Ernst Wichert
Der Bürgermeister von Thorn
Ernst Wichert

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Zweites Kapitel

Des Prälaten doppelter Auftrag

Im unteren Kreuzgang, der den viereckigen Hof umzog, warteten auf den Bischof Franz von Ermland zwei Priesterbrüder. Sie geleiteten ihn durch den an der Nordspitze des mächtigen Vierecks schräg durchgeführten Haupteingang hinaus auf den Parchan. Gegenüber lag ein rundes Treppentürmchen neben der Brücke, die über den trockenen Graben nach dem mittleren Hause, der eigentlichen Hochmeisterwohnung, führte.

Bischof Franz war ein vornehmer Gast. Es waren ihm Logierzimmer in diesem Prachtbau angewiesen worden. Aber er hatte es vorgezogen, sich für die Zeit seines Aufenthalts in so trauriger Zeit vom Probst der Marienkirche in dem neben derselben belegenen Pfaffenturm, der Wohnung der Priesterbrüder, eine gerade leer stehende Zelle öffnen zu lassen. Dorthin ging er am trockenen Graben und der Mauer entlang, die sich in gerader Linie vom Treppenturm bis zum Priesterhause fortsetzte.

Er nahm in dem gemeinsamen Speiseraum ein einfaches Mahl ein, warf dann einen kuttenartigen Mantel von grober grauer Wolle um und zog die Kapuze über den Kopf, so daß er nicht nur gegen die empfindliche kühle Witterung geschützt war, sondern auch sein Gesicht leicht verbergen konnte, wenn er nicht erkannt sein wollte. Er sagte dem Probst, daß er dem Pfarrer der Johanniskirche in der Stadt einen Besuch abzustatten habe, und verbat sich jede Begleitung.

Er machte darauf denselben Weg zurück, ging diesmal aber am Eingangstor des hohen Hauses vorüber und auf dem Parchan am Rogatflügel des Schlosses entlang bis zu der Pforte an der Westseite, die durch die starke, das Schloß mit dem großen viereckigen Turm, dem Herren-Danzk, verbindenden Mauer gelegt war, durchschritt dieselbe, von den Wachen unaufgehalten, und gelangte so auf den nach der Stadt zu gelegenen Teil des Parchans, an dem ein doppelter oder vielmehr dreifacher Graben hinlief, der nächste trocken zwischen zwei Mauern, der eigentliche Schloßgraben mit Wasser gefüllt und durch eine gewaltige Mauer der Länge nach in einen inneren und äußeren Graben getrennt. Etwa in der Mitte dieser Mauer erhob sich der viereckige Dietrichsturm. Er diente einer hölzernen Laufbrücke für Fußgänger als Stütze, die über den trockenen und die beiden nassen Gräben geleitet war und jenseits, schon auf Stadtgebiet, mit dem Johanniskirchhof Verbindung hatte. Sie ließ sich im Kriege leicht abbrechen und war auch in Friedenszeiten nicht für jedermann bestimmt. Wer sonst von der Burg in die Stadt wollte, mußte einen weiten Umweg am großen Nogat-Tor vorüber machen, die Zugbrücke passieren, die Niklas-Kapelle und den Speicher rechts, das Sattel- und Schuhhaus links lassen und durch das Schuhtor am Sperlingsturm eintreten.

Der Bischof sprach wirklich bei dem Geistlichen der Johanniskirche an, hielt sich aber nur wenige Minuten auf und begab sich weiter in die kleine rings ummauerte und durch eine Reihe von Türmen verteidigte Stadt. Sie glich selbst einer Burg. Eine breite Marktstraße, die sich gegen das Schloß richtete, durchschnitt sie in ihrer ganzen Länge. Die Häuser derselben, sämtlich mit dem Spitzgiebel gegen die Straße gestellt, zeigten im unteren Stock einen meist gewölbten, nach drei Seiten offenen Vorraum, Laube genannt. Die Lauben standen miteinander seitlich in Verbindung, so daß man unter ihnen stets trockenen Fußes und gegen die Unbill des Wetters geschützt den ganzen Markt abschreiten konnte. Vor jedem Hause befand sich die Dunggrube, der Tummelplatz der Schweine und Hühner, und ein niedriges Bauwerk, durch dessen Tür man treppab in den Keller gelangte. Der Markt war nicht in seiner ganzen Breite gepflastert, aber große platte Steine erleichterten auch bei nasser Witterung den Übergang. Die Häuser hatten sämtlich nur ein Obergeschoß mit zwei oder drei kleinen Fenstern, darüber im Spitzgiebel schmale Luken zur Erleuchtung der Bodenräume. Die ganze Stadt bis auf das Rathaus und die Kirche war Anno zehn von den Polen niedergebrannt worden und seitdem wieder aufgebaut, jetzt großenteils von Ziegeln, während bis dahin Lehmfachwerk und Holz die Regel gebildet hatte.

