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23

Und dann fuhren die Dämonen der Frühlingsstürme über Maloja: den »schlimmen« Ort menschlicher Wohnstätten, den Unheilsort unter dem Berge des Unheils. Aus den Lüften sausten sie herab; aus den Schlünden brausten sie herauf. Sie heulten gleich höllischen Heerscharen, rüttelten an den Gipfeln, rissen den Schnee von den Graten, peitschten durch die Schluchten den Staub der Lawinen, deren Donner das Getöse des Föhns verschlang. Sie schmolzen die starre Schneedecke von der Felsensohle, lösten den Eismantel der Wasserfälle, der Bäche, Rinnsale, Seen. Es seufzte und stöhnte, knirschte und krachte, barst und brach. So war's Tag und Nacht: Tag und Nacht eine Gespensterwelt, die den Bewohnern Grauen einflößte.

Sie blieben in ihren Wohnungen. Keine Posten gingen und kamen. Die wenigen Gäste im Grand Hotel mußten einige Tage mit Konserven vorliebnehmen. Es konnte keine Schule gehalten werden, und in der Kirche hätte der hochwürdige Herr Briccius Ladien nur für die Windsbraut Messe gelesen. Sie drang durch die geschlossene Tür ins Heiligtum, fuhr in wilder Wut um den Altar, um Kreuz und Ziborium, entblätterte die welken Totenkränze, ließ sich nicht durch die Weihe der Stätte beschwören: »Apage Satanas!«

Auch an diesem stürmischen Märznachmittag glich Maloja einer toten Stätte. Keine Seele ließ sich blicken ... Oder doch – da war ein Mensch: eine jugendlich schlanke, fast zierliche Männergestalt. Sie bog sich bei dem Aufruhr des Elements wie eine Binse, hielt sich jedoch aufrecht, immer wieder den kurzen schwarzen Mantel um sich schlagend und den dunklen weichen Filz tief in die Stirne drückend.

Der kühne Sturmwanderer stieg von der Paßhöhe hernieder und begab sich ins Hotel. Hier war die schöne Halle durchwärmt; hier waren Reichtum und Behagen, Luxus und Schönheit zu Hause. Und hier wurde Dionisio Fidora erwartet.

Als der junge Mann dem Orkan entronnen war, die Wärme des festlich heiteren Vestibüls ihn umfing, schwere, schimmernde Vorhänge die wilde Landschaft hinter ihm abschlossen und er seinen Fuß auf weiche Teppiche setzte – da geschah's, daß Dionisio Fidora in wenigen Augenblicken sein ganzes vergangenes Leben zurückerlebte, in einer Reihe von Visionen. Er sah sich selbst in seinem Elternhause, das den höhlenähnlichen Hütten von Cresta und Casacc' glich. Nur daß der Knabe die Armseligkeit weniger empfand, weil die Natur des Südens Feigenbäume darüber wachsen ließ, Reben darum webte und zum Überfluß die Pergola in verschwenderischer Fülle mit Rosen durchrankte; weil die von heiterem Leben erfüllte, von Klang und Sang durchtönte Straße die eigentliche Wohnstätte war und die Sonne des Südens funkelndes Gold über das arme Dorf der Spinner und Weber streute; weil die Menschen das Lachen der Lebensfreude hatten, Melodie und Lied – trotz aller Dürftigkeit Lebensfreude, Melodie und Lied!

Selbst Not und Hunger taten hier weniger weh. Immerhin waren es Not und Hunger! Und wenn eines Jahres die Seidenraupen nicht gediehen, ein großes Sterben unter die kostbaren Würmer kam, die niedrigen Löhne der Spinner und Weber noch tiefer herabgedrückt wurden ... oder wenn die Seidenpreise so niedrig waren, daß die Fabriken die Arbeit einstellten, wenn Streik ausbrach, so verwandelte sich das fröhliche Lachen in Murren, das Klagen in Drohen; so wurde aus den heiteren Melodien wüstes Geschrei der Empörung, aus den Liebesliedern gellende Verwünschung.

In den mit Reben und Rosen umkränzten Häusern gab es kein Weib, das seine Kinder mit der Muttermilch nicht zugleich auch mit Haß gesäugt hätte. Und es war Haß gegen jeden, der mehr zu essen hatte als verdorbene Polenta und graues Brot, besser zu trinken als den letzten Aufguß der Trauben. Haß gegen jeden war's, der ein gutes Gewand trug; also Haß gegen jeden Besitzenden. Am wildesten aber lohte die verderbliche Flamme – sie galt dem Volk der Spinner und Weber von Kind an als Lebenslicht – wider die Männer, die dem Volk zu spinnen und zu weben gaben, und wider deren Frauen, Söhne, Töchter. Unter den Reben und Rosen hauste eine Völkerschaft von Todfeinden der Gesellschaft, die der Stunde harrte, wo sie ihren Hunger nach dem, was sie »Vergeltung« nannten, stillen konnten in Verwüstung und Vernichtung, in Feuer und Blut.

