geschöpfes. Um aufrecht zu stehen, das Antlitz zur Sonne gewendet, ward es geschaffen. Da kam das Leben, faßte den Lebenden, rang ihn nieder, warf ihn zu Boden. Da liege du nun!

Courtien preßte das Gesicht gegen die Schneedecke, als wollte er das mit dem Male seiner Schande gezeichnete Antlitz vor dem Sternenhimmel am Herzen von Mutter Erde verbergen. Als er so dalag, mußte er der Sommernacht gedenken, in der er sich auch so zerbrochen niedergeworfen und seinen ersten Kampf gekämpft, seine erste Niederlage erlitten hatte. Damals wäre es noch Zeit gewesen! Auch den Weg zur Freundin, der Reinen und Starken, hätte er damals noch finden können.

Sie aber, an die der Hingesunkene, der auf allen Linien Geschlagene in seiner Zerrüttung dachte, hatte wieder ruhelose, schlaflose Nächte. Sie selbst wehrte dem Schlaf nach Möglichkeit. Denn der Schlummernde träumt, und Maira fürchtete sich zu träumen. Sogar in ihren Träumen wandte sich der Geliebte feindselig von ihr ab. Nur ein einziges Mal hatte er sich zu ihr niedergebeugt und sie bleich und still, aber freundlich angeschaut. Von seiner weißen Stirn war es langsam, langsam niedergeronnen wie blutiger Schweiß. Mit solchem Gesicht und solcher blutenden Stirn hatte er auf seinem großen Bilde sich selbst gemalt, neben der bleichen, kranzlosen Geisterbraut: neben Maira! Und nun sah sie ihn so im Traum ... Gräßlich schrie sie auf: »Lebe! Du mußt leben! Denn du mußt dein Lebenswerk vollenden! Statt deiner laß mich sterben! Ich darf ja doch keinen Kranz tragen!« Als sie erwachte, fand sie sich aufgerichtet im Bette mit ausgebreiteten Armen, als könnte sie ihn von seinem Todessturz abhalten. Durch Tage und Wochen ging das Traumbild ihr nach. Seitdem kämpfte sie nur noch heftiger mit dem Schlaf, dem sie sich erst hingab, wenn Ermattung sie niederwarf. Bisweilen ging sie noch mitten in der Nacht ins Freie: die eisige Winterluft scheuchte die Müdigkeit! Doch mußte erst der junge Hausgenosse heimgekehrt sein. Damit er sie nicht noch wach wissen sollte, löschte sie frühzeitig das Licht.

Diese Nacht hörte sie auf dem gefrorenen Schnee Schritte, glaubte den Lehrer vom Hotel zurück, nicht beachtend, daß er die Tür nicht öffnete, hinter sich zuschloß und in seine Kammer ging: der Mensch hatte jetzt immer etwas Heimliches, Schleichendes, wenn er nach Hause kam! Häufig erst nach Mitternacht. Also trat sie heraus, erblickte den Hingesunkenen, erkannte ihn sogleich –

So kam er zu ihr zurück!

Wenn tiefstes Mitleid des Menschen höchste Liebe ist – und der Frauen höchste Liebe ist es! – so wurde Maira in diesem Augenblick derartig von höchster Liebe erfüllt, daß sie dem Gekreuzigten hätte nachsterben können, ohne zu leiden. Sie hätte bei ihrem Kreuzestod nur das Glück empfunden: aus tiefstem Mitleid – aus höchster Liebe ihr Leben lassen zu dürfen.

Sie stand bei ihm, neigte sich über ihn, legte ihre Hand auf sein gedemütigtes Haupt, rief ihn leise bei Namen. Ihre Berührung war so lind, ihre Stimme so sanft, daß es ihn vom Boden aufhob, als würde er von einer Wunderkraft emporgezogen. Als er aufrecht stand, umfaßte sie ihn. Aber sie tat es in einer Weise, als umschlänge und hielte er sie; als wäre er der Starke, an den sie sich in dem Schiffbruche ihres Lebens anklammerte und der sie dem Strande zuführte.

Wie von ihm gestützt, leitete Maira ihn in das Haus und in ihre Kammer, die noch kein Mann betreten hatte.

Sie zündete kein Licht an. Nur der Sternenschein sollte leuchten, wenn er sein Gesicht zu ihr aufhob und zu ihr sprach. Der matte Himmelsglanz sollte sein entstelltes Antlitz verklären; denn nur in Verklärung wollte sie es sehen.

Er sprach jedoch nicht – er weinte. Es war ein Strom lautloser Tränen. Das Schluchzen erstickte ihn fast. Sivo Courtien weinen zu hören: so lautlos, fürchterlich weinen – jede Träne mußte als glühender Tropfen in seine Seele fallen. Sie fühlte in der ihren seine Tränen brennen, daß sie hätte aufschreien mögen. Aber sie tat keinen Laut. Still stand sie neben ihm, ohne ein Wort des Trostes. Nur die Hand preßte sie wieder auf seine fiebernde Stirn. Ihre Schwesterhand fühlend, weinte er sich aus, und es legte sich seine Qual, er wurde ruhiger. Dann versuchte er zu sprechen. Er wollte ihr sagen, wie alles gekommen war. Mit einer feierlichen Gebärde beschwor sie ihn, zu schweigen; und er verstummte sogleich. Er wollte ihr danken. Ihre Hand wollte er küssen. Da küßte sie ihn auf den Mund ...