Bischof Franz hielt sich unter den Lauben, die jetzt zu geselligem Verkehr der Bürgerfamilien nur wenig benutzt wurden. Die Bänke, die vor keiner Haustür fehlten, zeigten sich meist unbesetzt; selten nur arbeitete ein Handwerker noch draußen, weil in seine Werkstube zu spärliches Licht fiel und die Lampe gespart werden sollte. Kinder vergnügten sich beim Greif- und Versteckspiel, für das die Pfeiler der Laubenbogen wie geschaffen waren. Der Bischof wurde nicht erkannt. In der Nähe des Rathauses saß auf der Bank eines der größeren Häuser, das ein Kaufmannszeichen im Steingesims der Tür trug, ein junges Mädchen am Spinnrocken. Es trug eine warme Mütze auf dem blonden, in lange Zöpfe geflochtenen Haar und ein kragenartiges, mit Pelz verbrämtes Mäntelchen mit Armschlitzen. Der Fuß trat eifrig das kleine Brett an der Radstange, und die zierlichen Fingerchen waren bemüht, den Flachsfaden recht fein auszuziehen, was doch in der rauhen Luft nur schwer gelingen wollte.

Hier blieb Franziskus stehen, schob die Kapuze ein wenig vom Gesicht fort und sagte: »Guten Tag, Jungfer Magdalene. So fleißig?«

Das Fräulein blickte aus den blauen Augen flüchtig und wohl auch ein wenig verdrießlich über die Störung auf, ließ dann aber sogleich das Rad stillstehen, stand auf, knickste tief und küßte dem geistlichen Herrn die dargebotene Hand. »Ihr seid es, hochwürdigster Herr Bischof«, rief sie verwundert. »Wie konnt' ich mich solcher Ehre versehen, von Ew. Gnaden angeredet zu werden?«

Der Bischof streichelte ihr mit dem Rücken der Hand die Wange. »Friert Euch nicht hier draußen?« fragte er in munterem Ton. »Wahrhaftig! Das Gesicht ist Euch ganz kalt und die Nasenspitze gerötet.«

»Das ist das wenigste«, antwortete das Mädchen lachend. »Aber die Finger sind mir ganz steif geworden und wollen nicht mehr recht gehorchen. Die Mutter wird über die unfeine Arbeit schelten.«

»Warum geht Ihr aber nicht lieber hinein?«

»Ach – ich kann den Sommer noch immer nicht vergessen, gnädiger Herr. Er war in diesem Jahr so schön, wie ich noch keinen erlebt habe. Bis tief in den September hinein hatten wir die warmen Tage, und dann kehrten sie in der Mitte des Oktober nochmals zurück. Unser Wein ist reif geworden und so süß –! Jetzt freilich wird man wohl an den Herbst glauben müssen.«

»Ist der Vater zu Hause?« fragte der Bischof.

»Er müßte denn hinten hinaus fortgegangen sein«, antwortete das Fräulein, »wie manchmal geschieht, wenn er vom Ratsdiener nicht gesehen sein will. Ich gehe sogleich und berichte Ew. Gnaden.«

»Nehmt mich lieber gleich mit«, entschied der Bischof. »Ist er dem Ratsdiener entwischt, so soll es ihm mit mir nicht so gut gelingen; ich warte, bis er zurückkehrt, und sollt's auch bis zum Abend dauern.«

Magdalene hob den Spinnrocken auf, öffnete die Tür und ließ den Gast in den die ganze Breite des Hauses einnehmenden, mit Ziegeln ausgelegten Flur ein. Die beiden Fenster unter der Laube ließen an diesem trüben Nachmittag nur gerade so viel Licht ein, daß man sich in dem ziemlich tiefen Raum zurechtfinden konnte. Rechts in der hinteren Ecke wand sich eine Treppe auf. Darunter befand sich der Durchgang nach dem Hof, links führte eine Tür in das Hinterzimmer. Dort klopfte das junge Fräulein an, zugleich den Kopf wendend und das Ohr der Füllung nähernd. »Der Vater ist in seiner Arbeitsstube«, wisperte sie. »Ich bitte Ew. Gnaden, sich hinauf zu bemühen. Er folgt sofort nach.«

»Aber kann ich nicht hier bei ihm eintreten?« fragte der geistliche Herr.

