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11

Sommer!

Selbst auf der Felseninsel im Eismeer sproß jetzt üppig das Gras und blühten bunte Sommerblumen. Es waren die in der Tiefe längst verwelkten, wie Saphire strahlenden Genzianen und die zartgefiederten, rosigen Federnelken, die flammenden Feuerlilien und die orangegelbe, wohltätige Arnika. Purpurschwarze, betäubend duftende Brünellen umhüllten den Fels mit ihrer Farbe, und den Gletscher säumte ein breites Band von lila- und rotblühenden, zarten, winzigen Moosen. Es war, als würden die rauhen Klippen von leuchtenden Geweben umsponnen.

Diesen wie durch einen holden Zauber aus dem Eisgefilde emporgehobenen Garten bevölkerten die Tiere der Alpenwildnis ohne jede Scheu vor ihren mörderischen, mit der Büchse bewaffneten Feinden, des Schutzes bewußt, den sie an dieser Stätte genossen. Furchtlos, aus großen Augen, schauten sie auf das Menschenpaar, das in diesem alpinen Eden wie in einem Traumland lebte, ohne zu denken, daß es eine Erde und eine Wirklichkeit gab. Mittags kamen sie von der Fornohütte heraufgestiegen und abends geleitete der Mann die schöne Frau hinunter, um sie sich am nächsten Morgen wieder zu holen; denn sie wollte jeden Tag oben bei ihm sein und durfte den Weg nicht mehr ohne Führer – nicht ohne diesen Führer! – machen. Gelangten die beiden an den Ort, wo die Frau in Todesnöten geschwebt hatte und durch das Wunder gerettet worden war, so pflegten sie daselbst kurze Zeit zu verweilen und in ergriffenem Schweigen einander in die Augen zu blicken.

Die Stelle, wohin sich die Bergsteigerin an jenem Tage bei dem plötzlich einfallenden Nebel verirrt hatte, erwies sich als eine der gefahrvollsten des ganzen Gletschergebietes. Einem Wunder gleich erschien es schon, daß sie überhaupt dahingelangt war: auf einen scharfen Kamm der Eiswoge, die zu drei Seiten jäh abstürzte. Die Gerettete konnte von jenen Stunden des Grauens nicht sprechen. Genug, daß sie lebte; daß sich ihr, angesichts der Vernichtung, des Lebens ganze Herrlichkeit offenbart hatte. Der Retter dagegen erzählte – und mußte auf ihre Bitte immer wieder erzählen – »wie alles so wunderbar gekommen sei«.

»Ich freute mich des prachtvollen Morgens. Auf einmal sah ich den Nebelstreif und wußte sogleich: ›Das wird heute schlimm – obgleich es nur erst ein Streif ist. Wer sich jetzt auf einer Hochtour befindet und nicht einen Führer hat, dem geht's heute schlecht, den holt heute das Gletscherweib.‹«

Josette schrak zusammen: »Wer?«

»Die Unholdin vom Monte della Disgrazia. In der Volkssage heißt's: wenn sich an dem Berg plötzlich ein Nebelstreif zeige, so winke das dämonische Weib mit seinem Schleier, so sei das ein Zeichen: ›Ich komme!‹«

»Und sie kam an jenem Morgen?«

»Du kamst!«

»Das Unheilsweib ... Wie ward's weiter?«

»Plötzlich war aus dem Streif ein Gewölk geworden, aus dem Schleier der Teufelin ihr Gewand, in dessen, schweren, schwarzen Faltenwurf sie das Opfer verstrickte. Ich wollte zu arbeiten anfangen, sah jedoch auf einmal nichts mehr: am hellen Tage brach die Nacht an ... Da ich nicht weitermalen konnte, trat ich heraus und beobachtete die Nebel. Sie wurden dicht und dichter, senkten sich tief und tiefer. Wer das hätte malen können!«

»Du kannst es malen!«

»Und ich dachte während des Nebelziehens an dich. Aber ich dachte immer an dich! An dich und an meine Arbeit. Ich konnte dich von meiner Arbeit, also von meinem Leben, nicht mehr trennen; und meine Arbeit nicht mehr von dir, also nicht mehr von meinem Leben.«

»Geliebter!«

»Ich will weiter erzählen ... An jenem Nebelmorgen, an dem es nicht wieder Tag werden wollte, glaubte ich dich in deiner Hütte gesichert und geborgen – allen guten Geistern sei gedankt! Ich dankte, weil ich mir einbildete – schilt mich einen Narren! –, du kämst eines schönen Tages zu mir heraufgestiegen. Zu mir heraufsteigen müßtest du! Denn ich wäre nicht zu dir hinuntergekommen; nie, niemals! ... Du lächelst und denkst: Er wäre gekommen! Und das bald! ... Nie, niemals! Du kennst mich nicht; weißt nicht, was für einen Liebsten du hast: mit einem Kopf, starr wie Engadiner Granit. Freilich, mein Herz – aus meinem Herzen hast du ein Ding gemacht, das du in der Hand hältst. Gekommen wäre ich trotzdem nicht. Eher wäre ich umgekommen an Seele und Leib: umgekommen vor Sehnsucht. Es half dir nichts: du mußtest den Weg gehen: über einem Grabe zu meinem Herzen.«

