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12

Das neue Leben überwältigte Courtien.

Der Mann, für den es die Liebe zum Weibe, dieses Allermenschlichste des Mannes, nicht geben sollte, ging unter in der Leidenschaft für das Weib, das nicht von seiner Art war: nicht Seele von seiner Seele. Wie die Wogen einer Sturmflut schlug es über ihm zusammen, daß auch ihn nur ein Wunder retten konnte.

Aber er wußte es nicht, wartete also nicht darauf, hielt den Untergang, dem seine rasende Leidenschaft ihn zutrieb, für einen Aufstieg zum Gipfel des Lebens.

Mehr als je wollte er arbeiten, wie nie zuvor; und nie zuvor konnte er so wenig und so schlecht arbeiten. Immerhin arbeitete er. Und zwar arbeitete er, ob sie bei ihm oder nicht bei ihm war. In ihrer Gegenwart ward ihm sein höchstes Glück jedoch vollends zur Qual. Denn dann konnte er nicht seine Leinwand ansehen, sondern mußte auf dem von Frauenliebe völlig unbeschriebenen Blatte seiner Künstlerseele ihr Bildnis malen: immerfort ihr Bildnis mit allen Farben seiner Phantasie, mit seiner ganzen Kunst.

Hatte sie, von ihm begleitet, das Atelierhaus verlassen und kehrte er allein zurück, so empfand er ihre Abwesenheit als das Aufhören aller Dinge, seine sonst so geliebte Einsamkeit als etwas Grauenvolles, davon er nicht begriff, wie er es ertragen konnte. In solchem Gemütszustand trat er dann vor seine Leinwand ...

Hatte Courtien schon früher in seiner Kunst das Höchste erreichen wollen, so forderte er jetzt von sich noch eine Steigerung dieses äußersten Anspruchs; also noch mehr das Unmögliche. Sein Werk sollte seiner Liebe ebenbürtig sein, und seine Liebe erschien ihm als Gottheit.

Zur Arbeit sich zwingend, zählte er, der sich in früheren Tagen zum Ausruhen hatte zwingen müssen, die Minuten bis zu dem Wiedersehen mit der geliebten Frau: ›Jetzt ist's noch so lange bis zum Wiedersehen!... Und jetzt sind wieder so viele Minuten verstrichen –.‹ Er hätte die Zeit, die ihn von ihr trennte, jagen – die Zeit, die sie bei ihm zubrachte, in Fesseln schlagen mögen. Früher hatte er bisweilen an das Gletscherweib vom Monte della Disgrazia denken müssen; nun er dieser Frau verfallen war, schien ihm die uralte Sage der Malojaleute aus dem Gedächtnis vollkommen entschwunden zu sein.

Eines Tages besann er sich auf das Bild, das er von jener volkstümlichen Gestalt geschaffen hatte, und erinnerte sich des ihm dafür gemachten hohen Angebots. Er raffte sich auf, schrieb an den Züricher Kunsthändler einige hastige Zeilen, ließ das Schreiben durch Vital zur Post bringen und gab dem Boten Auftrag, das Gemälde aus seinem Hause zu holen, zu verpacken und dem Briefe nachzusenden. Als das geschehen war, kam ihm der Gedanke: ›Das wird Maira freuen!... Jetzt kann ich meine Schulden bezahlen.‹

Maira! Seine gute Freundin, seine getreue Kameradin ... Was sie wohl sagen würde? Wozu sagen? Maira, die Starke, die Gute und Reine – zu seiner Leidenschaft für die fremde, schöne Frau ... »Laßt die Toten die Toten begraben!« Diese Maira war tot für ihn; und die tote Maira ... Wie das klang! Hatte er nicht einmal, lang, lang war's her – auf einem Bilde ... Richtig! Die tote Maira à Mara und der tote Sivo Courtien ... Nicht daran denken! An das eine nur denken, an das einzige: an das Leben der Geliebten, Herrlichen, Wunderbaren!

Wie es wohl wäre, wenn sie nicht lebte? ... Es würde eine Welt ohne Himmel und Himmlisches sein. Doch sie war auf der Welt!

Es gab für ihn einen großen Augenblick, als er sie das erstemal vor sein Gemälde führte. Zum erstenmal schlug diesem Mann angstvoll das Herz: seinem Lebensglück zeigte er sein Lebenswerk!