Das Mädchen wehrte mit der Hand ab. »Er ist gewiß in seinem Arbeitsrock und möchte es verdrießlich finden, einen solchen Gast so zu empfangen. Nein, wir wissen, was sich schickt.« Der Bischof fügte sich lächelnd und schritt langsam treppauf. Er hatte den oberen, nur kleinen und fast dunkeln Flur kaum erreicht, als Magdalene schon nachgelaufen kam und eiligst die Tür nach dem Vorderzimmer aufriß, gleich darauf auch in die Hinterstube hineinrief: »Frau Mutter, der Herr Bischof Franziskus von Ermland...«

Der Gast trat ein. Er war hier nicht zum erstenmal und kannte die Schränke und Truhen von Eichenholz mit ihren weit ausladenden Gesimsen und eingelegten Figuren, die Regale mit Zinntellern und Krügen an den getäfelten Wänden, den großen Tisch mit blau und weiß gemusterter Leinendecke in der Mitte und die Holzstühle mit hohen geschnitzten Rückenlehnen und aufgelegten Polstern. Schon manchmal hatte er hier zur Zeit der Tagfahrten und auch sonst mit Ordensgebietigern und Ratsherren der großen Städte gesessen, um des Landes Wohl zu beraten.

Denn der Bürgermeister von Marienburg, Herr Bartholomäus Blume, genoß viel Vertrauen, ebenso von seiten der Herrschaft als des Landes, und der Rat der Stadt kürte ihn in jedem Jahr von neuem zum Oberhaupt. In seinem Haufe befand sich der Bischof.

Nach wenigen Minuten erschien die Frau Bürgermeisterin, eine würdige Matrone, die Haube von dunklem Samt über dem die Stirn tief beschattenden weißen Kopftuch, die Schlüsseltasche am Gürtel, der zugleich das seitwärts aufgeraffte Kleid hielt. Auch sie begrüßte den Prälaten mit einem Handkuß, nötigte ihn, auf einem Lehnsessel Platz zu nehmen, und bot eine Erfrischung an. »Ich weiß schon«, sagte er schmunzelnd, »daß Ihr keinen Gast ohne einen Trunk entlassen möget, werte Frau. Stellt mir denn einen Krug einheimischen Bieres auf – ich verschmähe so gute Gabe nicht.«

Nun trat auch der Bürgermeister ein. Er war ein schlanker, hochgewachsener Mann, nicht viel über fünfzig Jahre alt. Das bartlose Gesicht zeigte um den breiten, aber nicht unschönen Mund tiefe Falten. Das dichte, dunkelbraune Haar war entlang der knochigen Stirn geradlinig abgeschnitten, fiel aber sonst rund um den Kopf wellig auf das Tuchwams hinab, das am Halse dicht schloß. Aus den blauen Augen blickte ebensoviel Klugheit als Treuherzigkeit. Er hatte die Fingerspitzen der linken Hand in den breiten Ledergürtel gesteckt und reichte die rechte dem Bischof, indem er das Haupt ein wenig neigte und in dieser Haltung eine kurze Weile verblieb. »Ich heiße Ew. Gnaden in meinem Hause willkommen«, sagte er verbindlich, aber nicht demütig. »Ihr bringt hoffentlich vom Schloß keine betrübliche Nachricht.«

»Der Herr Hochmeister lebt noch«, antwortete Franziskus, »aber ich habe ihn sehr krank gefunden, und seine Ärzte geben kaum noch Hoffnung. Doch – sein Leben steht in Gottes Hand.«

»Wir sind sehr in Sorgen um unsern gnädigen Herrn«, versicherte Bartholomäus Blume mit betrübter Miene, »nicht nur wir in dieser Stadt, sondern alle guten Bürger im Ordenslande. Auf ihm vornehmlich beruht unsere Hoffnung des Friedens und freundlichen Einvernehmens. Lebte er noch zehn Jahre, so könnten nicht alle Wunden vernarbt sein. Aber ich fürchte, sie werden wieder aufgerissen werden und noch schmerzlicher bluten, wenn er nicht mehr seine gesegnete Hand darauf hält.«

Der Bischof deutete an, daß er mit dem Bürgermeister etwas zu verhandeln habe. Die Frauen zogen sich nun zurück, nachdem Frau Christine zwei Zinnkrüge voll schäumenden Bieres auf den Tisch gestellt hatte.