Ihr Kuß hätte einen großen Sünder entsündigt. Denn die Lippen eines reinen Weibes können mehr weihen als Priesterhand. Heiligsprechen können Frauenlippen den schuldigen Mann. Wandelt doch in Gestalt einer liebenden Frau die Gottheit auf Erden.

 

Nicht mit Worten fragte sie ihn, was jetzt geschehen sollte – nur ihr Blick tat die angstvolle Frage. Er verstand die bange, stumme Sprache und gab zur Antwort: »Ich gehe fort.«

»Wohin?«

»Fort!«

»Soll ich mit dir gehen?«

»Ich muß allein gehen.«

»Ja, ja.«

Sie schwiegen.

Erst jetzt hob er sein Gesicht zu ihr auf. Die Sterne schienen zu hell! Sie mußte die Verwüstung dieses für sie schönsten und edelsten Männerangesichts sehen. Hätte sie doch weinen können! Aber ihre Augen blieben trocken. Nur ihre Seele weinte. Ihre Augen würden nie mehr weinen können.

Dann sprachen sie wieder, so leise, als teilten sie einander große Geheimnisse mit: »Wann willst du fort?«

»Gleich morgen.«

»Das ist gut ... Du wirst mir nicht schreiben?«

»Nein.«

»Auch das ist gut.«

Von neuem schwere Stille ... Während ihre Seele weinen hörte, dachte Courtien beständig das eine: ›Fort! Gleich morgen! ... Das ist gut! Ist am besten!‹

Wie im Traum vernahm er die flüsternde Frauenstimme wieder: »Und dein großes, herrliches Bild?«

»Ach ja. Mein großes, herrliches Bild –«

»Im Sommer kommst du zurück. Schon im Frühling. Dann malst du wieder an deinem Bilde; dann vollendest du's. Das wird schön!«

»Wunderschön ... Was hast du?«

Selbst in seinem Dämmerzustande merkte er, daß sie erschrak.

Sie hörte Schritte: der Hausgenosse kam zurück! ... Was war das? Er ging nicht ins Haus; blieb draußen, sprach etwas, rief einen Namen. Und jetzt! Ein lautes Auflachen –-

Der Lehrer wußte, daß Courtien hinaufgestiegen war, wußte ihn im Hause; bei Maira, in ihrer Kammer –

Sie fragte: »Ließest du deinen Mantel draußen?«

»Möglich.«

»Da du schon morgen fort willst – und du mußt gleich morgen fort – so darfst du nicht länger bleiben.«

»Nein.«

»Du mußt schlafen, ausruhen.«

»Das will ich. Danke. Gute Nacht.«

»Ich begleite dich.«

»Das wird schön sein. Mit dir zusammen den Weg hinunter, in der Nacht, bei der Winterherrlichkeit.«

»Versprich mir eines.«

»Alles.«

»Versprich mir, dich nicht um den Menschen zu kümmern.«

»Nicht um wen?«

»Um den Lehrer.«

»Um den –«

»Er steht vor dem Hause, weiß, daß du bei mir bist, wartet draußen, bis du hinauskommst. Er würde bis zum Morgen warten.«

»Du willst, daß ich –«

»Daß du ihn gar nicht sehen sollst. Willst du?«

»Dir zuliebe ... Das Wort darf ich nicht sagen. Nie mehr. Das ist vorbei. Das habe ich verscherzt und verloren. Für immer.«

»Komm, Lieber.«

»Wie gut du bist!«

»Nicht doch.«

»Ich sage dir nicht Lebewohl.«

»Nicht heute.«

»Niemals.«

»In Ewigkeit nicht.«

Sie verließen das Zimmer, traten zusammen aus dem Hause.

Vor dem Hause wartete Dionisio, den vergessenen Mantel im Arm. Courtien schritt hin, nahm ihm wortlos den Mantel vom Arm, begab sich zu Maira zurück. Dann setzten sie zusammen ihren Weg fort, den sie so oft miteinander gegangen waren: als Kind und später. Beiden war's, als gingen sie den Gang das letztemal.

Sie sprachen nicht. Kein Menschenlaut sollte das Schweigen der Nacht stören: Menschenlaut war gellender Mißton in der ewigen Harmonie der Natur, welcher der Sternenschein eine Verklärung gab, wie sie Maira auf dem Antlitz des Geliebten sehen wollte.

Sie kamen zum Gottesacker – verweilten nicht; sie kamen zum Kirchlein – gingen weiter; sie gelangten zu dem großen, prächtigen Hause, in dem die schöne Frau gewiß den sanften Schlaf der Gerechten schlief.

Courtien blieb stehen ... Da rührte Maira leise an seinen Arm und – sie gingen vorüber, gingen die Straße längs des Sees, kamen zum Crap da Chüern –

»Gian Vital! Treuer Mann! Wach auf! Öffne! ... Lieber Freund, höre!«

Und Gian Vital hörte: »Morgen geht er fort!«

Aber Gian Vital glaubte die Botschaft nicht.


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