Was würde sie sagen? Würde sie empfinden, was ihm der Augenblick bedeutete? Würde sie sein Werk empfinden: die Nebel steigen, das Gewitter aufziehen sehen – geradezu sehen! Geradezu sehen, wie der einsame Mann in dem Grausen dieser Welt seinem Untergang entgegenschritt, sobald die Nebel ihn einhüllten? Denn kein Wunder konnte ihn retten! Würde die geliebte Frau, vor seinem Gemälde stehend, seine »Alpentragödie« erleben?

Sein Atem ging schwer; er wagte nicht, aufzublicken, wagte nicht, sie anzusehen. Mit angstvoll pochendem Herzen und angehaltenem Atem wartete er.

Stumm stand sie vor der Riesenleinwand ... So mußte es sein! Sie konnte nichts sagen, konnte nur empfinden; nur in tiefem Schweigen, tiefster Ergriffenheit sein Werk fühlen.

Er erinnerte sich des Eindrucks, den damals in Rom sein »Gletscherweib« auf sie gemacht hatte, jenes im Vergleich zu diesem so ärmliche Bild. Heute war's eine andere Stunde als damals. Und es war ein anderes Werk!

Noch immer schwieg sie, ganz Schauen, Verstehen, Empfinden.

Jetzt sah er sie an.

Wie schön sie war mit diesem ihr ganzes Wesen vertiefenden – ihr ganzes Wesen erhebenden Ausdruck in Miene und Blick. Konnte das Weib so schön sein?

Sivo Courtien erlebte in diesem Augenblick, was Faust erlebt hatte. Und dieses unbegreiflich schöne Weib war sein, würde sein bleiben; unzertrennlich von ihm, ein Teil seines Wesens, ein Stück Ewigkeit von ihm. Denn solche Liebe war der Ewigkeiten voll.

Jetzt redete sie!

Die geliebte Stimme! Es durchzuckte ihn bei dem leisen, weichen Wohllaut. Sie sagte: »Das ist gewiß sehr schön, sehr groß. Zugleich sehr seltsam; aber –«

»Aber?«

Er stieß das kleine Wort hervor, als würgte ihn eine unsichtbare Hand. Was würde sie weiter sagen?

»Aber – ich bin eifersüchtig darauf.«

Das war es! Nichts anderes als das! Eifersüchtige Liebe war's! Er atmete auf, als sänke die unsichtbare mörderische Hand von ihm ab, als könnte er weiter leben – wieder leben! Sein Lebensglück war eifersüchtig auf sein Lebenswerk ... ›Maira würde es nicht sein‹ – mußte er plötzlich denken; ›Maira würde ...‹ Er wollte ja doch die Toten die Toten begraben lassen.

»Liebste!«

Sie sah ihn an. Mit ihrem reizendsten, ihrem berückendsten Lächeln stand sie vor seinem Gemälde. Wie ein Kind konnte sie bisweilen aussehen. In solchen Augenblicken war sie für ihn am fremdartigsten, rätselhaftesten, wundersamsten; in solchen Augenblicken erkannte er in ihr das Mystische, das in jedem Weibe ist: Sphinx und Sirene zugleich, Dämon und Göttin zugleich. Gerade dann, wenn er ihre Doppelnatur erkannte, übte sie die größte Gewalt über ihn aus.

Auch er lächelte jetzt, sagte: »Du bist eifersüchtig auf meine Kunst?«

»Auf deine größte Liebe, die ich sein muß, nur ich! Ich wäre ja doch keine Frau mit allen Schwächen und Eitelkeiten der Frau, würde ich auf deine erste Liebe nicht eifersüchtig sein. Wenigstens für eine kleine Weile will ich keine andere Gottheit neben mir haben.«

Er schrie auf: »Eine kleine Weile, sagst du, wo wir uns für Zeit und Ewigkeit angehören!«

Sie lächelte noch immer, während er totenbleich geworden war. Mit ihrem Kinderlächeln bedeutete sie dem Erblaßten: »Vor deinem Werke erkenne ich heute, daß die Zeit kommen wird, wo du wieder ganz deiner Kunst angehören mußt; wo du, um das zu können, mich von dir stoßen mußt, damit du ganz deiner Kunst angehörst – wie es war, bevor ich auf dem schmalen Wege am Malojasee in dein Leben trat – zum zweitenmal! Heute und hier, vor deinem Werke, verstehe ich das plötzlich ... Was siehst du mich so an?«