Jetzt erfuhr Herr Bartholomäus Blume genau, wie des Hochmeisters Krankheit beschaffen und was der Bischof zu ihrer Heilung geplant hatte. »Ihr werdet einsehen, lieber Getreuer«, schloß dieser, »daß die Sache vorerst geheimgehalten, überhaupt aber geschickt angefaßt sein will. Denn es ist eine ganz ungewöhnliche Maßregel, die ich im Sinn habe; und wenn auch mein volles Vertrauen darauf steht, so könnt' ich mich doch nicht wundern, wenn die geschworenen Ratgeber des Fürsten durch sie beunruhigt würden. Es kommt aber dazu, daß ich nicht einmal mit einiger Sicherheit voraussehen kann, ob es uns gelingt, Frau Regina zu dieser Reise zu vermögen. Wiese sie uns ab, so wäre viel Gerede unnütz gewesen. Darum machte ich mich am liebsten selbst auf den Weg nach Heilsberg. Das kann aber nicht im stillen geschehen. Auch kann ich mich an keinen Ritter- oder Priesterbruder im Schloß wenden, da sie nicht ohne Urlaub ihrer Oberen weggehen dürfen. So suche ich mir denn einen treuen Anhänger des Meisters in der Stadt und finde da niemand, dem ich mich lieber anvertraute als Euch. Wollet mir daher mit klugem Rat beistehen, wie ich am besten diese Sendung ausrichte.«

Der Bürgermeister hatte ihn aufmerksam angehört und schaute nun nachdenklich auf den Tisch, »Ich wollte mich gern selbst zu dieser Reise erbieten«, antwortete er, »wenn ich meinem kranken gnädigen Herrn damit einen Dienst erweisen könnte, wie ich nach Ew. Gnaden Vorstellen wohl annehmen muß –«

»Daß ich ganz aufrichtig bin, darauf hab' ich gerechnet«, unterbrach der Bischof, indem er vertraulich die Hand auf seinen Arm legte.

»Dennoch wird es nicht so sein können«, fuhr Blume fort, das Haar über der Stirn ausstreichend. »Ich darf vor dem Rat keine Heimlichkeiten haben und kann nicht aus der Stadt Toren, ohne daß meine Entfernung bemerkt wird. Auch bin ich überall bekannt im Lande, und wer mich ins Ermland reiten sieht, wird sogleich verwundert fragen, welches Geschäft ich dort habe. Müßte ich dann schweigen, so würde der Argwohn gegen mich rege werden, daß ich etwas Unrechtes im Schilde führe. Denn man weiß, hochwürdiger Herr, daß Ihr den Bund schlecht leiden möget, den doch auch diese Stadt Marienburg damals besiegelt hat; und mich hinwiederum kennt man als einen Freund des Ordens. Da würde man sich's bald so reimen, daß ich mit Euch oder Eurem Kapitel gegen den Bund konspirieren wolle. Verzeiht, wenn ich dies so gerade heraussage; es ist aber meine Schuldigkeit, darauf zu achten, daß ich den Herrn Meister nicht schädige, indem ich der Meinigen gutes Vertrauen zu meiner Ehrlichkeit und Unparteilichkeit störe.«

Der Prälat trank einen kräftigen Schluck aus der Kanne, schloß bedächtig den Deckel und setzte sie wieder langsam vor sich hin. »Ihr habt recht, Bartholomäus«, bemerkte er dann, sich mit dem Finger die Lippe wischend. »Es ist Torheit, sich vor der Zeit zu verbrauchen. Wisset Ihr aber einen andern, dem ich einen Brief sicher in die Hand geben kann, so nennt ihn mir, und ich will Euch dankbar sein.«

Der Bürgermeister überlegte. »Ew. Gnaden kennen meinen Sohn Marcus«, sagte er dann. »Er ist freilich noch sehr jung – vor wenigen Monden dreiundzwanzig geworden –, aber ein ruhiger und bedachter Mensch, über seine Jahre reif und auch schon in mancherlei Geschäft erfahren. Keinen Zuverlässigeren könnt' ich Euch nennen. Wenn er Euch sonst also genehm wäre...«