Ihm tief in die Augen sehend, sagte Josette: »Du gingst mir entgegen. Erzähle weiter, wie's kam.«

»Es ward Mittag und blieb Nacht. Arbeiten konnte ich nicht. In die Nebel hineingehen auch nicht. So wartete ich denn nicht auf dich. Ich wußte: ›Heute kommt sie nicht!‹ Auf den Wind wartete ich; auf den Sturm, der in den Nebel fahren, ihn peitschen, auseinanderreißen und verjagen würde. Das wollte ich sehen, studieren. Ich kann's nicht oft genug sehen, nicht genau genug studieren, um es darstellen zu können. Du weißt ja!«

»Ich weiß. Weiter!«

»Und ich wartete ... Da erging mir's wunderlich. Plötzlich faßte mich eine Bangigkeit, als ob sich der schwarze, schwere Nebel auf meine Seele legte – als ob das Gletscherweib sich über mich neigte. Ich konnte nicht atmen. Von Minute zu Minute wuchs meine Angst. Mir war's, als befände sich mein Liebstes und Bestes in Todesgefahr; in Todesgefahr mein Leben. Und mein Leben warst du.«

Er schwieg, um sie zu küssen. Sie aber drängte ihn, weiter zu erzählen: »Wie kam's dann?«

»Plötzlich hörte ich dich rufen. Durch den Nebel vernahm ich deine Stimme so deutlich, als stündest du neben mir. Du riefst meinen Namen. Immer wieder meinen Namen.«

»Ich rief: Sivo, Sivo, Sivo! Aber hören konntest du mich nicht. Unmöglich! Ich war an jenem gräßlichen Ort viel zu weit von dir entfernt.«

»Unmöglich konnte ich dich hören. Es war heller Wahnsinn! Und doch hörte ich dich und mußte dir antworten: ›Ich komme!‹ – mußte dir entgegeneilen, hinein in die Nebelnacht.«

Sie rief: »Hinein in den Tod!«

»Ich ging und ging. Vielmehr: ich tastete mich wie ein Blinder vorwärts: Schritt für Schritt.«

»Woran dachtest du dabei?«

»An mein Bild: daß ich's nun doch nicht vollenden würde.«

»Und gingst dennoch vorwärts? Schritt für Schritt! Weil du in deinem Herzen mich rufen hörtest, gingst du weiter? Denn du konntest mich nur in deinem Herzen rufen hören.«

»Und du riefst: Sivo, Sivo, Sivo! Ich kam fast von Sinnen.«

»Aus Liebe zu mir, aus Sehnsucht nach mir, aus Angst um mich.«

»Ich mußte kommen!«

Da jubelte die Frau: »Und du kamst!«

»Plötzlich hörte ich deine Stimme dicht neben mir. Heller Wahnsinn war's.«

»Das Wunder war's!«

»Du lebst!«

»Ich lebe, und du liebst mich ... Sag mir's! Du mußt es mir immer wieder sagen.«

»Ich liebe dich!«

»Und du liebtest mich schon damals in Rom; liebtest mich gleich im ersten Augenblick? ... Sag's, sag's!«

»Gleich im ersten Augenblick liebte ich dich.«

»Hieltest aber deine Liebe für Haß ... Ich will's von dir hören. Immer wieder und wieder.«

»Geliebte Törin: ich hielt meine sinnlose Liebe für sinnlosen Haß.«

»Du Kind, du Knabe, du – Ach du mein Geliebter, mein Heiland und Gott ... Schweige! Du hast mich geschaffen. Ich bin dein Geschöpf! Gott und Geschöpf gehören zusammen. Das weißt du doch?«

»Ich gehöre dir. Nichts kann uns trennen; nichts dem Geschöpf seinen Gott entreißen!«

Und sie küßte ihn, als wäre sie das Gletscherweib der Malojasage und hätte sich in all ihrer triumphierenden Schönheit aus einer leuchtenden Woge des Eismeers erhoben, um dem Mann, dessen sie harrte, mit ihrem wehenden Nebelschleier zu winken, ihn in ihr schwarzes Wolkengewand zu verstricken und von seinen Lippen sein Herzblut zu trinken.

 

Aus großen Augen schauten die Tiere der Wildnis auf das Menschenpaar, das in dem Alpgarten der Menschen vergaß und keines Schicksals gedachte: war es sich doch selbst zum Schicksal geworden.


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