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Spanische Legende

In des heiligen Kreuzes Kloster
Täglich um die Zeit des Marktes
Ärmlich, aber rein gekleidet,
Kam ein Mädchen, kniete nieder
Vor der Muttergottes Altar,
Und als Opfer gleichsam legte
Vor dem Bilde der Madonna
Sie zwei große Blätter Kraut,
Ihr Gebet voll Andacht sprechend.

Sahen sie die Klosterbrüder,
Und sie hielten an das Mädchen.
Freundlich fragte sie der Prior:
»Liebes Kind, was schaffst du hier?
Legst zwei große Blätter Kraut
Nieder vor das heilige Bildnis?
Kraut ... scheint nicht das rechte Opfer
Für das Bild der Mutter Gottes.
Kraut ist zu gewöhnlich. Wenn es
Rosen, Lilien oder sonst ein
Blümchen wäre, liebes Mädchen,
Aber Kraut – das bring nicht wieder!«

Als das Mädchen solches hörte,
Ward sie keineswegs verlegen,
Auf den Prior ihre Augen,
Ihre schönen Augen heftend,
Sprach sie: »Ich bin arm und hab' nichts,
Woher nähme ich denn Rosen?
Ein Gemüsegärtlein halten
Wir beim Haus nur, zum Verkaufe
Bring das Kraut ich auf den Markt,
Und da kann ich hin und wieder
Nehmen mir ein Blatt – doch Rosen
Hab' ich nicht, und auch nicht Veilchen.
Was ich hab', das geb' ich gerne,
Geb's aus ganzem, vollem Herzen.«

Was sie sprach, gefiel dem Prior
Und er streichelte des Mädchens
Wangen, nahm sie auf ins Kloster,
Und die Brüder lehrten schreiben
Sie und lesen, Lieder singen,
Auch Gebete lernte sie
Zu der Muttergottes Ehre.

Doch nicht lang, da sah der Prior,
Und die Brüder auch bemerkten's,
Daß das liebe, gute Mädchen
Blässer ward von Tag zu Tage,
Immer trauriger und stiller.
Und der Prior sagte milde:

»Alles hast du jetzt in Fülle,
lernst auch fleißig viele Dinge,
Weißt Gebete schön zu sprechen,
Weißt auch Lieder schön zu singen.
Zu der Gottesmutter Ehre
Kannst du aus dem Garten täglich
Pflücken dir die frischen Rosen –
Doch du sinnst in dich hinein,
Immer blässer wird dein Antlitz,
Sag, mein Kind, mir, was betrübt dich?«

»Mich betrübt,« erwidert drauf sie,
Und in ihren reinen Augen
Schimmerten dabei die Tränen,
»Mich betrübt, daß seit der Zeit,
Da ich nicht mehr so wie früher
Vor der Gottesmutter Altar
Lege das bescheidne Krautblatt,
Nicht ein einzigmal die Jungfrau
So auf mich herabgelächelt,
Wie sie früher es getan.«


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