»Sehr genehm ist mir Marcus«, rief der Bischof freudig überrascht. »Was ihm an Gewicht der Jahre abgeht, ersetzt er reichlich durch Jugendmut – und der gilt bei Frauen mehr. An eine Frau aber hat er seine Botschaft auszurichten. Widersteht Frau Regina seiner Bitte, so möchte wohl wenig Aussicht sein, daß ein anderer ihren Eigensinn bräche.«

»Ich vertraue Ew. Gnaden Wort«, sagte Blume, »daß er durch den Verkehr mit der Waldfrau an seiner Seele keinen Schaden nimmt. Ich wollte das als sein Vater nicht zu verantworten haben.«

Der Bischof schlug das Kreuz über Stirn und Brust. »Dafür steh ich als ein Priester der heiligen Kirche«, bestätigte er. »Rüstet ihn noch heute zur Reise aus und mahnet ihn zur Eile. Ich will ihm auch einen Brief an meinen Schloßverwalter in Heilsberg mitgeben, daß er ihn gut aufnehme, unterstütze und mit Pferden für die Rückreise versehe. Sie können in meiner Stadt Wormditt und allenfalls auch in Preußisch-Holland, wo ich in des Pfarrers Stall für mich selbst einigen Vorspann gelassen habe, gewechselt werden. Erlaubt, daß ich die Briefe gleich jetzt an Eurem Tisch schreibe.«

Der Bürgermeister führte ihn in seine Geschäftsstube unten, legte ihm Papier und Feder zurecht und begab sich durch die Hintertür auf den Hof, wo er Marcus im Speicher beschäftigt wußte. Er kaufte von den Bauern im Werder Getreide auf, um es nach Elbing oder Danzig zu verschiffen, war auch des Ordensgroßschäffers rechte Hand in dessen kaufmännischen Betrieben. Marcus war über die Speicherleute gesetzt und hielt beim Ab- und Zumessen gute Ordnung. Eben wurden nach der Hinterstraße zu mit der Winde Säcke auf einen Wagen herabgelassen, der sie zur Nogat fahren sollte, wo ein Kahn zu beladen war. Er schrieb ihre Zahl mit Kreide auf einer schwarz gestrichenen Holztafel an. Nun übergab er das Geschäft dem Kämmerer und folgte seinem Vater auf dessen Wink in den unteren Raum, in dem sich eine kleine Schreibstube befand. Dort empfing er den Befehl, sich sogleich reisefertig zu machen und aus der Mutter Speisekammer mit Wegekost zu versehen. Marcus war gewohnt, ohne viel Fragen zu gehorchen. So erfuhr er denn auch jetzt fürs erste nicht mehr, als daß er in des Herrn Bischof Franziskus Auftrag nach Heilsberg reiten solle, und war damit wohl zufrieden.

Als Blume in sein Stübchen zurückkehrte, schrieb der Bischof noch eifrig. »Ich will Marcus den Brief an die Waldfrau offen mitgeben«, sagte er, »damit er um so besser sieht, um was es sich handelt.«

»Kann sie denn lesen?« fragte der Bürgermeister.

»Oh, sie soll sehr gelehrt sein«, antwortete der Bischof. »Sicher hat sie in ihrer Jugend eine gute Schule besucht. Man weiß aber nicht, woher sie eigentlich stammt. Sie macht ein Geheimnis daraus. Von meinem Kaplan in der Waldkirche aber weiß ich, daß sie regelmäßig zur Beichte geht, und so halte ich sie für eine gute Christin, ohne ihrer Vergangenheit nachzuspüren.«

Nachdem er das Blatt mit seinen steilen Buchstaben vollgeschrieben, seinen Namen darunter gesetzt und mit seinem Ring ein Siegel beigedrückt hatte, stand er auf und faßte des Bürgermeisters Hand. »Noch ein anderes habe ich mir von Euch zu erbitten«, sagte er, »das ebenso den Herrn Hochmeister angeht. Ihr erwähntet vorhin, daß die Stadt Marienburg im Bunde sei. Wie ich Euch aber kenne, wünschtet Ihr mehr, dem wäre nicht so.«