Gierig lauschten Ohren und Seelen nach dem Machbar hinüber: galt doch Italien als das gelobte Land der Anarchie; das nahe Mailand als die goldene Stadt, wo des Volkes Wünsche sich erfüllen sollten, das Volk sich sättigen konnte – endlich, endlich einmal! Und alle warteten, lauschten, hofften: Alter und Jugend, Mann, Weib und Kind.

Auch Dionisio Fidora wurde von hassenden Eltern erzeugt und empfing das Erbe seines Stammes als einziges Gut. Von der Natur ausgestattet, um als junger Gott durch das Leben zu schreiten, von unersättlicher Genußsucht, lernte er bis zur Stunde nur das heiße Ersehnen – nur das grausame Entbehren kennen. Denn die Früchte, die er am Wege pflückte, kostete und hinwarf, gaben ihm kaum Erquickung, geschweige denn seinem Durst Stillung. Er träumte von ganz anderen Freuden, Wonnen, Erfüllungen. Nur wußte er zu diesem Ziel nicht den Weg.

Er wußte ihn jetzt und würde ihn schreiten: festen Fußes, unaufhaltsam! Auf Maloja ward ihm die Bahn gewiesen. Er übersah sie von der öden Höhe aus bis in die fernsten Fernen, die für seine Augen ein Schimmer umwob. Alles, was er Maira bei ihrer ersten nächtlichen Begegnung von sich erzählt hatte, war unwahr gewesen. Dieser junge Mensch konnte keinem anderen Menschen gegenüber wahrhaftig sein. Er konnte es nicht einmal gegen sich selbst. Wenigstens nicht früher; nicht vor seiner Malojazeit. Er kam herauf, weil es damals die einzige Aussicht war, die sich ihm eröffnete: der armselige Lehrer einer armseligen Alpengemeinde zu werden. Da sah er die Lehrerin von Maloja, von der er nur wußte, daß sie existierte, und da erging es ihm seltsam. Hier fand er ein erstes, großes Ziel; ein bewußtes, starkes Wollen regte sich in ihm, zugleich ein erstes Erproben seiner Kraft: um diese unzugängliche Seele, diesen unantastbaren Körper zu erobern! Je unerreichbarer ihm die Erfüllung erschien, um so unverrückbarer stand bei ihm sein Entschluß. Und des Mädchens bloße Nähe machte den Jüngling über sich selbst klar, machte ihn sich selbst gegenüber wahrhaftig: Dionisio Fidora erkannte in sich das Böse.

Die Entdeckung entsetzte ihn nicht, erfreute ihn fast. Er wollte schlecht sein in dieser gemeinen Welt, wo das Schlechte, Falsche, Niedrige – wo das Gemeine Herrscher war. Nur dieses! Erst auf Maloja kam ihm der Gedanke: ›In dir steckt ein Künstler!‹ Und der Künstler erwirbt Ruhm, Geld, Frauen. Vor allem Geld und Frauen! Frauen waren es, die ihn des Lebens Bedeutung erkennen ließen, ihm das Geheimnis des Daseins erschlossen: Geld und Frauengunst von allem Hohen das Höchste! Die vornehmen Damm im Grand Hotel, ihr Wohlgefallen an seinem schönen, äußeren Menschen, das sie ihm offenkundig zeigten; ihre Schmeicheleien, die sie schon jetzt dem zukünftigen Künstler zollten – all dieses baute ihm die erste Stufe der Leiter, darauf er des Lebens Höhen erklimmen wollte – ein Gipfelmensch auch er!

Jetzt aber durchschritt er im Grand Hotel die prächtige Vorhalle, stieg die mit Brüsseler Teppichen belegte Treppe hinan, die Verkörperung anmutiger Jugend und sonniger Heiterkeit ...

Im ersten Stockwerk wartete jemand auf ihn. Schon seit einer Stunde stand das Mädchen bei der Tür, daran Dionisio vorüber mußte, um in den Salon der Gräfin Oberndorff zu gelangen, die wieder auf Maloja war. Die schmächtige Gestalt bebte in fiebernder Erwartung, das Gesicht war fahl vor Erregung, die Augen – nur an ihren Augen, an dem Raubtierblick dieser funkelnden, flammenden Augen wäre die Nerina zu erkennen gewesen, das halbwilde Geschöpf, das ein treuer Mann liebhatte, um seine Liebe Qualen erduldend. Ein feines Zöfchen war Gian Vitals braune Liebste geworden, mit wohlgepflegten, zarten Händen und einer Pariser Frisur, die ihr Koboldsgesicht grisettenhaft hübsch machte. Als der Erwartete endlich kam, schoß sie auf ihn zu wie ein Schlänglein. Auch ihr Flüstern hatte einen zischenden Laut: »Gestern abend ließest du mich umsonst warten!«