»Weil ich dich plötzlich nicht mehr verstehe.«

»Du verstehst nicht meine Entsagung, also nicht meine Liebe? Entsagung ist die höchste Liebe.«

»Wem willst du entsagen?«

»Dem Glück, immer dein alles zu sein; immer deine ganze Welt. Jetzt bin ich's noch; jetzt will ich's noch sein. Darum meine Eifersucht.«

Mechanisch sprach Courtien nach: »Jetzt willst du's noch sein; und ich dachte schon ... Ein toller Gedanke! Denn das Undenkbare, das Unmögliche ist Tollheit.«

Mit der Geliebten vor seinem Werke seinen »größten Augenblick« erlebend, fiel er vor ihr nieder, umfing sie, drückte seinen Kopf, darin der tolle Gedanke aufgestiegen war, gegen ihren Leib und schluchzte auf. Sie stand eine Weile regungslos. Jetzt auch sie mit erstorbenem Lächeln, auch sie so blaß wie er. Dann beugte sie sich zu ihm herab, legte wie beschwichtigend, wie beschwörend ihre beiden Hände auf sein Haupt und flüsterte: »Du sollst mich ja nicht fortschicken. Jetzt noch nicht! Auch nicht schon bald. Aber doch einmal. Und dann nicht darum mich fortschicken, weil du mich nicht mehr liebst, sondern weil du mich zu sehr liebst ... Sei doch nur still; sieh mich doch nur an! Sivo Courtien liegt einer Frau zu Füßen; Sivo Courtien weint. Denke doch: Sivo Courtien!«

Als ob der Schrecken über den knienden, das Entsetzen über den weinenden Sivo Courtien ihn gewaltsam emporrisse, sprang er auf.

 

Wie zwischen Himmel und Erde lebten sie seit jener Stunde von neuem auf dem Blüteneiland im Eismeer unter den Tieren der Alpenwildnis, die mehr und mehr zu ihren Gefährten wurden. Es war ein Sommer, wie ihn Courtien in seinem geliebten Engadin noch nicht erlebt hatte: ein Tag so wolkenlos und strahlend wie der andere. Keine Nebel, kein Gewitter, keine Todesgefahr, keine – »Alpentragödie«.

Wenn Courtien mit der Geliebten in der Fornohütte weilte, war er weniger weltvergessen: er verspürte dann Erdennähe. Das auch in dieser Höhe mit dem Luxus des gräflichen Entdeckers von Maloja eingerichtete Alpenhaus machte ihn unbehaglich; und des Lebens Verfeinerung in dieser Natur erschien ihm als Unnatur.

Eines Tages machte Josette ihm den Vorschlag, die Fornohütte mit ihr zu bewohnen. Er erwiderte darauf kein Wort und brach plötzlich auf mit einem fremden Ausdruck in Miene und Blick.

Durch die Gletscherwogen stieg er zu seinem hohen Inselhause hinauf, ohne stehenzubleiben, ohne zurückzuschauen. Er wollte seine Gedanken zwingen, mit ihm zu schreiten und nicht bei der in einer heißen Aufwallung verlassenen Geliebten zu verweilen, mußte jedoch erkennen, daß er über seine Gedanken die Herrschaft verloren hatte. Er selbst konnte sich von der geliebten Frau losreißen; seine Gedanken ließ er jedoch bei ihr zurück. Heute grollten sie ihr, klagten sie die »Weltdame« bei dem Künstler aus Engadiner Bauernstamm an; aber nur, um sie in einem Atem wegen seines Grolls und seiner Anklage um Verzeihung zu bitten und ihr heiße Liebesworte zuzuraunen. Trotzdem kehrte er nicht um, wenigstens seinen Füßen gebietend.

Da gelangte er an die Stätte ihrer Todesnot und mußte sich vorstellen, wie es sein würde, wenn er in jener Stunde ihren Hilfeschrei nicht in seiner Seele vernommen, sie also nicht gerettet hätte – wenn dieser Ort ihr Grab geworden wäre. Er stieß einen Schrei aus, als sähe er sie vor seinen Augen in die grausige Gruft versinken.

Aber sie lebte ... Er mußte sich ihres Lebens versichern, mußte ihr gerettetes Leben fühlen, es in seinen Armen halten, die sie damals wieder zum Licht der Sonne emporgetragen hatten.

Jetzt kehrte er um. Er eilte zurück, als wäre das wilde Eismeer eine Blumenflur und er ein aus weiter Ferne nach Hause hastender Knabe.