Blume erschrak sichtlich. »Gnädiger Herr«, fiel er ein. »das möcht' ich von Euch nicht hören. Der Bund ist vor zehn Jahren unter Herrn Paul von Rußdorf sehr merklicher Ursachen wegen errichtet, und ich habe damals im Rat selbst zugestimmt, daß auch die Stadt Marienburg ihr Siegel an den Brief hänge. Seitdem sind freilich durch unseren jetzigen Herrn Hochmeister viele Beschwerden abgestellt worden, und ich wünschte wohl, daß der Bund ganz unnötig würde, weil das Land dauernden guten Regiments verständigt wäre. Ehe wir aber dessen gesamt versichert sind und seine Auflösung beschließen, wär' ich der letzte, zu raten, daß die Stadt sich von ihm trenne, solange er nichts Unrechtes gegen den Herrn Hochmeister und seinen Orden vornimmt. Darum wollet zu mir unter vier Augen nicht sprechen, hochwürdigster Herr, was nicht auch der ganze Rat vernehmen könnte.«

Franziskus rieb seine spitze Nase mit dem Sacktüchlein. »Das sei ferne von mir«, versicherte er. »Wenig könnt' uns damit gedient sein, wenn Ihr als ein einzelner Euch vom Bunde lossagtet, zumal wir von Eurer Treue hoffen dürfen, daß Ihr dort jeden Beschluß zu der Herrschaft Schaden mit allen Kräften hindern werdet. Es könnte auch nichts nützen, wenn die eine und andere kleine Stadt abfiele, da doch die großen Städte Thorn, Danzig und Elbing um so argwöhnischer mit Rittern und Knechten, besonders den Eidechsen, gegen den Orden zusammenhalten würden. Gerade darum ist es dem Herrn Hochmeister zu tun, daß der Bund selbst erkennt, wie jene Ursachen, aus denen er entstanden, nicht mehr gelten und auch ohne ihn jeder unangefochten bei seinem Recht und seiner Freiheit bleibt. Der Herr Hochmeister hat nichts Gewaltsames gegen ihn unternommen und will's auch ferner nicht tun. Ist ihm aber das Land Dank schuldig, so kann es den nicht besser betätigen, als wenn es in jener richtigen Erkenntnis zu vollem Gehorsam zurückkehrt und freiwillig das anstößige Verbündnis aufgibt. Das kann jetzt geschehen ohne alle Demütigung, in kurzem aber vielleicht nicht mehr. Darum möchte der Herr Hochmeister, solange Gott ihm noch Kraft gibt, mit den Führern des Bundes beraten, wie man zu einem guten Einvernehmen käme und das Land völlig beruhigte. Vor allem mit Herrn Tileman vom Wege, dessen Stimme die gewichtigste ist! Ich habe dem Herrn Hochmeister versprochen, ihn an sein Krankenbett zu berufen, gebe aber nicht gern dorthin etwas Schriftliches aus. Euch aber wäre es ganz unverfänglich, wenn Ihr ihm berichten wolltet, daß ich bei Euch gewesen und dieser Sachen wegen mit Euch geredet. Hoffe auch, daß Ihr es vor Eurem Gewissen sehr wohl verantworten könnt, auch in eigenem Namen zu mahnen, sich willig auf den Weg zu machen und dem Herrn Hochmeister ein freundliches Gehör zu schenken.«

»Dagegen weiß ich nichts einzuwenden«, antwortete Bartholomäus Blume, dessen strenges Gesicht sich wieder erheitert hatte, »und also soll's geschehen. Verlaßt Euch auf mich in allen rechten und aufrichtigen Dingen. Wie ernstlich es dem Herrn Hochmeister am Frieden liegt, erkenne ich daraus, daß er denselben mit Tileman vom Wege beraten will. Denn von ihm hat er wenig Freundliches erfahren und möchte ihn wohl eher für den schärfsten Widersacher des Ordens halten. Bewegt er freilich diesen Mann zur Nachgiebigkeit, so zweifle ich nicht an des guten Werkes Gelingen.«

Der Bischof verabschiedete sich befriedigt, hüllte sich wieder in seinen Mantel ein und ging auf demselben Wege, den er gekommen, nach dem Schlosse zurück. Blume aber berief seinen Sohn und gab ihm noch mündliche Weisung. Dann setzte er sich an den Tisch und schrieb noch spät beim Lampenschein an seinen Freund, den Thorner Bürgermeister, eine lange und umständliche Epistel.