»Ja.«

»Du wirst heute kommen?«

»Nein.«

»Elender!«

»Wenn man dich sieht und hört, wird es deine Herrin erfahren. Sie wird dich fortjagen.«

»Die!«

Selbst auf Dionisio machte es Eindruck, mit welchem Haß das leidenschaftliche Geschöpf das kleine Wort hervorstieß. Dazu ihre Miene, ihr Blick! Er fand jedoch sofort seinen Gleichmut wieder. Mit fast heiterer Gelassenheit warnte er: »Du weißt, sie würde dich fortjagen wie einen Hund in den Sturm hinaus! Heute noch.«

»Sie soll nur. O sie soll –!«

»Sie wird.«

»Dann käm' ich zu dir.«

»Kämst du?«

»Und bliebe bei dir. Du würdest mich dann nicht wieder los. Nie mehr.«

»Meinst du?«

»Nie mehr!«

»Ich würde dich gar nicht erst zu mir hineinlassen.«

»Du!«

»Fortjagen würd' ich dich! In den Sturm hinaus!«

»Das würdest du?«

»Wie einen Hund.«

Es war, als suchte das Mädchen an seinem Leibe nach einer Waffe: einem Dolch oder einer Pistole, um ihren Verführer niederzumachen – »wie einen Hund«.

»Besinne dich, du! Oder –«

»Oder was?«

»Wenn du wieder Vernunft annimmst, so – Nerina! Wilde Nerina! Kleine, liebe Nerina!«

Sie erbebte bei seinen Worten; nicht anders, als ob er sie umfaßt und geküßt hätte. Sie stammelte: »O du, du, du!«

»Siehst du!«

»Du willst wieder gut zu mir sein? Willst mich wieder liebhaben? Eine kleine Weile noch?«

»Ich will. Solange meine Wildkatze ein Täublein ist.«

Sie stieß einen Laut des Entzückens aus. Er warnte: »Nur so lange ... Bist du jetzt verständig?«

»Alles, was du willst! Alles! Madonna, Gottesmutter! ... Wenn du nur wieder gut zu mir bist; nur wieder zu mir kommst, mich wieder in deine Arme nimmst ... und wäre es nur noch ein einziges Mal! Mein Herr bist du, mein Gebieter! Du kannst mich schlagen, mißhandeln, töten. Nur nicht mich fortjagen. Denn das ist schlimmer als Tod ... Du jagst mich nicht fort. Niemals!«

»Nein, nein. Sei nur ruhig.«

»Ganz ruhig ... Gehst du zu deiner Gräfin?«

»Schwatz keinen Unsinn!«

»Sie ist verliebt in dich. Du sollst der zweite sein. Bevor das geschieht –«

»Fängst du schon wieder an?«

»Ich hasse sie, hasse sie, hasse sie!«

»Wenn du dich noch einmal wie ein Tier gebärdest, so – behandle ich dich wie ein Tier.«

»Sie wird dich auch verderben, wie sie den anderen verdarb. Um dich war's freilich nicht schad'. Dir geschäh's recht. Freuen würd' ich mich. Lachen würd' ich, tanzen, singen. Lieben würd' ich sie darum, wenn sie auch dich umbrächte. Und nach dir kommt ein dritter. Mit dem ersten fing's an. Sie ist auch nicht besser als andere. Die und besser? Tausendmal schändlicher ist sie! Und, dabei eine vornehme Dame. Sie sei verwünscht!«

»Jetzt ist's genug. Hörst du?«

Er packte die Rasende beim Arm, sah ihr steif ins Gesicht. Sein Griff war eisern, sein Blick der eines Bändigers wilder Tiere.

Sie begann zu zittern, als packte sie ein Krampf. Plötzlich schluchzte sie auf und fiel vor ihm hin. Er riß sie empor, führte sie in ihr Zimmer zurück, ließ sie allein.

Einen Augenblick stand er auf dem Gange und atmete tief auf. Er sah um sich. Der Korridor war leer. Also hatte niemand gesehen und gehört. Ihm wär's schließlich gleichgültig gewesen. Immerhin war es so besser. Wahnsinnige konnten gefährlich werden, und –

Eine kleine Weile mußte er es noch hinausschieben ...

Jetzt begab er sich nach dem Salon der Gräfin. Er klopfte an, hörte das »Herein« der schönen Frau und folgte der Aufforderung mit einem Gesicht wie ein glanzvoller Frühlingstag.

Der Volksschullehrer Dionisio Fidora machte mit der Gräfin Oberndorff italienische Konversation. Auch die »Promessi sposi« lasen sie zusammen.

Wenigstens war es für die Dame eine Zerstreuung während ihres neuen Aufenthalts auf Maloja, der bei aller Öde von neuem einen eigentümlichen Reiz auf sie ausübte: die Erwartung eines wundersamen, eines ungeheuerlichen Ereignisses. Denn wundersam, geradezu ungeheuerlich mußte es sein, wenn Sivo Courtien zu ihr zurückkehrte.

Und das würde er!


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