Sie empfing ihn, als hätte sie sein Fortgehen gar nicht bemerkt. Aber sie war weich und voller Hingebung. Seine fiebernde Erregung milderte sich in ihrer Gegenwart zur tiefen Bewegung. Er hätte beide Hände aufheben und beten mögen; beten zu jenem göttlichen Geist, der seinen Menschen ihr Göttlichstes gab – die Liebe vom Manne zum Weib, vom Weib zum Mann. Wie hatte er nur so lange ohne dieses Göttlichste bestehen können?

Seit jenem Ereignis war Courtien häufiger und häufiger bei der Geliebten unten in dem behaglichen »Teehause« des Malojahotels, kam sie seltener und seltener zu ihm hinaufgestiegen, so daß die schöne Frau für die Tiere der Alpenwildnis, die dort oben ihr Asyl hatten, allmählich zu einer fremden Gestalt wurde.

Und seltener, immer seltener kam Sivo Courtien zu seiner Arbeit. Zuerst litt er unter seiner Untätigkeit, so daß es ihm physischen Schmerz bereitete; zuletzt merkte er es kaum noch. Zuletzt beherrschte ihn nur noch ein Empfinden, nur noch eine Sehnsucht: bei ihr zu sein, immer und immer bei ihr!

Eine große Leidenschaft soll den Menschen verfeinern, veredeln, verklären und den Staubgeborenen zu Bergeshöhen erheben. Sie soll dem durch Dunkelheit Irrenden einen Funken himmlischen Sonnenscheins ins bange Gemüt schleudern; soll die sehnsüchtige Seele des Sterblichen mit einem Hauche der Gottheit berühren und sie Ewiges empfinden lassen. Der Liebende soll einherschreiten wie von einem unsichtbaren Purpur umhüllt, wie mit einer unsichtbaren Rosenkrone bekränzt; denn er ist ein König des Lebens.

Wenn eine große Leidenschaft schon den Menschen der Tiefe erhöht und mit neuen Daseinskräften durchdringt – wie mußte sie dann erst auf einen Mann wirken, der in seinem Leben und in seiner Kunst auf einem Gipfel stand: über den Wolken, in Sonnennähe! Und dieser Mann besaß ein Empfinden von herber, schier asketischer Keuschheit; selbst in seinen Träumen unberührt von Wunsch und Begierde.

Und jetzt – was war durch seine Leidenschaft aus ihm geworden?

Niemals zuvor gedachte Gedanken, niemals zuvor gehegte Wünsche erregten ihn bis zum Fieber. Ihm, dem Künstler, für den bislang die Schönheit der Erde das Höchste und Heiligste war, galt jetzt als Höchstes – und auch als Heiligstes – die Schönheit des Weibes. Und er sah sie nicht etwa mit der reinen Wonne des Bildners, sondern mit dem ungestillten Verlangen des Liebenden.

Die ganze Vergangenheit lebte in ihm auf. Nicht nur seine eigene, sondern auch die der geliebten Frau. In dieser Vergangenheit war er nicht der erste, nicht der einzige! Der erste und einzige zwar, den sie liebte; aber nicht der erste und einzige, dem sie angehört hatte. Die Vorstellung, daß sie eines anderen Eigentum gewesen, bemächtigte sich seiner Phantasie und schuf ihm Qualen. Immer wieder begehrte er aus ihrem Munde zu hören, daß sie nur ihn geliebt hätte, nur ihn liebte, nur ihn lieben würde. Immer wieder mußte sie ihm diese Versicherung in allen Tönen leidenschaftlicher Zärtlichkeit geben. Sie fügte sich seinem Verlangen und empfand dabei immer wieder das Bewußtsein ihres Sieges, das jauchzende Triumphgefühl: ›Also auch dieser Mann! Selbst dieser Mann!‹

Und zu dieser Tragödie von Mann und Weib die Szenerie einer Welt von Fels und Eis!

Ihre Leidenschaft war ihr Schicksal gewesen – war zu ihrem Unglück geworden, schon lange, bevor sie sich dessen bewußt wurden.

Auf weichen Sohlen war es leise, heimlich herbeigeschlichen. Und jetzt stand es hinter, dicht hinter den beiden, lautlos seine schwarzen Fittiche über sie breitend, zum Zeichen: Eure Seelen sind mir verfallen!


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