Wahrend er noch damit beschäftigt war, befand sich Marcus Blume auf dem Wege durch das Werder. Er kam nur langsam vorwärts, da sein Pferd in den fetten, vom Herbstregen durchweichten Boden tief einsank und fest im Zügel gehalten werden mußte, um vor dem Ausgleiten bewahrt zu bleiben. Es dämmerte schon stark, als er aus dem Tor der Stadt geritten war, aber meilenweit lag das vor zweihundert Jahren eingedämmte Tiefland platt da, und die Straße war auch im Dunkeln nicht leicht zu verfehlen, da sie auf beiden Seiten Gräben einfaßten, in denen jetzt das Wasser hoch bis zum Rande stand. Doch gelangte er so spät nach Elbing, daß er die Tore schon geschlossen fand und draußen im Kruge auf Stroh übernachten mußte. Früh war er wieder auf und setzte seinen Weg auf Preußisch-Holland fort, dessen auf dem Berge gelegenes Ordenshaus weithin sichtbar war. Dort speiste er zu Mittag und ritt dann noch zu guter Zeit in das ermländische Städtchen Wormditt ein, wo ihm des Bischofs Zettel in dessen festem Hause ein gutes Nachtquartier verschaffte. Lange vor Sonnenaufgang schon trabte er weiter und erreichte Heilsberg noch vor Mittag. Das bischöfliche Schloß lag dicht bei der Stadt, wie eine Ordensburg gebaut und befestigt. Vier Türme flankierten die hohen, mit glasierten Ziegeln quadratisch gemusterten Mauern, der eine als Bergfried besonders hoch und stark. Es mußte von seiner Spitze im Sommer eine entzückende Aussicht über das liebliche Tal hin sein, in dem die Stadt lag. Auch hier in Preußen hatte sich der Bischof das anmutigste Stück Erde zu seiner Residenz ausgesucht.

Marcus fand die Zugbrücke niedergelassen, das Tor unbesetzt. Niemand schien zu fürchten, daß der Friede gestört werden könne. Die Leute des Bischofs arbeiteten in den Speichern und Ställen der Vorburg, von der aus die zum Schloß gehörigen Ländereien bewirtschaftet wurden. Marcus fand nach einigem Suchen den Hausmeister, gab ihm den Meldezettel des Bischofs ab und trug sein Begehr vor. Nun wurde er sofort über die innere Brücke ins Schloß geführt, das er jetzt zum erstenmal sah. Es war viel kleiner als das hohe Haus der Marienburg, aber ähnlich gebaut, indem auch hier den viereckigen Hof ein zierlicher Kreuzgang in zwei Stockwerken umlief, von dem aus man durch Türen mit kunstvoller Steineinfassung die verschiedenen Gemächer betrat. Einige davon, im oberen Stock, waren für Gäste eingerichtet. Dorthin wurde Marcus geführt. Der Vogt bat, mit ihm speisen zu dürfen; sie könnten dann die Angelegenheiten gemächlich bei einer Kanne Wein oder Bier besprechen. Das Mahl, das sehr bald aufgetragen wurde, bewies, daß man in der bischöflichen Residenz zu leben verstand.

»Es fehlen hier nur die Weibsen«, meinte der Vogt, da Marcus Küche und Keller lobte, fügte aber lächelnd hinzu: »Strenge wie in einem Kloster geht's hier doch nicht gerade zu. Die geistlichen Herren halten Hof wie die weltlichen, und Alter schützt vor Torheit nicht. Seine Gnaden, Herr Franziskus, liebt es freilich mehr, sich mit allerhand politischen Händeln zu befassen, im Reich bei den geistlichen Fürsten herumzureisen und dem Heiligen Vater und seinen Kardinalen in Rom aufzuwarten, als hier vergnüglich seine Pfründe zu verzehren. Er regiert aber schon fünfundzwanzig Jahre und war einmal jünger als jetzt. Nun – ich will nicht aus der Schule schwatzen.«

Marcus suchte sich über die Waldfrau zu informieren, die er aufzusuchen hätte. »Ich werde Euch einen Diener mitgeben«, sagte der Hausmeister, »der Stege und Wege kennt. Der Herr Bischof ist sehr nachsichtig gegen sie, und es ist wahr, sie tut den armen Leuten viel Gutes, geht auch wie ein richtiger Christenmensch in die Kirche. Aber für eine Hexe halte ich sie doch, Gott mag mir verzeihen. Denn wie wüßte sie sonst so viele heimliche Dinge? Mancher ist schon krumm und lahm an allen Gliedern zu ihr gegangen und nach einigen Wochen gesund wie ein Fisch zurückgekehrt, nachdem er in dem Wasser aus ihrem Brunnen gebadet, in das sie ihre Kräuter geworfen. Ihre Tränkchen helfen Kindern und Erwachsenen. Ich hab' gelernt, Wunder werden mit Gottes oder des Teufels Hilfe verrichtet. Nun hat aber Gott viel weniger nötig, sich durch Wunder zu beweisen, als der Teufel, und deshalb bin ich mißtrauisch, bis die Kirche ihr letztes Wort gesprochen hat. Man weiß auch nicht, wo das Weib eigentlich hergekommen ist und was es mit dem Kinde für eine Bewandtnis hat.«

»Mit dem Kinde?« wiederholte Marcus fragend.

»Ja, die Hexe – Gott verzeih' mir, wenn ich ihr Unrecht tue – hat eine Tochter oder gibt wenigstens ein Mädchen, das sie bei sich hat, für ihre Tochter aus. Das ist ein Ding wie ein Irrwisch, mit Augen – so groß –! und rotblonden Haaren, die wie ein Feuerschein um den Kopf flattern. Das Kind ist im Walde wild aufgewachsen, klettert auf den Bäumen herum wie ein Eichkätzchen, holt das Reh im Lauf ein und hat allerhand Getier, Zwei- und Vierfüßler zahm gemacht. So war's wenigstens vor ein paar Jahren, als ich die Ursel zuletzt sah. Ich hatte mich da bei einem Ritt durch den Wald verirrt und fluchte so laut vor mich hin, als ich in der Nähe ein helles Lachen vernahm, daß ich erschreckt zusammenfuhr. Wie ich zur Seite schaute, huschte etwas um den Baum; hinter demselben aber sprang ein junger Wolf vor und wollte meinem Gaul an die Beine. Da rief eine Stimme: ›Zurück, Pluto!‹ Und das Tier gehorchte sogleich. Nun fragt' ich ins Gebüsch hinein nach dem Weg, und da kam das rothaarige Mädchen zum Vorschein, hatte einen Korb am Arm und darin allerhand Waldblumen, Kräuter und Wurzeln, lachte wieder wie ein Kobold, daß ich mich verirrt hätte, und sagte: ›Reitet mir nach, ich will Euch wieder auf den Weg bringen.‹ Das war die Ursel von der Waldfrau, damals nach meiner Schätzung nicht älter als vierzehn oder fünfzehn Jahre. Sie lief vor mir her und der zahme Wolf hinter ihr drein. In kurzem setzte sich ihr ein Rabe auf die Schulter, flog wieder auf und kehrte zu ihr zurück. Sie sprach mit ihm, und es war, als ob er ihr etwas ins Ohr sagte. Nach einer Viertelstunde gelangten wir zur Waldhütte. Die Frau stand vor der Tür und bot mir eine Erfrischung an, da sie hörte, wer ich wäre und daß ich mich verirrt hätte. Aber ich schlug heimlich das Kreuz und gab große Eile vor. Man muß bei solchem Volk auf der Hut sein.«

Marcus lachte ihn aus, aber die Beschreibung des wunderlichen Kindes hatte doch einen ganz eigenen Eindruck auf ihn gemacht. Er wollte von Ursula immer noch mehr erfahren. Endlich sagte der Hausvogt: »Ihr werdet ja sehen und braucht zum Glück Euer Herz nicht festzuhalten; denn vor so etwas hat man eher Scheu, mit so viel augenblendendem Reiz es auch ausgestattet sein mag.« Er ging dann, während der Gast noch aß, hinaus, in der Vorburg seine Anordnungen zu treffen, damit Marcus ohne Zeitverlust abreiten könne. Als er wiederkam, meinte er: »Es scheint mir doch erforderlich, daß ich selbst Euch begleite. Denn es könnte sein, daß die Hexe Haken schlägt und Euch nicht gutwillig folgt. Dann muß jemand zur Stelle sein, der an des Herrn Bischofs Statt befiehlt. Habe deshalb auch für mich ein Pferd satteln lassen und hoffe, daß Euch meine Gesellschaft nicht zuwider ist.«

Marcus dankte ihm für den guten Entschluß. Eine halbe Stunde darauf ritten sie aus dem Burgtor.


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